Читать книгу Im Krebsgang von Günter Grass: Reclam Lektüreschlüssel XL - Theodor Pelster - Страница 4
1. Schnelleinstieg
Оглавление»[…] am 30. Januar 1945 begann, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Geburt des Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff zu sinken und so zwölf Jahre nach der Machtergreifung, abermals auf den Tag genau, ein Zeichen des allgemeinen Untergangs zu setzen.« (S. 11)
Drei Geschehen, die zeitlich weit auseinanderliegen und die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, werden allein deshalb, weil sie sich jeweils »auf den Tag genau« am gleichen Der 30. Januar …Datum – nämlich am 30. Januar – ereigneten, in Beziehung gesetzt.
Im Mittelpunkt steht das »Schiff«: Am 30. Januar 1945 wurde das mit weit mehr als 7000 Menschen beladene … 1945: Der Untergang der GustloffPassagierschiff Wilhelm Gustloff, das die vor den anrückenden russischen Truppen Flüchtenden über die Ostsee in den Westen Deutschlands bringen sollte, von einem russischen U-Boot torpediert und auf diese Weise versenkt. Dieses Ereignis, bei dem »mehr als fünftausend Menschen den Tod fanden«1, wird häufig als die »größte Schiffskatastrophe im Zweiten Weltkrieg«2 und als bitterster Beleg für das Schicksal der am Ende des Kriegs aus den Ostgebieten flüchtenden Deutschen angesehen. Wochen später – am 8. Mai 1945 – kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos und der Krieg war für die Deutschen beendet.
Wilhelm … 1895: Geburt des »Blutzeugen« Gustloffs Gustloff, auf den das Schiff getauft war, wurde am 30. Januar 1895 in Schwerin geboren, war später »Landesgruppenleiter Schweiz der NSDAP« und wurde am 4. Februar 1936 von dem jüdischen Medizinstudenten David Frankfurter in Davos erschossen. Die Umstände genügten, ihn zum Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung zu erklären und ihn als Vorbild für treue Gefolgschaft und Führergehorsam zu empfehlen. Die Schiffstaufe war ein Propagandaakt unter vielen.
Mit der »… 1933: »Machtergreifung« HitlersMachtergreifung« ist die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 gemeint. Hitler und die Nationalsozialisten nutzten die Stellung des Regierungschefs systematisch zum Ausbau der nationalsozialistischen Herrschaft in und über Deutschland. Als »Machtergreifung« wird zudem der Prozess bezeichnet, der Deutschland durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum August 1934 in die Diktatur stürzte: »Am 20. August 1934 besaß Hitler die unumschränkte Macht in Deutschland. Als ›Führer und Reichskanzler‹ war er Staatsoberhaupt, Parteichef, Oberster Gerichtsherr und Oberbefehlshaber der Wehrmacht.«3 So lautet der historische Befund.
Nicht nur die Versenkung der Gustloff am 30. Januar 1945, sondern auch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wird in dem zu Beginn zitierten Satz als »Zeichen des allgemeinen Untergangs« angesehen. Da das Elend der Flucht als Folge des Krieges und letztlich als Konsequenz der Machtpolitik Hitlers zu erklären ist, sind die Anfänge des Untergangs eher in der »Machtergreifung« als in den Fluchtbewegungen der Deutschen zu sehen. Diese Deutung der geschichtlichen Zusammenhänge hat sich spätestens seit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags der deutschen Kapitulation durchgesetzt, in der er unter allgemeinem Beifall sagte: »Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.«4
Der Erzähler von Im Krebsgang wird jedoch keine historische Darstellung und keinen Bericht im strengen Sinne des Wortes abliefern; er kündigt vielmehr eine »Novelle« an. Damit wählt er eine literarische Die literarische Formung zur NovelleForm, in der Ereignisse und Begebenheiten ganz unterschiedlicher Art gestaltet werden. Dem Erzähler einer Novelle wird empfohlen, »das Alltägliche […] so kurz als möglich abzufertigen«, stattdessen »bey dem Außerordentlichen und Einzigen zu verweilen.«5 Was aber als außerordentlich und einzig zu gelten hat, darüber entscheidet der Erzähler. Er wird das, was er erlebt und erfahren hat, zu dem in Beziehung setzen, was abstrahiert »deutsche Geschichte« genannt wird.