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Brösenheim hatte an warmen Tagen in der Mittagszeit etwas sehr Trauliches. In allen Winkeln schien sich die Behaglichkeit zu sonnen. Auch die Hauptstraße war dann menschenleer, und nur manchmal huschte ein schneller Wagen vorbei, der weither kam und weithin wollte, denn durch Brösenheim führte eine Fernverkehrsstraße. Sonst aber war es ein Städtchen, in dem noch viel verwunschene Romantik lebte und sich mancher Zug erhalten hatte, der ans deutsche Mittelalter erinnerte. Es war ein friedlicher Ort, sauber und fleißig.

In der Hauptstraße, von der Kirche nur, durch einige alte Linden getrennt, hinter denen das Pfarrhaus lag, bezeichnete ein Schild in ehrwürdiger Fraktur einen hübschen kleinen Laden als die „Buchhandlung Wilhelm Frey“. Das Häuschen war alt, aber ordentlich mit hellgrauem Kalk verputzt und mit freundlichen grünen Läden an den Fenstern Ein großes und modernes Schaufenster wies den Besitzer als fortschrittlichen Mann aus, und — was mehr besagen wollte — die Auslagen in diesem Fenster waren von einer liebevollen Hand geschmackvoll angeordnet. Wilhelm Frey, der Inhaber, war ein begeisterter Diener des Buches, hierin aller Konkurrenz in Brösenheim überlegen, während er ihr in der geldbringenden Geschäftstüchtigkeit freilich nachstand.

Wenn Frey ein Buch verkaufte, das etwas wert war, so hatte der Käufer den Eindruck; er mache es ihm zum Geschenk, und wirklich kostete es den Buchhändler jedesmal Ueberwindung, wenn er einen seiner Lieblinge aus dem Laden gab. Er genoß deshalb auch ein hohes Ansehen unter denjenigen Brösenheimern, die zum Buch ein mehr als oberflächliches Verhältnis hatten. Nachdem er den Laden von seinem Vater übernommen hatte, gab er den Handel mit Papier und Schreibwaren auf, weil er es als seine Lebensaufgabe betrachtete, eine Buchhandlung mit eigener Note einzurichten. Obwohl dieser Versuch in Brösenheim ein Wagnis war, blieb das Geschäft schuldenfrei, und der Umsatz stieg langsam. Es schien, als machten die Brösenheimer allmählich Fortschritte in der Veredelung ihres literarischen Geschmacks — fast unmerklich erzogen durch die kleine Buchhandlung in der Hauptstraße.

Noch einen nicht bibliophilen Anziehungspunkt gab es dort. Dieser wirkte namentlich auf die älteren Schüler und jungen Lehrer und lebte wie eine bunte Blume unter den vielen gedankenschweren Bänden. Es war Christa, Freys Tochter, die ihm seit ihrem Abgang aus der Schule im Laden half. Was sie dem Vater an Sachkenntnis nachstand, das ersetzte sie durch den Scharm ihrer Bedienung, und je nach Alter und Eigenart wandten sich die Kunden lieber an sie oder an ihn.

Eben jetzt saß Christa hinter dem alten dunkelbraunen Holzpult und schrieb Rechnungen aus, denn einige der nicht ganz zuverlässigen Kunden mußten erinnert werden.

Es war ganz still in dem kleinen Raum. Ein Abglanz der Mittagssonne lag ausgebreitet über den vielen Buchrücken an den Wänden und auch über dem Mädchen, das dort saß und schrieb. Manchmal hob Christa den Kopf und hielt ein mit schreiben, um zu dem Nebenfenster hinauszuschauen, von dem man auf den Kirchgarten mit seinen schönen, alten Linden sehen konnte. Das Rechnungenschreiben gefiel ihr nicht sonderlich. Ein Kunde war nicht zu erwarten, weil Brösenheim jetzt Mittagsruhe hielt. So lehnte sie sich in dem Kontorstühlchen zurück und träumte vor sich hin. Die Sonne flutete durch das Glas in der Ladentür und durch den oberen Teil des Schaufensters, zeichnete mit dicken, warmen Strahlenbündeln Muster auf den Linoleumfußboden und umspielte auch das Mädchen selbst aufs lieblichste. Nur manchmal unterbrach ein vorbeisausender Wagen die Mittagsruhe. Mit dem eigentümlich dunklen Singen schneller Gummireifen auf Asphalt näherte sich wieder ein Auto — und war auch schon vorbei. Christa sah nur ein Aufblinken von schwarzem Lack, blitzenden Chromteilen und zwei weiße Autokappen. Ihre Brust hob sich zu einem kleinen Seufzer, und sie trat an die Ladentür in Erwartung, daß bald wieder so ein schöner Wagen vorbeiführe. — Wer doch auch so in die herrlich sonnige Welt hinausfahren dürfte! In so einem blitzenden Kabriolett! Und am Steuer müßte einer sitzen, den man liebhaben könnte . . .

