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8. Kupfermühle
ОглавлениеZum Mädchengymnasium hat er nur gut hundert Meter zu laufen. Ganz oben ist der Gymnastikraum. Man muss erst die mächtige, steinerne Treppe hoch, mit dem abgerutschten Holzgeländer. Jetzt, wo ich die sehe, kommt mir doch die Idee, mich noch mal draufzusetzen, ein halbes Stockwerk runterzurutschen, so wie früher. Aber natürlich ist mir sofort klar, dass das jetzt nicht mehr geht. Außerdem will ich den Jungen sehen, also hoch, nicht runter. Nun muss man durch die breitflügelige Mahagonitür. Moment mal, das ist ganz schön schwer mit dem hydraulischen Türschließer. Ja, hier ist es. Jede Menge Tischtennisplatten.
Hinten in der Raummitte, in der letzten Reihe, da sehe ich ihn. Eine braune, samtartige, kurze Hose hat er an. Sehr kurz, zu kurz scheint mir. Das fällt heute richtig auf: Der größte Teil seiner Oberschenkel ist nackt. Und eng ist sie! Und neu. Leider zu klein gekauft. Aber eine größere dieser Art hatte das Kaufhaus nicht. Und ein anderes Modell konnte seine Mutter nicht aussuchen. Sie hatte in einer Art von Notwehr ihren obersparsamen Mann überlistet, um notwendige Kleidung für ihre Kinder zu besorgen. Die DEBEKA, das deutsche Beamtenkaufhaus, bot einen Kredit in Höhe von fünf Monatsraten an. Da hat sie zugeschlagen, ohne ihn zu fragen. Damit waren Fakten geschaffen. Er musste eine Rate jeden Monat überweisen und sie hatte einmalig für einen Einkauf in Höhe des Fünffachen und für jeden Monat der Rückzahlung wieder den einfachen Betrag zur Verfügung. Deshalb die zu knappe Hose. Er findet sie gut und das ist schließlich die Hauptsache.
Er ist auch gut anzusehen, dort an der Platte, in seinen jungenhaft geschmeidigen Bewegungen. Die Dame, die mit ihm trainiert, mag ihn auch. Das merkt man. Nicht nur, dass er hübsch anzusehen ist. Sie freut sich besonders über seinen bedingungslosen Eifer. So, als wäre das Tischtennisspielen das Wichtigste von der Welt. Er springt von einer Seite der Platte zur anderen, starrt jeden Ball mit weit aufgerissenen Augen an, als wollte er ihn aufsaugen, und nimmt jedes Wort auf, das die Trainerin sagt. Sie ist schon etwas älter, aber sie weiß offensichtlich genau, was nötig ist.
„Ziehen, Hans, ziehen!“
Immer wieder spielt sie ihm den Ball auf seine Vorhand. Hans übt schmettern.
„Ziehen, Hans, ziehen.“
Wenn das man so einfach wäre! Schließlich muss man dabei auch noch den Ball treffen. Und wenn er die Platte verfehlt, rennt Hans los, um ihn zu holen. So schnell wie möglich muss die weiße Kugel wieder auf die Platte, ins Spiel. Nur keine Pause! Seine Welt hat die Größe einer Tischtennisplatte!
Nicht zu vergleichen mit früher, beim Fußball. Das große, schlackebedeckte Sportfeld des Gymnasiums war auch schnell zu erreichen. Nur sein Verein hatte keine Fußballabteilung. Dafür aber Handball. Seiner Mutter war das auch viel lieber. Ihr war der Fußballsport für den geliebten Jungen zu rau. Handball ja, das durfte er.
Die schwarze, kurze Turnhose und das Sporthemd mit kurzen Ärmeln, auch schwarz, aber mit rot abgesetzten Rändern und dem ovalen Vereinsemblem auf der Brust, war das Erste, was er brauchte. Mehr zufällig, der Nähe der Sportstätten geschuldet, war Hans also Mitglied des zweitältesten Sportverein Hamburgs geworden. Und das war eine glückliche Fügung. Alles, was ihm für sein weiteres Leben wichtig schien, baute darauf auf.
