Читать книгу Eine Jugend war das Opfer - Thilo Koch - Страница 10
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ОглавлениеIndessen war Thomas in rechter Ferienvorfreude nach Hause gegangen, war die Treppe zu seinem Stübchen hinaufgesprungen, hatte vergnügt pfeifend seine Mappe auf ihren Platz geworfen und mit den Reisevorbereitungen begonnen. Je eher er weg war, desto besser. Dann konnte wenigstens nichts mehr dazwischen kommen. Wenn er nur erst im Zuge säße! Und den Abschied hinter sich hätte . . . Gerade jetzt, nach dem unvergeßlichen Sonntagnachmittag, sollte er sich für fünf Wochen von Gisela trennen. Er trat an das offene Fenster, an welches greifbar nahe die großen Blätter der Linden des Kirchgartens heranreichten. Würde es nicht schöner sein, diese fünf Wochen in Giselas Nähe zuzubringen? Hier zu sitzen und an sie zu denken, den Abend erhoffend, der vielleicht ein Stelldichein brachte? Fast hätte er nun den Reiseplan verwünschen mögen; aber es war nicht mehr zu ändern. Gestern abend hatte er ihr erklärt, warum er trotz aller Schwierigkeiten die Englandreise machen wolle. Sie war sehr traurig gewesen, hatte aber eingesehen, daß es gut für ihn sei zu fahren. Durch die Leiden ihrer Mutter und die vielen Pflichten, die sie so jung übernehmen mußte, war sie es gewöhnt, eigene Wünsche zurückzustellen. Sie hatte an eine Wanderung zu viert gedacht, wenigstens in der letzten Ferienwoche, wenn sie von der Mutter weg gekonnt hätte. Karl wollte ja auch zu Hause bleiben, falls man ihn nicht zwingen würde, in ein Zeltlager zu gehen. Damit mußte er allerdings rechnen, denn Pastor Machenberg hatte bereits einen Brief bekommen, in dem er von der Gebietsführung gefragt wurde, ob er es etwa sei, der den Sohn davon abhalte, an dem Zeltlager teilzunehmen.
Thomas begann zu überlegen, was er auf die Reise mitnehmen müsse. Nein, es war nichts mehr zu ändern. Und schließlich lockre ihn ja auch die Reise, die Ferne, die neuen und schönen Erlebnisse, die er erwartete. Gisela war ganz ernst gewesen, als er ihr davon vorgeschwärmt hatte. Ja, er dachte immer nur an sich. Für sie würde es viel schwerer sein: sie blieb zurück bei der kranken Mutter, bei dem gefährdeten Vater.
Da klopfte es, und Peter Möhlen trat ein. In seiner raschen Art blickte er um sich:
„Na, Thomas, du steckst ja ganz in den englischen Reisevorbereitungen. Vergiß den Baedecker nicht!“
„Danke, Peter, aber du kommst bestimmt nicht nur, um mir das zu sagen.“
„Ja, da hast du leider recht.“
Peter setzte sich auf eine Kante des Schreibtisches.
„Ich muß eine ernsthafte Sache mit dir besprechen. Wir stehen uns nicht besonders nahe, aber du weißt, daß ich dich trotz deiner anderen Art schätze. Deshalb und weil ich hoffe, daß du aus deinen vielen Begabungen noch einmal etwas machst, zum Nutzen unseres Volkes, möchte ich zu meinem kleinen Teil dazu beitragen, daß du nicht vorzeitig gewissen Gefahren erliegst, die du nicht genügend beachtest.“
Thomas lachte etwas gezwungen: „Unser Peter wird feierlich, da bin ich gespannt.“
„Es ist ganz einfach folgendes: Man wünscht nicht, daß du deine Reise ausführst. Ganz offen, ich sprach mit Gebietsführer Landhoff über dich. Wir hätten uns beinahe verkracht. Er ist ein Fanatiker und scheint sich geschworen zu haben, dich zur Einordnung zu zwingen oder dir zu schaden, wo er kann. Und er kann; das übersiehst du vielleicht nicht so wie ich.“
„Es war mir klar, daß er es ist, der mir die Englandreise verderben wollte. Seit dem Streit um das Singen damals ist er mein Feind.“
„Du bist ihm auch vor allen Jungen zu kraß entgegengetreten. Das kann er sich nicht gefallen lassen, wenn er seine Autorität wahren will. Hättest du es ihm unter vier Augen gesagt . . .“
