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4.

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Dieser letzte Sonntag vor den Ferien schien alle Sonnenpracht des Sommers in sich zu vereinigen. Wie jeden Sonntagmorgen, hatte Thomas zum Gottesdienst gespielt. Der alte Kantor Herse, bei dem er die ersten Orgelkenntnisse erlernt hatte, war gestorben, und da der Kirchenrat einverstanden war, übte Thomas das Organistenamt an der kleinen Kirche aus. Zu seinem Unterricht mußte er immer über Land nach Hellwedel zu Professor Gehrmann. Gehrmann hätte ebensogut in der Großstadt eine berühmte Kantorenstelle haben können, aber er liebte das Land, die Muße und die kleine Silbermannorgel in der Kirche von Hellwedel. Für Thomas war das ein Glück, denn sonst hätte er schwerlich einen solchen Lehrer gefunden.

An diesem ersten Sonntage im Juli stand er nach dem Gottesdienst noch plaudernd mit Gisela und Karl Machenberg unter den mächtigen Linden des Kirchgartens. Auf der Hauptstraße gingen sonntäglich gekleidete Menschen spazieren, und ein warmer Friede lag in der Luft. Durch das dichte Blätterdach der Linden fiel gedämpft das Sonnenlicht und zeichnete lustige Kringel auf den sauber geharkten Boden und auch auf die drei jungen Menschen. Giselas helles Lachen klang oft auf, weil die beiden Freunde in bester Laune miteinander scherzten.

„Ach, Kinder“, sagte Gisela und klatschte froh in die Hände, „heute ist ein herrlicher Tag. Mutti geht es wieder ein bißchen besser, die Ferien stehen vor der Tür und dieses Wetter . . .“

„Ja, wir sollten am Nachmittag einen Spaziergang machen“, fiel Karl ein.

„Großartig“, lobte Thomas, „Christa muß unbedingt mit. Die Eltern werden gewiß nichts dagegen haben.“

„Ich freue mich so“, sagte Gisela, „aber nun muß ich mich schnell ums Mittagessen kümmern. Ihr beide könnt ja alles besprechen. — Bis nachher!“ Sie berührte schnell und ein wenig verschämt Thomasʼ Arm und hüpfte davon.

Thomas sah ihr nach. Das Kleid, was sie heute trug, gefiel ihm über die Maßen. Es paßte zu diesem Sonnentag. Auf hellblauem Grunde hatte es viele bunte Blumen, und der Schnitt paßte sich reizend der schlanken Mädchengestalt an. Alles an ihr, das glänzend braune Haar, die kleinen blanken Schuhe, die helle Haut — alles atmete eine köstliche Frische und Anmut.

Zerstreut verabredete er sich mit Karl für drei Uhr nachmittags und ging zu Christa, um ihr den Plan mitzuteilen. Dabei fühlte er wieder übermächtig diese große Sehnsucht in sich, die ihn quälte, seit — ja seit Gisela damals hinter ihm gestanden hatte, an jenem Abend in der Kirche. Nein, eigentlich war sie schon länger in ihm, diese Sehnsucht . . . Aber seit Gisela da war, hatte sie Gestalt angenommen und überwältigte ihn, machte ihn oft ganz krank. Was war das für eine Macht, die ihn trieb, sich das Mädchen immer wieder vorzustellen in seinem Liebreiz? Ihre frischen Lippen, hinter denen die kleinen weißen Zähne schimmerten, wenn sie lachte; die Augen, in denen tausend Lichter glänzten und an deren Grund eine so gute Wärme schlummerte; die zarten Schläfen, hinter denen man ganz feine blaue Aederchen sah. Er hätte sie nur immer, immer ansehen mögen, und doch ahnte er, daß im verehrenden und begehrenden Ansehen kein Genügen lag. Alle Sinne trieben ihn zu ihr, nicht nur die Augen. Aber er schrak vor dieser Erkenntnis zurück; fast spürte er manchmal etwas wie eine dunkle Angst vor der Glut, die da in ihm erwachte, der er in schmerzlicher Lust nachzugeben begann.

Er beherrschte sich und besann sich auf die unmittelbare Gegenwart. Zugleich stieg eine heiße Freude in ihm auf; heute nachmittag würde er vielleicht mit ihr allein sein können! Aber . . . würde ihm auch etwas einfallen, womit er sie unterhalten konnte? — Zunächst mußte er Christa Bescheid sagen.