Jetzt sieht man, wie er gleich nach der Schule durch die Straßen rennt. Natürlich läuft er wieder. Nicht weil er die Schularbeiten verdrängt hat. Man sieht es ihm an: Sein Bewegungsablauf kennt nur laufen. Jetzt geht er in das Haus dort, den ziegelroten, wiederaufgebauten Wohnblock an der Friedhofstraße, zwei Stockwerke hoch, klingelt und gibt einen kleinen, selbst ausgefüllten Zettel ab.
„Ingo darf doch kommen?“, fragt er.
Die Frau sieht kurz auf den Zettel und bewegt leicht zweifelnd den Kopf.
„Er muss kommen! Sonst sind wir nicht voll!“
„Na gut“, sagt sie und schließt die Tür.
Hans springt die Treppen runter. Dann rennt er erleichtert weiter zur Wandsbeker Chaussee. Auf der anderen Seite beginnt der Neue Weg. Es geht etwas bergab, Richtung Eilbeker Krankenhaus. Aber schon vor dem Eilbektal verschwindet er wieder in einem Wohnblock. Das ist auch gut so, weil mein Bild wechselt. Es wird wässrig, tritt höflich zurück und ein anderes drängelt sich vor. Nicht, dass ich das wollte, nein, meine Augen wollen dahin, zum Eilbektal, genau dorthin, wo die Backsteinkirche steht.
Da kommt ein ganz kleiner Junge aus dem Eingang eines vornehmen Altbaus mit gekacheltem Eingang und Marmorgehplatten. Er geht an dem schmiedeeisernen Zaun des Minivorgartens entlang, bleibt an der Straße stehen und schaut auf die andere Seite zum kieselbelegten Vorplatz der Kirche. Er sieht ihn als riesig an. Und die Kirche reicht für ihn bis in den Himmel. Es gibt keine Autos auf der Straße. Der kleine Junge überquert sie, macht die Pforte zur Kirche auf und ist in seiner Welt. Die vielen kleinen Kieselsteine sind seine Spielkameraden. Da hockt er auf dem sandigen Platz, sammelt, verteilt, ordnet und die Sonne und der kirchliche Frieden lassen ihn in seiner Fantasie. Ich weiß, am nächsten Tag konnte er das Tor nicht mehr öffnen, in die Welt des Hausherren passten keine kleinen Steinesammler, nur große, die das Haus Gottes größer und mächtiger werden lassen.
Eigenartig. Mir fällt auf, dass weit und breit keine Ruinen zu sehen sind! Das muss eine andere Zeit sein! Es ist ärgerlich. Warum blenden die Bilder so unordentlich ein? Das kann mein Laptop besser. Nein, auch das Weihnachtsfest dort in dem vornehmen Altbau gehört viel weiter an den Anfang. Die reichliche Bescherung war schon. Das Kleinkind hockt auf dem vornehmen Teppich. Der Hausherr, Anfang dreißig, gut genährt, gute Zigarre, sitzt wohlig im Ledersessel und schaut ihm zu. Eine Spielzeuglokomotive und ein Handwerkskasten liegen auf dem Fußboden. Es ist also ein Junge, der seine Weihnachtsgeschenke ausprobiert. Was man mit dem Hammer macht, hat er schon gesehen. Und das probiert er jetzt an seiner Lokomotive aus. Als die Hausfrau in die Tür tritt, strahlt er sie an.
„Mama.“
Und nun zeigt er ihr, was er gelernt hat. Nimmt den Hammer in die kleine Faust und testet die Standfestigkeit der Blechlokomotive mit zunehmender Intensität. Immer feste druff!
„Aber Hans, nicht doch!“, ruft die Mutter und der Vater sitzt im Sessel und amüsiert sich köstlich über die Tatkraft seines Sohnes.
Schluss jetzt! Ich muss zurück, oder besser gesagt vorwärts, da kommt Hans wieder aus dem Haus in der Neuen Straße. Wieder ist er eine Spieleinladung losgeworden, hat einen Zettel weniger und eine Zusage mehr. Das war das Wichtigste. Er war Mannschaftsführer! Wie alt mag er da sein? Elf oder zwölf, denke ich.