Langsam wendete sie sich um und schritt zum Pult zurück. Sie hatte einen besonders schönen Gang und trug deshalb gern hohe Absätze; ihre Bewegungen waren weich. Die Kopfwendung, mit der sie jetzt eine blonde Locke zurückwarf, zeigte, daß sie sich ihrer Reize bewußt war. Ihr kurzes Faltenröckchen strich nicht sehr freundschaftlich an den Büchern hin. Gewiß, Brösenheim war ein liebes Nest, und sie hing daran. Sie hing auch an Vater und Mutter und besonders an dem Bruder. Aber der Vater sah nur seine Bücher, die Mutter war lieb und gut, ahnte aber nichts von ihrer unbändigen Sehnsucht nach dem Leben, weil sie von Natur aus still und bescheiden war und sich auch mehr um Thomas, den einzigen Sohn, kümmerte. Dieser aber lebte eingesponnen in die Musik, hatte Schulkameraden um sich, und im stillen erfüllte ihn ganz und gar eine Neigung für Gisela, ihre Freundin aus dem Pfarrhause. Mit Gisela Machenberg verstand sie sich gut; doch auch sie schien nicht dieses ganz starke, übermächtige Drängen nach etwas Ungewöhnlichem, nach dem brausenden, wilden, schönen Leben zu kennen, dieses heiße Wollen, das manchmal so betäubend aufwallte. Gab es überhaupt jemanden, der so etwas in ihr ahnte?

Nicht immer indessen war Brösenheim so verschlafen wie an warmen Sommertagen. Zwischen sechs und sieben abends glich die Hauptstraße ganz im Gegenteil einem weltstädtischen Korso. Das war die Zeit des „Bummels“ — Höhepunkt des Tages für Brösenheims Jugend. Es gehörte zu Christas größten Schmerzen, daß sie nur selten „auf den Bummel gehen“ konnte, denn gerade dann wurde sie im Laden gebraucht. Es war ja die allgemeine Einkaufszeit kurz vor dem Abendessen, und viele der Vorbeigehenden wurden durch eine neue Auslage verlockt, andere erledigten ihre laufenden Anliegen in der Buchhandlung. Die ständigen Kunden kamen freilich in den stilleren Stunden, weil sie mit dem alten Frey allein sprechen wollten oder — die anderen — mit der schönen Christa. Seit Thomas, der Bruder, nun Primaner war, duldete es der Vater nicht mehr, daß er Christa um diese Zeit einmal vertrat, wozu er früher immer gern bereit gewesen war. „Als Primaner gehört er auf den Bummel“, meinteVater Frey schmunzelnd. „Wenn er nicht zu arbeiten hat“, setzte er vorsichtshalber hinzu.

Thomas selbst ging jetzt auch wirklich gern auf den „Bummel“, während er sich noch bis zu diesem Frühling wenig daraus gemacht hatte. Er brauchte nicht lange in sich zu forschen, um die Ursache zu finden. Dabei mußte er dann meistens ganz heimlich lächeln, weil ein seltsames Glücksgefühl in ihm aufkam — ein wenig bang und doch so erwartungsfroh.

Heute herrschte wieder reges Treiben. Die Hitze des Tages war einer linden Abendluft gewichen, und jeder erging sich gern darin. Das Bild war bunt und bewegt. Die Jungen trugen meistens kurze Hosen und leichte Hemden, die Mädchen helle Waschkleider oder farbige Blusen mit Röcken, die — der Mode folgend — jedes Jahr kürzer wurden. Eingehenkelt, zu zweit oder zu dritt, oft auch in breiter Kette, die immer wieder vor einem hupenden Auto oder einem Radfahrer zerstob, um sich lachend erneut zu verbinden, schlenderten sie die Hauptstraße auf und ab. Die Kirche am einen Ende und die Apotheke jenseits des Marktes am anderen waren nach uralter Ueberlieferung die Grenzen des Bummels. Hier traf und fand sich das ganze Jahr hindurch, mit Ausnahme der Ferien, allabendlich zwischen sechs und sieben, was sich treffen und finden wollte. „Wir müssen auf den Bummel!“ Das war auch für die strengste Mutter ein Entschuldigungsgrund, denn „der Bummel“ war für sie selbst eine Jugenderinnerung, die sie um keinen Preis hätte missen mögen. Da wurden Blicke getauscht, oder man fühlte sich auch nur angesehen und traute sich nicht aufzuschauen; da erzählte man sich die neuesten Ereignisse und Erfahrungen, Liebschaften und Zerwürfnisse, da wurden die Lehrer durchgenommen, und unter den älteren Schülern kam es auch wohl zu einer Diskussion.

