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7.

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Studienrat Dr. Melk saß in seiner kleinen Studierstube bei der Lampe. Er bewohnte eine einfache Wohnung am Rande der Stadt. Für das Nötigste im Haushalt sorgte eine Witwe aus der Nachbarschaft, Frau Schnelle, die aber nur vormittags, in des Doktors Abwesenheit, wirken durfte. Sie kaufte auch für ihn ein. Mittagbrot aß er im „Goldenen Löwen“, und was er sonst brauchte, machte er sich nun schon lange allein. So lebte er karg und ohne Luxus — ein entsagender Philosoph, abgesehen vielleicht von einer Neigung für konzentrierte Geistigkeit, auch in Form von Getränken. Dennoch hatte ihn nie jemand unbeherrscht gesehen.

Nicht immer hatte Dr. Melk so einsam gelebt. Von seinem früheren Leben wußte man freilich in Brösenheim nur wenig. So frei und offen er sonst über alles Auskunft gab — warum er nach Brösenheim gekommen war, und was vorher geschah, das wußte nur der Oberstudiendirektor Sternhaus in groben Umrissen aus den Akten, worüber er jedoch Stillschweigen bewahrte.

Dr. Melk war als geschiedener Mann vor über zwanzig Jahren aus Berlin nach Brösenheim gekommen. Wer ihn hier sitzen sah, bei vielen Büchern und Schriften, Tabaksqualm um sich blasend und manchmal die widerspenstige graue Mähne mit den feinen schlanken Händen zurückstreichend, im schäbigen Rock, der hätte in ihm nicht den glänzenden Gesellschafter wieder erkannt, der in Berlin an der Seite seiner schönen Frau ein großes Haus geführt hatte. Seine literarischen Abende waren berühmt gewesen, und es hatte als Ehre gegolten, im Hause Melk zu verkehren. Dr. Friedrich Melk war damals eine der jungen Hoffnungen der philosophischen Fakultät an der Universität. Seine Frau war sehr reich und eine gefeierte Sängerin, die nie ganz darauf verzichten konnte, vor dem großen Publikum zu glänzen. Daraus erwuchs dann auch alles Unglück. Kurz bevor er die Professur bekommen sollte, war in wenigen Wochen alles um ihn her zusammengestürzt, und nur langsam hatte er sich aus den Trümmern aufgerafft, um ein neues Leben zu beginnen. Die Umstände, die zu der Trennung von seiner Frau geführt hatten, stellten ihn gesellschaftlich bloß und machten ihn arm. Er verzichtete auf allen Gelehrtenehrgeiz, lebte zunächst einsam und verborgen und nahm endlich ein Anerbieten an, das ihm ein Freund in einem Provinzialschulkollegium verschaffte. Dieses Anerbieten betraf seine jetzige Lehrerstelle am Gymnasium in Brösenheim.

Als ein langsam Genesender fand er sich nicht leicht in die neue Umgebung. Bald aber machte ihm der Schuldienst mehr Freude, als er je für möglich gehalten hatte, und mit der Zeit nahm er auch die eine oder andere eigene Arbeit wieder auf. Von dem Ehrgeiz, in der Wissenschaft einen Namen zu erwerben, wandte er sich ab und verbrauchte seine Kraft ganz im Dienste der Erziehung seiner jungen Schüler und in einsamer, stiller Arbeit, über die er sich höchstens dem Buchhändler Frey gegenüber äußerte, wenn er ein einschlägiges Buch bestellte.

Seinen Schülern wollte er mehr sein als eine unnahbare Lehrkraft. Viele hatten in ihm den väterlichen Freund kennengelernt. Mehr als ein verzweifelter junger Mensch hatte schon in seiner verqualmten Studierstube gesessen. Immer wußte Dr. Melk einen Weg. Oft unterstützte er nicht nur mit Rat, sondern, wo es nötig war und soweit er es selbst konnte, auch materiell. So galt er von Sexta bis Prima als Rettungsanker, und er hatte die rechte Art, einem Schüler keine Bitte schwer werden zu lassen.