Er hat die Schule gewechselt. Besucht die Mittelschule in Hamm. Auch dort gibt es eine Schulmannschaft, in der er spielt. Aber nur unter ferner liefen. Er hat keinen guten Schuss. Genau ja, sichere Ballbehandlung ja, aber eben keinen Bums! Dafür gab es andere. Peter Sigl zum Beispiel, den Kraftprotz, einen Kopf größer als Hans. Der spielte im Nachbarverein, HT 16, in der ersten Jugend. Die glaubten immer, was Besseres zu sein, weil sie noch älter waren, von 1816, und damit die Ältesten in Hamburg. Die waren so vornehm, dass sie sich gleich nach dem Krieg eine eigene Sporthalle bauen konnten, in der Zeit, als in der Gegend noch viel Gelände in Trümmern lag. Hans trainierte im Winter in der zu kleinen Schulturnhalle am Burgweg oder so ähnlich, irgendwas mit Burg, die ihnen die Behörde stundenweise lieh.
Stopp! Das Bild ist viele Jahre später. Ja, das ist immer noch die gleiche Halle an der, ach ja, Burgstraße heißt die. Aber da ist Hans schon ein junger Mann, ist Trainer der ersten Herren! Zurück! Zurück! Die Zeit davor kann man doch nicht einfach überspringen. Da ist doch noch so viel passiert!
Ja, das Bild passt schon besser. Da, in dem Schwimmbad Kupfermühle, ist er auch schon größer. Sein Haar ist bereits etwas dunkler, fast hellbraun. Aber er tobt noch mit anderen am Beckenrand rum. Er kennt die Jungs gar nicht genau, nur vom Sehen. Sie rennen rum und schubsen sich. Wenn das man gut geht. Einer fliegt rein, noch einer. Dann schubst Hans noch einen rein und fliegt gleich hinterher. Im Wasser geht es weiter. Unterdükern. Hans mischt kräftig mit. Ihn kriegen sie nicht zu fassen. Als sie zu dritt auf ihn losgehen, flitzt er schnell aus dem Becken. Aber die anderen laufen ihm nach. Hans rennt von den Becken weg, um die Tischtennisplatten rum, dann um das Bademeisterhaus, doch sie verfolgen ihn weiter. In der äußersten Ecke, am Zaun, kommen sie von beiden Seiten und ihm bleibt nur die Richtung über die Liegewiese, quer durch die Handtuchlager, immer im Zickzack. An der Hecke ist er schließlich in einer Sackgasse. Mit einer Körpertäuschung versucht er zu entwischen, aber ein schnell ausgefahrenes Bein lässt ihn stolpern und schon werfen sich die drei Verfolger auf ihn.
Hans liegt auf dem Bauch und windet sich. Aber da setzen sich zwei einfach auf seinen Rücken. Der Dritte kniet über den Kniekehlen, die Beine des Gefangenen dazwischen. Hans versucht in den Liegestütz zu kommen, aber die zwei auf seinem Rücken sind zu schwer. Er zieht die Knie an, um den Unterkörper anzuheben. Da holt der Dritte aus und knallt ihm die flache Hand auf das gespannte Gesäß. Ruckartig streckt Hans seine Beine aus und sein Peiniger hockt sich wieder auf seine Kniekehlen. Er macht es sich gemütlich, holt aus und peng landet die Hand wieder auf der gleichen Stelle. Auch die beiden auf seinem Rücken finden Gefallen an dem Geräusch. Schließlich soll auch die andere Seite nicht zu kurz kommen. Also wechseln sie sich ab.
Den ersten Schlag findet Hans nicht so schlimm. Auch den ersten auf der anderen Seite nicht. Er nimmt das Gefühl auf seiner Haut eher interessiert wahr. Sein Gesicht hat noch den Ausdruck von wütendem Grinsen. Auch beim zweiten Schlag ist er noch stark. Er erwartet ihn auf der anderen Seite mit mutiger Genugtuung. Aber dann fängt es langsam an ungemütlich zu werden. Je öfter eine Hand laut klatschend auf seinem Hintern landet, umso stärker wird das Brennen. Hans hat nur noch wenig Bewegungsfreiheit. Er rudert mit den Armen und seine Füße wedeln in der Luft.