Meistens schickten die Mütter, um den Bummel mit etwas Nützlichem zu verbinden, die Töchter und Söhne gerade um diese Zeit einkaufen, wozu das junge Volk stets und sofort mit ungeduldigem Eifer bereit war. Dadurch waren die Bürgersteige und oft auch der Fahrdamm der Hauptstraße abends so überfüllt, daß manch ungeduldiger Autofahrer über „diese Gesellschaft von Nichtstuern“ fluchte. Aber den zornigen Signalen antworteten nur kichernde Mädchen, die behend zur Seite sprangen. Immer gleichmäßig gelassen schauten die alten Fachwerkhäuser mit ihren vorragenden Stockwerken und Erkern auf das fröhliche Gewühl herab.

Thomas traf sich meistens mit Karl Machenberg, dem Klassenkameraden und Freund. Manchmal war Karls Schwester Gisela dabei. Gisela wurde aber immer nur zu schnell von ihren Freundinnen mitgezogen, die laut schwatzend und lachend die ernsthafteren Jungen in ihrer Primanerwürde stehen ließen.

Heute kam Karl allein. Er wirkte immer etwas bedrückt. Nur in Thomas Gesellschaft wurde er freier und sprach auch nicht so gehemmt wie sonst. In der Schule brachte er oft kein Wort heraus, obwohl er meistens die Antwort wußte. Aehnlich ging es ihm auch sonst; er war ein Pechvogel. Dennoch verzagte er nicht und versuchte sich nützlich zu machen, wo er nur konnte. Jeder Entschluß fiel ihm schwer, hatte er ihn aber gefaßt, brachte ihn nichts mehr davon ab. Er wurde von seinen Mitschülern als guter Kamerad geschätzt.

„Gisela ist zu Hause geblieben“, sagte er gleich, als er Thomas’ enttäuschtes Gesicht sah, „es geht der Mutter heute wieder sehr schlecht. Der Vater wurde erneut abgeholt.“

„Was, schon wieder?“ fragte Thomas erschrocken.

„Ja, heute nachmittag. Mutter ist völlig erschöpft von der Aufregung. Wir müssen das Schlimmste für sie befürchten.“

Die beiden Freunde gingen schweigend nebeneinander her, wie von selbst hinaus in die Felder, denn nach dem Betrieb in der Hauptstraße war ihnen jetzt nicht zumute.

„Und man kann nichts dagegen tun?“ sagte Thomas. „Was mag denn dein Vater wieder gesagt haben?“

„Ich weiß nicht, Thomas. Er spricht mit Rücksicht auf die Mutter nicht von seinen Sorgen. Aber seit er damals dem Konzentrationslager knapp entronnen ist, war er vorsichtig in seinen Predigten. Schwer genug ist es ihm geworden, das weiß ich. Er tat es auch nur um der Mutter willen, denn er muß es ihr unbedingt ersparen, daß sich die damalige Demonstration wiederholt. Du wirst dich entsinnen, wie die SS den Vater in Sprechchören beschimpfte, wie man uns die Fenster mit Steinen einwarf, unsere Haustür besudelte und am liebsten uns alle gelyncht hätte. — Was man ihm jetzt wieder zur Last legt? Vielleicht ist es ein Vorwort, das er neulich für ein Buch schrieb. Darin äußert er sich gegen eine Gewaltherrschaft, die dem Menschen Freiheit des Glaubens verspricht, während sie in Wahrheit jeden vernichtet, der eine andere Meinung als die befohlene hat.“

„Das darf man heute aber auch nicht laut sagen“, entgegnete Thomas gedrückt. „Warum vermeidet er solche Herausforderungen nicht, wo er doch weiß, daß er als einzelner nichts ändern kann! Wir müssen uns eben alle fügen, bis der erste Eifer sich gelegt hat und das Gute an der neuen Idee reiner in Erscheinung tritt.“

Karl nickte: „Ich habe es ihm oft gesagt, man müsse sich über Fehler im Kleinen hinwegsetzen, wenn dafür das Große gedeiht. Und es gedeiht ja wirklich: Ueberall ein Erstarken und Aufblühen, keine Arbeitslosen mehr. Das sind Tatsachen. Er gibt das auch zu; er freut sich von Herzer über jeden Aufschwung unseres Volkes, aber er sagt, wenn jemand die Religion angreife und unterdrücke, dann sei das sein Feind.“