Nur eine Leidenschaft hatte er. Das waren Bücher. Was er an Mitteln erübrigen konnte, trug er in die Buchhandlung Frey. Seine kleine Wohnung war eine einzige, erlesene Bibliothek. Die Anordnung der Bände war freilich eine genialische, in der sich niemand zurechtfand außer ihm selbst. Er brauchte nur den Arm auszustrecken und fand mit nachtwandlerischer Sicherheit das Gesuchte, wohingegen er nach den Gegenständen des täglichen Gebrauches oft lange vergeblich fahndete; so nach Tassen, Kragenknöpfen, Hut und Stock. In höchst bösartiger Weise schienen sich diese Dinge immer vor seinen zuerst geistesabwesenden, dann aufmerksamen und schließlich ungehaltenen Nachforschungen zu verkriechen. Daran hatte die säubernde Hand der Witwe Schnelle viel schuld. Deswegen durfte sie nicht in sein Studierzimmer. Wenn etwa jemand versucht hätte, dessen individuelle Ordnung in eine übliche zu verwandeln, der würde damit den Zorn des Doktors erregt haben, wie es mit nichts sonst möglich gewesen wäre. Das scheinbare Chaos war für ihn ein logisch geordneter Kosmos mit eigengesetzlichen Schichtlinien und innerer Systematik.

So hauste er einsam in seinem Reich.

Dieser Abend jedoch sollte ihm noch einen Besuch bringen. Unwillig über die Störung, öffnete er. Kaum aber hatte er erkannt, wer in das Licht der Diele trat, rief er freudig aus:

„Ach, Herr Frey! Ein seltener, aber willkommener Gast. Kommen Sie herein in die Höhle des qualmenden Ungeheuers.“

Melk konnte durchaus leutselig sein und redete manchmal sogar gern, auch mit sich selbst — das eigentlich am liebsten.

„Ich störe Sie“, sagte Frey etwas linkisch, indem er auf den Arbeitstisch wies, „weiß ja selbst, wie ungern man sich da wegholen läßt.“

„Sie stören nie“, erwiderte Melk gemütlich. „Setzen wir uns. Ach so, Moment bitte, ich muß erst den Stapel Zeitschriften hier in die Ecke bringen . . . So, jetzt ist der Stuhl frei. Und nun wollen wir plaudern. Halt, mit Dampf geht es besser; hier — nein, na, wo sind sie denn? Ach so, ja, hier: helle Schlanke aus Hamburg, die mögen Sie doch am liebsten, nicht?“

„Sehr liebenswürdig, Herr Doktor. Danke sehr!“ Frey griff vorsichtig mit den Fingerspitzen in die Kiste und hob mit genießerisch heraufgezogenen Augenbrauen die lange, schmale Zigarre an die Nase. Melk drehte sich zu seinem Arbeitstisch um und nahm von einem riesigen, überfüllten Aschenbecher einen erloschenen Stummel.

„Ich bleibe lieber bei meiner starken Dunklen“, sagte er dabei. „So, und hier haben wir auch einen kräftigen Schluck.“

Er griff in eine Ecke, die von der Stehlampe nicht ganz ausgeleuchtet wurde, und brachte eine Flasche Kognak hervor. Beim Einschenken sprach er dann munter fort:

„Ja, Herr Frey, nun sind die Ferien wieder vorüber. Na, Sie hatten ja sowieso keine.“

„Sie ja wohl auch nicht, Herr Doktor. Wie war er denn, Ihr Lehrgang?“

„Ach, wissen Sie, recht interessant und — — nicht ganz ungefährlich. Es wurde nämlich auch diskutiert. Alles hielt hinter dem Berge, und ich bin ja nun nicht gerade lebensmüde, so daß ich mich auch vorsah und nur in allegorischer Verbrämung so einiges anbrachte. Das hat die meisten Teilnehmer — fast alles junge Dachse — ergötzt, die Veranstalter und Leiter aber gekränkt, was verständlich ist. Sie haben mich vermutlich als für die NS-Religion verloren und als nicht ungefährlich beurteilt. Ja. Aber danach war ich in meinem Ostseekaff. Sie wissen ja, wo ich jedes Jahr hinfahre. Nichts als Sonne, Meer und Sand, frische Luft, freien Blick, mittags Aal blau, abends frisch geräucherte Flundern, manchmal einen Köhm oder einen Grog. Nur schweigsame Menschen, Fischersleute, bei denen ich immer wohne, am Abend eine Pfeife, bei Sonnenuntergang in den Dünen, wenig Bücher, viele Gedanken, manche Erinnerung wohl auch und mancher Wunsch.“