„Ah! Hört auf! Ah!“
„Na gut“, sagt der unten Hockende und macht eine Pause. Er ist der Größte von ihnen. Seine Hand streicht über die Backe, für die er sich zuständig fühlt. Er scheint Gefallen daran zu haben und lässt seine Hand über die Rundung wandern. Sein Gesicht bekommt einen freudigen Ausdruck.
„Wir machen nur noch eine kleine Verlängerung, zur Schonung, aber nur eine Hälfte.“ Er grinst erwartungsvoll und zeigt seinen beiden Kumpanen seine Seite an. „Mit Erholung. Immer schön langsam.“
Und nun fangen sie doch tatsächlich wieder an. Peng! Pause. Immer nur auf eine Seite. Peng. Pause. Peng.
„Ah! Aah! Aah! Nicht!“ Hans biegt sich immer mehr, versucht die brennende Seite, so weit es geht, wegzudrehen. Er bietet die andere Hälfte geradezu an. Aber sie wird nicht angenommen.
„Hört auf! Lasst ihn los!“, donnert eine Mädchenstimme. „Ihr sollt ihn loslassen! Ihr seid gemein! Feiglinge! Zu dritt!“
Einen Augenblick wendet sich das Interesse dem Mädchen zu. Das genügt Hans. Die vom Schmerz angestaute Energie verleiht ihm die nötige Kraft. Mit einem Ruck dreht er sich zur anderen Seite, wirft einen Reiter ab und springt auf. Aber er läuft nicht weg. Er sieht das Mädchen an, mit weit offenen Augen. Er atmet heftig, mit etwas geöffnetem Mund, in dem die zusammengebissenen Zähne zu sehen sind, die Mundwinkel auseinander gezogen. Beim Blick auf das Mädchen ändert sich das. Mit auf die Unterlippe beißenden Zähnen und dem sympathischen Bemühen, den Schmerz zu verbergen, schaut er sie an. Die anderen trollen sich.
„Danke“, sagt Hans schließlich, „ich geh baden“, und dreht sich weg. „Bin ja ganz dreckig von dem Gras“, fügt er noch erklärend hinzu.
Ich weiß, er hätte gern etwas netter zu seiner Retterin sein können, aber aus verständlichen Gründen drängt es ihn in das kühlende Nass. Aber ich glaube, da kann noch was draus werden. Aus diesem Erlebnis wächst etwas. Zunächst sein Ärger, dass ein Mädchen ihn aus einer derart erniedrigenden Situation befreit hat. Dieses Bild, das er da abgegeben hat, strampelnd und wimmernd, und das vor einem Mädchen, passt überhaupt nicht zu seinem Selbstgefühl. Aber das ändert sich schnell. Das kühlende Wasser hilft etwas dabei. Aber auch das Mädchen. Es ist getroffen. Es hat in das sympathische Gesicht des Jungen gesehen, in ein Gesicht, das angestrengt den Schmerz vor ihr zu verbergen suchte, und in seine blauen Augen. Ein kleiner Pfeil hat sich in ihr festgesetzt und sie ist lebenstüchtig genug, die Situation nicht ungenutzt zu lassen. Sie geht auch baden.
Und so fing es an. Ich weiß natürlich, wie es weiterging, was daraus wurde und wie es endete. Aber weil es eine so schöne Geschichte ist, lass ich sie nicht einfach ausfallen, sondern will sie sehen, noch einmal miterleben. Wenn sich nur nicht diese typisch penetrante, weibliche Neugier wieder dazwischendrängeln würde. Zugegeben, die ist auch bei dem Mädchen mit am Werk, aber das ist eine unbewusste, aus einer ganz kleinen Sehnsucht erwachende, jetzt, wie sie da zum Beckenrand schlendert, ohne bemühtes Suchen.
Aber jene Neugier, die die Putze dort treibt und mir damit den Blick auf das Schwimmbad Kupfermühle verwässert, und noch mehr die von Schwester Angela, die wieder einmal den menschlichen Schutzzaun nicht respektiert, diese Neugier ist es, die mir diese kleine Freude verdirbt. Typisch Frauen!