Christa war nicht erbaut von dem Plan. Thomas wunderte sich.

„Ich gehe ja gern mit Gisela und auch mit euch, aber — ihr seid langweilig“, erklärte sie.

„Langweilig?“ staunte Thomas. „Ja, hast du denn etwas Besseres vor?“

„O ja, ich wüßte schon etwas, aber das versteht ihr alle nicht.“

„Du bist manchmal sonderbar, Schwesterlein“, scherzte Thomas, „komm, sei lieb und fröhlich, zerstör uns nicht diese gute Stimmung — komm mit!“

„Aber ich bin verabredet“, beharrte sie.

„Aha, der Herr Ferdinand Pellke. Mit dem also gehst du lieber, der ist nicht langweilig. Hoffentlich hat er auch seine schöne schwarze Uniform an, damit er recht glänzt und du neben ihm.“

„Ihr seid häßlich und ungerecht.“ Christa war verstimmt. „Warum bist du so gegen Ferdi? Nur weil er SS-Mann ist und aus der Kirche austrat. Das beleidigt euch, denn du gehörst ja schon halb zur Pfarrersfamilie.“

„Red nicht solchen Unsinn“, fuhr Thomas auf. „Es ist mir völlig gleichgültig, wie deine Liebhaber zur Kirche stehen. Aber daß sie ausgerechnet zu dem Gesindel gehören, was damals vor der Pfarre . . .“

„Es ist gar nicht bewiesen, daß er dabei war!“ Christa begann laut zu sprechen.

„Nein, er war nur der Anführer“, lachte Thomas spöttisch.

„Und wenn schon! Jeder macht einmal Dummheiten im Leben, auch mein Herr Bruder! Und außerdem will ich es dir endlich sagen: Auch ich empfinde nichts mehr in der Kirche. Das Christentum ist mir eine leere Form, die ich nur noch halb aus Gewohnheit und halb aus Rücksicht auf die Eltern mitmache. Ich will es dir endlich genau sagen: Auch ich bekenne mich zu unserem neuen Reich, ich lebe für die neuen Ideale. Das alte Muckertum soll aufhören. Wir wollen eine frische, frohe Jugend werden, die sich ihres Leibes und Lebens freut, mutig in die Zukunft blickt nnd nicht nur dichtet und denkt. Ihr aber? Ihr hängt am alten und scheut die Opfer, die das Neue fordert.“

Thomas hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört.

„Du bist ja schon beachtlilch ausgerichtet worden in eurer BDM-Führerinnenschulung! Und durch den vortrefflichen SS-Pelke, deinen Ferdi, wie du den Laffen nennst.“

„Nimm das zurück“, brauste Christa auf, „ich lasse ihn nicht beschimpfen.“

Fast hätte es jetzt auch Thomas die Sonntagsfreude verschlagen, doch da rief die Mutter Christa in die Küche. Sie ging, indem sie mit einem energischen Ruck eine lose blonde Locke zurückwarf. Thomas folgte langsam. Als er in die Küche kam, rührte Christa eifrig in einem Topf. Wie beiläufig erzählte er nun der Mutter von dem Plan, am Nachmittag zu Viert spazieren zu gehen.

„Das macht nur, Kinder“, nickte sie, während sie noch einmal die Suppe abschmeckte. „Geht doch nach Heidequell, Kaffeetrinken und ein bißchen tanzen!“

„Ja, Mutti, du bist die beste aller Mütter“, Thomas faßte sie — wieder Hoffnung schöpfend — um die Schulter, „aber unsere Christa mag nicht. Sie ist verab . . .“

„Ja“, fiel Christa ihm ins Wort, „ich habe keine Lust.“ Dabei zwinkerte sie Thomas zu, der langsam begriff, daß die Mutter wohl von der Verabredung mit Ferdi nichts wissen sollte.

„Was, Christelkind, du keine Lust, tanzen zu gehen? Das ist aber ganz neu. Unsinn — du gehst mit, wirst doch den drei anderen nicht die Freude verderben wollen!“

„Ich bin doch dazu nicht nötig“, wich sie aus.