„. . . wäre auch nichts anderes herausgekommen. Er fordert ausschließlich neue Kampflieder, also dumme Texte mit schlechten Melodien. Dafür muß er sich einen anderen Singleiter suchen.“
„Du magst vom künstlerischen Standpunkt aus recht haben, aber klug war deine Haltung nicht; sie war außerdem unsoldatisch und grenzte an Meuterei. — Aber laß dir weiter erzählen. Ich sagte ihm, daß du wahrscheinlich trotz des Verbots der HJ nach England fahren würdest, weil du von einem englischen Musikprofessor eingeladen wärst. Er tobte. Du schienest ja ein Musterprodukt der Erziehung des Studienrats Melk zu sein, der bekanntlich die geistige Opposition in Person sei. Organist seiest du auch, stecktest also mit dem sauberen Pastor Machenberg unter einer Decke, und die politische Einstellung deines Vaters könne man bestenfalls als lau bezeichnen Die ganze Clique müsse man ausräuchern, schrie er. Kurz und gut, ich hatte den Eindruck, Landhoff hat nichts Gutes vor.“
Als Thomas zunächst schwieg, fuhr Möhlen fort:
„Du mußt nun unbedingt für dich behalten, was ich dir eben gesagt habe; auch deinem Vater gegenüber. Ich darf Landhoff keinesfalls in den Rücken fallen. Er ist mein Vorgesetzter. Ich vertraue deiner Verschwiegenheit. Du sollst nur alles wissen, weil du die Lage nicht verkennnen darfst. Ich bitte dich also: Bleibe hier und melde dich in letzter Minute zu dem Zeltlager. Auch Karl Machenberg wird gezwungen werden. Nicht von mir — nebenbei. Wenn du nach England fährst, wird man dich aus der HJ ausstoßen, und wie die Dinge liegen, wird man dir auch das Abitur unmöglich machen wollen. Du kannst dann nicht studieren. Mehr brauche ich nicht zu sagen.“
Thomas stand am Fenster und schwieg noch immer, während Möhlen eine Wiedergabe von Dürers „Hieronymus im Gehäus‘ betrachtete, die über Thomas’ Schreibtisch hing. Thomas wendete sich um und sagte:
„Peter, ich danke dir für deine Offenheit. Ich werde verschwiegen sein. Trotz allem aber kann ich meinen Plan nicht aufgeben. Ich kann mich nicht derartig wankelmütig zeigen. Auch vor Professor Johnson nicht, den ich nicht belügen will, und vor dem ich mich als Deutscher schämen müßte, wenn ich ihm die wahren Gründe schriebe. Es mag unklug sein, aber du wirst dich entsinnen, was Melk in der vorigen Deutsch-Stunde sagte: In einer Zeit, die immerzu von Haltung und Gesinnung spricht, soll man schweigen und selbst Haltung und Gesinnung beweisen und so leben, wie das Gewissen es fordert. Ich bekenne mich sehr gern als Produkt dieser Erziehung. Ich muß fahren.“
„Dann ist dir nicht zu helfen.“ Peter wendete sich zur Tür. „Uebrigens, zwischen uns beiden bleibt alles beim alten. Ich hoffe, wir werden uns immer achten können.“
Thomas trat wieder zum Fenster. In ohnmächtiger Wut ballte er die Fäuste. Aber er bezwang die Erregung und verscheuchte die aufkommende Sorge mit einem: „Ha, ich werde es ihnen beweisen!“ Mit wildem Schwung riß er den Koffer vom Schrank und begann zu packen. Aber bald hielt er wieder inne und schüttelte den Kopf. Wie konnten so grundanständige Menschen wie sein Klassenkamerad Möhlen begeistert für diese Partei eintreten? Die „zackige“ Uniform mit den Schnürchen und Litzchen, die immer schöner und glitzernder wurden, je höher der Rang war, mochte ein wichtiger Anreiz sein; aber das erklärte nicht alles. Wahrscheinlich sah eben ein gutwilliger Kopf auch Erbärmlichkeiten in rosigem Licht, wenn ihm nur die Illusion blieb, daß sie nichts anderes seien als kleine menschlich, allzu menschliche Umwege auf dem großen Marsch zu Zielen von erhabener Größe.