Musste sie mich denn ausgerechnet gleichzeitig sauber machen? Gerade zu der Zeit, meine ich, als die Reinigungskraft sich über den Ajaxglanz des Bodens freute? Dieses aufdringliche Bild zeigt deutlich, wie makellos, ohne jede Gebrauchsspuren der Belag des Krankenzimmers schillert. Die Frau hat offensichtlich Erfahrung mit menschlichen Resten. Ihr Blick schweift wohl auch deshalb zu den Verrichtungen Angelas. Die Bettdecke hat die schon neben das Bett geworfen. Das verstehe ich. Sie hat mir eine neue mitgebracht. Dass ich ihr nicht behilflich sein kann, weiß sie inzwischen auch. Mit geübten Griffen hat sie die Bereiche an mir freigelegt, die ihrer Bearbeitung bedürfen. Ich könnte ja jetzt auf „zurück“ klicken, aber der mürrische Ausdruck in ihrem Gesicht, die fahrige, fast unwirsche Behandlung meines Unterkörpers fällt mir auf.
Da musste etwas vorgefallen sein, dass Angela ihre sonst stets vorbildliche, glatte Art vorübergehend abgelegt hatte. Wahrscheinlich wieder Ewald! Natürlich wegen Ewald, was sonst! Seine schlechte Laune hatte sich wieder auf sie übertragen. Wahrscheinlich wegen einer übergeordneten Anweisung. Dergleichen mag Herr Mohr gar nicht.
Gerade deshalb kann ich mir das sehr gut, ja geradezu bildhaft vorstellen, seine Reaktion, wie er mit der Mail der „Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben“ konfrontiert wurde.
Ausgerechnet von der Verwaltung hatte Angela die Kopie erhalten, die sie mir unwirsch aufs Bett geworfen hatte. Wäre sie vom ärztlichen Direktor über den Chefarzt an ihn gegangen, den normalen Weg also, der dem medizinischen Sachverstand vorbehalten ist, hätte man sich über notwendige oder nicht notwendige Reaktionen abstimmen können. Aber hier hatte der Assistent der Verwaltungsleitung eine Kopie an Herrn Dr. Mohr weitergeleitet, mit der Bitte um Kenntnisnahme. Ein Kaufmann also, der für Bürotätigkeit zuständig ist. Und der greift in den Heilungsprozess ein!
„Das Haus hat zur Kenntnis zu nehmen, dass unser Mitglied eine Patientenverfügung bei unserer Gesellschaft hinterlegt hat, durch die lebensverlängernde Maßnahmen als unzulässig zu gelten haben“, stand da in der Mail und dass sie die Unterlagen auf dem Postweg zusenden würden. Am meisten ärgerte Angela der Schlusssatz: „Bereits vorab weisen wir darauf hin, dass unsere Gesellschaft autorisiert ist, die Interessen des Patienten zu vertreten.“
„Ist ja lächerlich! Als wenn das nicht von uns geleistet würde!“, meinte sie.
Angela, ich weiß, nein ich fühlte es, Angela war sauer, nicht auf die Verwaltung, sondern auf meine Töchter. Dabei hätte sie es doch ahnen können, dass die sich nicht mit ein paar schnippischen Sätzen abspeisen lassen würden. Natürlich hatten sie die DGHS eingeschaltet, so wie ich es gewollt habe. Und die hatte umgehend reagiert. Und damit begann der Ärger für die Oberschwester. Sie hatte die Aufgabe, den Einwand in die ärztliche Entscheidung des Oberarztes einzubauen, ihm Wirkung zu verschaffen. Er selbst war für die Verwaltung regelmäßig nicht direkt zu sprechen, nur über seine Mitarbeiter, sein Vorzimmer sozusagen.