„Er hat natürlich recht, aber er richtet sich damit zugrunde. Will er denn die Zahl der kirchlichen Märtyrer vergrößern?“

„Du kennst ihn ja, Thomas, er ist alles andere als ein Fanatiker. Er gibt auch nach um der Familie willen; aber seit Mutters Krankheit, die durch jene Demonstration ausgelöst wurde, ist er manchmal bitter und unbeherrscht.“

„Es war furchtbar damals. Aber meinst du nicht auch, daß es nur von unmaßgeblichen Lümmeln ausging?“

„Ich bin davon überzeugt, sonst müßte man ja an allem zweifeln. Man kann doch nicht glauben, daß solche Vorgänge befohlen werden und mit Einverständnis der Regierung geschehen. Es ist eben ein Unglück für unsere Familie, daß Vater es zu ernst nimmt und nicht mit der Zeit geht.“

Thomas dachte an Gisela und ihre Mutter. Was mochte bevorstehen?

Ihren Gedanken nachhängend, kehrten beide in die Stadt zurück. Nicht wie sonst hatte ihnen die Natur Freude gemacht, obwohl doch die Sonne gerade hinter dem kleinen blauen Höhenzug, der die weiten Felder begrenzte, untergegangen war.

Der Bummel verebbte bereits, als sie die Hauptstraße wieder erreichten. Nur Peter Möhlen in der Uniform eines HJ-Gefolgschafts führers, die er auch meistens in der Schule trug, stand noch mitten auf der Hauptstraße, von einer Schar Jungen umgeben, die ihm zuhörten.

„Also ich sage euch jetzt zum letztenmal, daß der Bummel für uns nicht in Frage kommt. Das ist eine Sache von vorgestern. Ueberholt für uns. Ich will keinen von euch wieder hier treffen, sonst setzen wir eben öfter Dienst an, wenn ihr noch zuviel Freizeit habt.“

Mit kurzer Wendung drehte er sich um und sah dabei seine Klassenkameraden Karl und Thomas.

„Na, wo kommt ihr her?“ begrüßte er sie. „Freue mich, euch nicht auf dem Bummel gesehen zu haben. Blödes Getue hier.“

„Ach, ich weiß nicht. Ich finde es nicht schlecht. Du bist etwas radikal, Peter.“ Thomas sah sinnend die Straße hinunter. An einigen Giebeln glühten Butzenscheiben in den letzten Sonnenstrahlen rot auf, als brenne es in den Häusern.

„Das muß man, wenn ein neues Reich gebaut wird. Dieser Schlendrian ist absolut unproduktiv. Wir werden viele liebe Gewohnheiten aufgeben müssen.“ Peter blickte Thomas mit seinen scharfen, hellen Augen an. Kurz geschoren, aber nicht ganz gehorsam, standen seine rotblonden Haare von dem schmalen Kopf ab.

„Ehrlich gesagt“, erwiderte Thomas leise, „oft sehne ich mich nach jener ruhigen, freien Zeit, zu der dieser Schlendrian paßte. Es geschieht heute alles so schnell, so rauh und rücksichtslos.“

Peter schüttelte den Kopf: „Du neigst zu solchen Stimmungen, Thomas, aber du mußt sie unterdrücken. Später, wenn wir stark und groß in der Welt dastehen, magst du sie wieder hervorholen.“

Thomas nickte. „Ja, ja, aber manchmal zweifle ich sogar, daß es jemals ruhige und freie Zeiten gab, außer in den Wunschträumen der Dichter. — ‚Das goldene Zeitalter‘! Ist es mehr als eine erbauliche Legende, erfunden zur Verklärung der Vergangenheit und der Zukunft, damit die niemals goldene Gegenwart erträglicher werde?“

„Philosophieren wir nicht so viel.“ Peter sah nach der Uhr. „In fünf Minuten habe ich Führerbesprechung. Uebrigens, was höre ich, Karl, dein alter Herr ist wieder verhaftet worden? Tut mir aufrichtig leid. Er ist ein tadelloser Mensch und ein aufrechter Mann, wie wir welche brauchen im neuen Reich. Daß er christlich denkt und redet, ist schließlich seine Pflicht als Pastor. Ich bedaure nur, daß er überhaupt Pastor ist. Das führt ihn zu immer neuen Konflikten. Dabei kämpft er für eine Sache, die kaum noch lebendig ist. — Trotzdem sollte man ihn in Ruhe lassen. Ich werde mich für ihn einsetzen.“

Karl hob die Schultern: „Ich zweifle, daß du etwas erreichst. Er selbst erträgt ja alles; sein Glaube macht ihn stark. Aber die Mutter . . .“

Eine Jugend war das Opfer

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