Thomas bemerkte erstaunt, wie er immer mehr zu Gedanken kam, von denen er noch vor kurzer Zeit nichts gewußt hatte. Trotz Melks Einfluß, denn Melk sprach selten unmittelbar von Politik. Auch Thomas hatte dieses Gebiet gemieden, nicht zuletzt, weil er sah, daß so viele Menschen durch Politisieren unglücklich wurden. Darum hatte er auch gemeint, der Pastor möge sich fügen. Seinen eigenen Streit mit Landhoff hatte er nie als den Zusammenprall politischer Gegensätze betrachtet, sondern nur rein sachlich. Er wollte und konnte den Kameraden keine schlechte Musik beibringen. Landhoff verlangte das von ihm. Also hatte er ihm öffentlich Unkenntnis und Mangel an Geschmack vorgeworfen und war seiner Wege gegangen.
Politik war bisher in seinem Leben gewesen, was Zeitungen ihm neben Büchern und Musik bedeutet hatten: Eine lästige, nicht recht verständliche Beigabe, mit der die Menschen sich viel Aerger machten, indem sie geringfügige Aeußerlichkeiten ungeheuer wichtig nahmen.
Bei den kleinen politischen Diskussionen mit Peter Möhlen oder anderen Kameraden hatte ihn mehr eine Neigung zu dialektischer Uebung als ein inneres Anliegen gereizt, den Gegenstandpunkt zu vertreten. Sehr bald war er immer ins Philosophieren gekommen, wo ihm die anderen nicht gern lange folgten.
So war er auf das Politische höchstens dort gestoßen, wo es ans Philosophische grenzt, und dort hatte er es oft noch nicht einmal als politisch erkannt. Zum HJ-Dienst in Peter Möhlens Gefolgschaft ging er gerade so oft, wie unbedingt nötig war, um nicht ausgestoßen zu werden, wobei Peter manchmal ein Auge zudrückte, weil er sah, daß Thomas nicht bummelte, sondern durch seine Orgelstunden in Hellwedel und durch das Organistenamt neben der Schule immer vollauf zu tun hatte. Von sich aus wäre Thomas vielleicht gar nicht in die HJ eingetreten, aber alle sagten, er käme dann nicht in die Oberstufe des Gymnasiums, könne das Abitur nicht machen, und an eine Karriere später wäre nicht zu denken. Etwas Großes, Tüchtiges aber wollte er doch werden. Wie der Vater es wünschte, so dachte auch er sich gern als berühmten Professor, vielleicht Rektor, an einer großen Universität, gefeiert von Studenten und Kollegen, Ehrenmitglied vieler Akademien. Zwar gestattete er sich selten solche Wunschträume, weil er ein ausgeprägtes Schamgefühl für Eitelkeiten hatte, aber er wollte doch den Lebenswunsch des Vaters nicht enttäuschen und hoffte ihm vorzuarbeiten, wenn er das hohe Ziel recht fest ins Auge faßte.
Alles mußte diesem Ziel unterstellt werden. So trat er auch in die HJ ein; der vorgefaßte Lebensweg sollte nicht aus Bequemlichkeit gefährdet werden. Hatte er es auch bis heute nicht zu einer vollständigen Uniform gebracht und war er deshalb auch schon von außen als räudiges Schaf kenntlich, so hatte ihm doch, besonders am Anfang, manches Spaß gemacht; namentlich Sport und Fahrten. Vor Kundgebungen, Schulungsabenden und Propagandamärschen, wo man einen Wimpel oder einer Trommel heiser singend nachzutrotten hatte, drückte er sich regelmäßig.
Thomas politischer Werdegang war also alles andere als mustergültig. Aber erst jetzt, als man ihm einen schönen Plan, einen großen Wunsch verderben wollte, da er politisch unzuverlässig sei, begann seine fügsame Gleichgültigkeit einer bewußten Opposition zu weichen; seine Kritik konnte nicht länger theoretisch bleiben, sie mußte praktisch gelebt werden, wenn er sich nicht selbst untreu werden wollte.
Nein, er mußte nach England, wenn auch alles sich dagegen verschwor. Es würde sich so bald nicht wieder eine solche Gelegenheit bieten, den Gesichtskreis zu erweitern und musikalisch so entscheidende Anregungen zu empfangen, wie sie ihm Gehrmann von der Begegnung mit Professor Johnson versprochen hatte.
Die Mutter kam herauf, ein frisch gebügeltes Hemd über dem Arm, das sie in den Koffer legte. Sie strich Thomas über die Hand und sagte:
„Hoffentlich kommst du recht reich an Erlebtem zurück, mein Junge. Aber auch mit einer tiefen Sehnsucht nach deiner Heimat, deinem Elternhaus, denn hier ist der Frieden, und den findest du nirgends sonst in der Welt.“
Thomas blickte sie fest an:
„Hab keine Sorge, Mutter, es wird alles recht geschehen.“