„Das muss man nicht so wörtlich nehmen“, hatte Mohr gemeint. „Die kennen die aktuelle Lage ja gar nicht. Sollten sich erst einmal schlaumachen. Sag das den Verwaltungsleuten. Wir machen erst einmal so weiter.“
Damit war das Thema für ihn beendet gewesen und sie in einer misslichen Lage. Einerseits hatte sie das Papier von der Verwaltung entgegengenommen. Sie ärgerte sich schon, es getan zu haben. Andererseits entsprach ihre innere Überzeugung natürlich der des Herrn Dr. Mohr. Sie stand zwischen Baum und Borke. Mohrs Antwort, man sehe dem Eingang der avisierten Unterlagen mit Interesse entgegen, mit gleichzeitigem Hinweis auf den ärztlichen Ehrenkodex, die sie weitergab, konnte der Verwaltung natürlich nicht gefallen haben, auch wenn man sie pflichtgemäß an die DGHS weitergeben würde. Der Vorgang würde ordentlich dokumentiert und dem Verwaltungschef zur Kenntnisnahme und zur weiteren Entscheidung ausgehändigt werden. Immerhin war damit Zeit gewonnen. Nur für mich nicht. Und für Angela auch nicht. Die Verstimmung blieb und legte sich wie träger, melancholischer Hochnebel auf das Stationsteam.
Auch jetzt noch, kein bisschen konziliant, geradezu nachtragend, fühle ich ihren unwirschen Missmut. Zusätzlich zum Reinigungsvorgang war es ihre Aufgabe, für die geordnete Entleerung meiner Blase zu sorgen. Das verstehe ich schon. Schließlich konnte ich nicht dem schlechten Beispiel des Penners in der Zelle folgen. Der Abfluss war auch sowohl in meinem Interesse als dem der Reinigungskraft. Die sah den Schwierigkeiten beim Nachschieben des Katheters interessiert zu. Vielleicht überlegte sie auch, ob sie dank ihrer Erfahrung Angela ihre Hilfe anbieten sollte. Jedenfalls verbesserten sich dabei weder Angelas Stimmung noch ihre Sorgfalt noch mein Befinden. Im Gegenteil. Irgendwie scheint es mir, dass Angela seitdem ihre Fürsorge für mich reduziert hat. So, als wenn sie mir böse wäre. Dabei habe ich doch gar nichts getan! Ich gehe lieber wieder aus dem Bild.
Ha! Jetzt bin ich wieder in der Kupfermühle! Das Mädchen springt mit einem Hechter vom Startblock in das Wasser und erreicht damit sogleich die Aufmerksamkeit von Hans, der sich mit seitlichen Bewegungen der flachen Hände auf dem Rücken liegend über Wasser hält. Tellern nennt er das. So hat er eine gute Übersicht über das ganze Schwimmbecken. Das sportlich ins Wasser hechtende Mädchen hat er sofort erkannt und auch, dass sie besser springt, als er es kann. Ganz zufällig treibt er auf die Bahn zu, auf der sie schwimmt. Zu einem Zusammenstoß kommt es nicht. Sie stoppt und lächelt ihm zu.
„Du kraulst gut“, sagt er.
Sie lächelt ihm weiter freundlich zu. „Und was hast du für einen Schwimmstil?“
„Tellern. Wie heißt du denn?“, fragt Hans.
„Killy“, sagt sie.
„Ich heiß Hans.“
Langsam schwimmen sie nebeneinander auf den flachen Teil des Beckens zu. Jetzt, da sie nebeneinander stehen, während sie miteinander sprechen, noch bis zur Brust im klaren Wasser, kann ich sie mir richtig ansehen. Hans ist noch ganz der große Junge in einer knapp sitzenden, hellblauen Badehose, schlank bis mager, nicht die Spur von einem männlichen Rettungsring, unbehaart, flachbauchig, lange Beine und gut gebräunt.
Killy hat auch Farbe, schon etwas rundere Formen und einen braunrot gemusterten Badeanzug an. Er sitzt gut. Nur im Brustbereich etwas locker. Ist wohl auf Zuwachs gekauft. Ihre hellblonden Locken quetschen sich seitlich, lustig und neugierig aus der weißen Badekappe hervor. Die hellblauen Augen sind aufmerksam auf Hans gerichtet.