„Natürlich bist du es“, widersprach Thomas, „sonst geht es doch nicht auf . . . ich meine . . .“

Die Mutter lächelte, und auch Christa lachte jetzt über die Verlegenheit Thomasʼ, der rot wurde, als er bemerkte, daß er da zu viel gesagt hatte.

Christa ging mit einem Vorwand aus der Küche. Thomas folgte ihr. Draußen faßte sie ihn beim Arm und sagte:

„Ich komme mit, Bruderherz, dir kann ich ja doch nichts abschlagen. Aber Spaß macht es mir nicht. Karl ist wirklich furchtbar langweilig und noch so . . . so . . . wenig männlich. Aber dir zuliebe und noch mehr Gisela zuliebe komme ich mit, obwohl du genau so ein unentschlossener Zauderer bist wie dein Freund Karl. Merkst du denn gar nicht, daß Gisela dich lieb hat? Ich möchte wetten, du hast sie noch nicht einmal geküßt. — Ja, also euch zuliebe, und weil du mich eben nicht verraten hast. Mutti darf nichts von Ferdi wissen.“

Thomas war ziemlich verblüfft aber die schnell geflüsterten Erklärungen, hatte aber keine Zeit, etwas zu erwidern, denn Christa war bereits in die Küche zurückgehuscht.

Die „Pfarrkinder“, wie Christa die Nachbargeschwister nannte, kamen pünktlich. Christa war wie immer noch nicht ganz fertig. Endlich ging man unter Lachen und in bester Stimmung. Die beiden Mädchen faßten sich unter, und die Jungen gingen an beiden Seiten — anfangs betont lässig und etwas verloren. Gisela hatte ein sandfarbenes Kleid aus einfachem, grob gewebtem Leinen an. Auch Christa hatte sich geputzt, ein wenig zu auffällig für Thomasʼ Geschmack. Karl dagegen fand sie reizvoll und zauberhaft wie einen bunten Schmetterling, dem man wohl nachjagen kann, der aber viel zu schön und zu flink ist, um sich fangen zu lassen.

Schon bald bewegten sich die Vier nicht mehr so brav wie sonntägliche Spaziergänger. Wie ausgelassene Kinder — endlich ohne Aufsicht — tollten sie umher. Dort gab es Brombeeren, von denen genascht werden mußte und in denen sich die Mädchen die nackten Beine zerkratzten, da mußte man plötzlich ganz still sein, weil Gisela, die sehr gute Augen hatte, ein Eichhörnchen entdeckte, welches man beobachtete, bis es nicht mehr zu sehen war. Den beiden Jungen klang immer wieder das helle Lachen der Mädchen in den Ohren. Selbst Karl wurde ganz ausgelassen und schlug die schönsten Purzelbäume auf dem weichen Waldboden.

Wie Mutter Frey geraten hatte, trank man in Heidequell Kaffee. Das wurde wieder lustig. Gisela spielte die Hausfrau, weil sie darin schon Uebung hatte und verteilte große Kuchenberge. Dazwischen wurde getanzt. Die kleine Tanzfläche im Freien war nicht allzu überfüllt. Drei Musikanten bemühten sich eifrig, eine möglichst großstädtische Tanzmusik zu erzeugen. Karl war selig, wenn er auch gehörig schwitzte vor Anstrengung. Christa machte es ihm zwar leicht, denn sie tanzte gut und hatte Uebung, aber er traute sich gar nicht recht, das Mädchen anzufassen, denn immer dachte er an sein Bild von einem Schmetterling, und Schmetterlinge verletzt man ja mit einem festen Griff nur zu leicht . . . Ach, wenn ihm doch bewußt gewesen wäre, daß er gerade mit einem ganz festen Griff diesen Schmetterling für immer gehalten hätte, um ihn damit zugleich vor der Flamme zu bewahren, die er mit gefährlicher Lust umgaukelte.

Am besten tanzten Christa und Thomas miteinander, weil sie es zu Hause bei Radiomusik manchmal übten. Gisela hatte selten getanzt. Nach der Tanzstunde war bald die Nervenschwäche der Mutter aufgetreten, und ihre Lebensführung hatte seitdem zu ernst sein müssen, als daß sie viel zu Vergnügungen gekommen wäre. Trotzdem war ihr nie eine gedrückte Stimmung anzumerken, und sie konnte lustiger sein als alle. Nur was Pflicht heißt und Verantwortung, das hatte sie früh lernen müssen. Selbstverständlich tanzte sie gern, und ihre natürliche Anmut half ihr auch bald, den Mangel an Uebung auszugleichen. Aber Thomas hielt nur zaghaft ihre leichte Gestalt im Arm. Langsam freilich schwand seihe Scheu ein bißchen, weil es ein gar so vergnügter Nachmittag war und er in Gisela am liebsten die ganze sonnenhelle, himmelblaue Welt umarmt hätte.

Endlich war man müde getanzt und vom Kuchen satt, obwohl Christa von Süßigkeiten nicht leicht genug bekam. Unter Scherzen und Lachen beschloß man die Fortsetzung der kleinen Wanderung. Noch ein Weilchen gingen sie zu Viert; dann war es endlich Christa, die entschlossen Karl bei der Hand faßte und mit ihm davonlief. Bald ließ sie ihn wieder los und forderte ihn zum Wettlauf auf. Sie konnte schnell laufen und schlug Haken. Hinter einem Busch, um den es ein paarmal herumging, rief sie endlich:

„Wenn du mich fängst, kriegst du einen Kuß!“

„Gut“, antwortete Karl, „es gilt.“

Nun setzte die Jagd verschärft ein. Nicht ganz absichtslos entfernte sich Christa dabei immer mehr von dem anderen Paar.

Gisela und Thomas hatten sich erst verdutzt angeblickt, als die beiden anderen davonstoben, dann lachten sie und gingen den Weg langsam weiter. Thomas hätte zu gern Giselas Arm genommen. Aber durfte man denn das so einfach? Würde sie ihn nicht befremdet und erstaunt abwehren? Was eben noch so selbstverständlich und leicht ging, beim Tanz oder im Spiel zu Viert, das wurde ihm jetzt schwer, ja fast unmöglich. Auch Gisela sagte nichts und ging mit ihrem leichten Schritt neben ihm her.

„Hoffentlich verlieren wir die beiden nicht“, entschloß er sich endlich zu sagen.

„Ach nein“, meinte sie lächelnd, ohne den Kopf zu heben.

Wieder gingen sie schweigend nebeneinander her.

Doch da entdeckte sie etwas. Ein stahlblauer Mistkäfer lag auf dem Rücken im sonnenwarmen Sande des Weges und zappelte mit Füßchen und Fühlern. Er konnte augenscheinlich nicht selbständig in die ihm von der Natur bestimmte Lage finden. Sie hockte sich schnell nieder und drehte ihn um.

„Siehst du, mein Kleiner, man muß dir nur ein bißchen helfen“, sagte sie dabei. Thomas hatte sich neben sie gehockt, und beide sahen nun dem Käfer zu, wie er mit würdigem Eifer, als wenn er nie in Not gewesen wäre, dem nahen Grase zustrebte. Lachend sahen sie sich an, und beim Aufstehen wagte er es, ihre Hand zu ergreifen. Er empfand das als eine der größten Mutleistungen, die er je hatte vollbringen müssen und war auf alle Folgen gefaßt. Nur langsam und staunend begriff er, daß sie ihm ihre Hand ohne Widerstand ließ.

So gingen sie nun Hand in Hand den Weg weiter, der von hohen Kiefern angenehm beschattet wurde und von lichten Birken gesäumt war. Immer tiefer erfüllte ihn das Glück, so neben ihr gehen zu dürfen. Wie ein geheimer Strom floß es ihm von dem Mädchen neben ihm entgegen — durch die Hände, an denen sie sich gefaßt hielten. Manchmal wagte er es, sie anzusehen. Sie hielt den Kopf gesenkt, ihr dunkles Haar glänzte mit einem kupfernen Schimmer. Es fiel etwas nach vorn und ließ ihr Profil noch reiner und heller hervortreten.

„Willst du mit mir meine Lieblingswege gehen?“ fragte er nach einer Weile leisen. Sie blickte ihn nur flüchtig an, und er spürte einen kleinen Druck ihrer Hand. Das war ihm wie eine Liebkosung und galt ihm als das schönste Zeichen ihres Einverständnisses. Sie dachten nicht mehr an Christa und Karl — — —

Mutter Frey hatte nur ihr gutes Lächeln, als Thomas viel später als Christa nach Hause kam und sich ungeschickt entschuldigen wollte.

Eine Jugend war das Opfer

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