Er erklärt ihr gerade das Tellern. Dabei müssen sie manchmal in die Knie gehen, die Hände im Wasser, dann aufstehen, dann wieder runter. Nach mehrmaligem Ein- und Auftauchen rutscht das rechte Schulterbändchen ihres Badeanzuges ab. Leider merkt Killy es nicht gleich. In der hektischen Aktivität des Auf und Ab sorgt ihr Oberteil nicht mehr für ausreichende Bedeckung. Hans sieht auf die kleine gewölbte Brust, nicht größer als ein Körbchen, in unschuldigem Schneeweiß mit blass rotem Punkt. Ein leichter Schreck trifft ihn. In seiner Unsicherheit, ungewohnt, eine solche Situation zu meistern, schaut er auf das Geheimnis.
Ja schon, er hat auch eine Schwester. Aber die hat ein eigenes Schlafzimmer. Und beim Waschen macht die genauso viel Theater wie er mit seinem Unterkörper. Außerdem ist das ja nicht seine Schwester, sondern ein fremdes Mädchen, das vor ihm steht, direkt vor seinen Augen. Das ist natürlich etwas ganz anderes. Es ist ihm unheimlich, was er da sieht. Er schaut direkt auf den kleinen Hügel und hätte am liebsten seinen Augen befohlen, wieder für Ordnung zu sorgen. Doch er ist hilflos.
Killy bemerkt schließlich seinen starren Blick. Sie erkennt das Unglück, schiebt den Halter wieder hoch und schnappt ein. Sie ist beleidigt. Da rutscht ihr der Halter runter, entblößt sie, und der Kerl hat nichts Besseres zu tun, als sie zu begaffen! Peinlich! Killy wendet sich ab, schwimmt zur nächsten Badeleiter und verlässt das Becken in Richtung ihres Handtuches oben an der Hecke.
Und Hans? Was macht der nun? Er geht nicht hinterher. Er schwimmt noch eine Bahn, ärgert sich über sein Schicksal, den unglücklichen Umstand und das Mädchen. Als er aus dem Wasser geklettert ist, mag er auch nicht zu ihr gehen. Das wäre ihm zu peinlich. Und so endet die erste Begegnung für beide unglücklich.
Abends fährt Hans mit dem Fahrrad von der Kupfermühle nach Hause, normalerweise eine gute halbe Stunde. Sein Gesichtsausdruck ist mürrisch. Seinen Unwillen bekommt das Fahrrad zu spüren. Zu dem Zeitpunkt ist Killy schon lange zu Hause. Sie wohnt nur zehn Minuten Fußweg vom Bad entfernt und Hans fährt unter dem Fenster ihres Jungmädchenzimmers vorbei, ohne es zu wissen. Hätte sie hinausgesehen und er es bemerkt, hätte vielleicht eine ganz kleine Handbewegung gewagt, nur das Zeichen eines Erkennens, wäre die Sache zwischen den beiden sicherlich ganz anders gelaufen. Aber das geschah nicht. Was kam, war eine Pause, durch die alles nur verlängert wurde, unnötig verlängert!
„Du bist ungerecht! Das ist doch ganz normal, dass nicht alles glatt abgeht.“
Aber es stört. So wie du! Jetzt brichst du mein Bild ab.
„Da bist du wieder ungerecht. Nur weil du ungeduldig bist. Weil dir die Geschichte der beiden gefällt, weil sie dir gefallen, die beiden Menschenkinder, weil du ihre Gedanken mitfühlst und ihre Empfindungen wie die eigenen spürst. Du möchtest gerne bei ihnen, noch besser zwischen den beiden sein. Am liebsten würdest du ihnen sagen, was sie tun sollen. Das wollen die aber gar nicht. Das ist dein Egoismus, der dich jetzt ungeduldig macht.“
Wieso? Für die wäre manches besser gelaufen, wenn sie auf mich hören würden.
„Was soll daran besser sein? Den Ratschlägen eines alten Mannes folgen? Den süßlichen Geschmack des zögerlichen Probierens verpassen? Das spannende Tasten überspringen? Die prägenden Erlebnisse beim Bäumchen-wechsel-dich auslassen? Zugegeben, das liefe auf eine Abkürzung hinaus. Aber nimmt nicht gerade die Verlängerung die Schärfe aus der Suppe, macht sie genießbarer, als der konzentrierte Sud von sich behauptet?“
Jede Verlängerung ist unnütz! Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade! Ich zeig es dir! Das ist ja das Gute. Man kann das wegzappen. Einfach in die andere Zeit springen!