Er strich seine Zigarre am Aschbecher ab. „Tja, man wird nicht frei davon; von den Wünschen, meine ich, die der ewige Jüngling in uns träumt. — Und Sie, Herr Frey? Sind Sie nicht einmal verreist in der Zeit der Geschäftsflaute?“

„Ach, Herr Doktor, dazu reicht es nicht recht, man muß doch für die Kinder sparen. Thomas soll studieren und es besser haben als ich, er soll ganz sorglos sein können. Da wäre ich nun auch bei der Ursache meines Besuches. Wir haben ihm ja so gern die Englandfahrt ermöglicht — auch gegen alle Schwierigkeiten. Er konnte damals nicht mehr Zurücktreten. Nun scheint es uns aber teuer zu stehen zu kommen.“

„Nehmen Sie es nicht zu schwer, Herr Frey. Ich habe schon gehört, er ist aus der HJ ausgestoßen worden. Soll er froh sein, daß er dem Theater fernbleiben kann.“

„Wenn es nur das wäre, Herr Doktor. Aber man gibt sich damit nicht zufrieden. Heute abend war noch Herr Direktor Sternhaus bei mir; zuerst suchte er nur nach einem Buch, aber dann teilte er mir mit, daß der Herr Oberschulrat Thomas Schulgeldermäßigung gestrichen habe. Ferner könne eine Zulassung zur Reifeprüfung nur erfolgen, wenn Thomas inzwischen politisch aktiver würde.“

„Donnerwetter!“ Melk stand erregt auf. „Da steckt natürlich der Landhoff dahinter. Ich sage ja, das ist ein prächtiges Paar, der Nietmann und der Landhoff. Ueberall lobt man ihre Zusammenarbeit als mustergültig für die Erziehungsgemeinschaft Schule—HJ. Ein würdiges Paar! Von denen ist allerdings nichts Gutes zu erwarten. Es wird sogar schwer sein, Thomas unter Hinweis auf seine Begabung herauszupauken.“

„Darauf hat man schon angespielt“, sagte Vater Frey. „Man sehe nur auf Grund seiner besonders guten Leistungen davon ab, ihn sofort von der Schule zu weisen.“

„Und damit müssen wir noch zufrieden sein, Herr Frey, wie die Dinge einmal liegen.

Bliebe die Frage der gestrichenen Schulgeldermäßigung. Sie dürfen das Geld für sein Studium nicht angreifen. Ich weiß, wie bitter es ist, wenn man in diesen freiesten Jahren des Lebens auf jeden Groschen achten muß. Aber wir werden das schon machen. Sie können auf mich rechnen.“

„Nein, nein, Herr Doktor, ich weiß, wie gern Sie helfen. Mehr als Sie eigentlich können. Aber wir haben das schon besprochen. Ich werde achtgeben, daß der Laden mehr abwirft, und Thomas selbst muß den Kirchenrat bitten, seine Organistentätigkeit, die er ja bis jetzt ehrenamtlich ausübte, zu honorieren. Vielleicht geht auch Professor Gehrmann mit dem Preis für den Orgelunterricht etwas herunter. Wir kommen schon durch. Hauptsache ist, man läßt es damit genug sein, und der Junge kann sein Abitur machen. Sonst wäre ja alles vergeblich gewesen.“

„Durch das Abitur werden wir ihn schon kriegen, und wegen später wollen wir uns jetzt keine allzu großen Sorgen machen. Wer weiß, was alles kommt.“

„Ja, wer weiß. Aber auf jeden Fall soll Thomas’ Zukunft gesichert sein, soweit es an mir liegt. Auf eine Begabtenförderung möchte ich jedenfallls nicht vertrauen. Man sieht ja, was Begabung heute wert ist.“

„Nun sind Sie auch verbittert, Herr Frey.“

„Ja, ich kenne mich selbst nicht mehr, Herr Doktor. Seit man den Jungen so behandelt, habe ich einen Zorn auf die ganze Bande. Zuerst wollte ich ein Bittgesuch machen, daß man ihn wieder aufnehme, so schwer es mir gefallen wäre. Aber Thomas wollte nicht, und dann schämte ich mich selber des Gedankens. Nun muß er eben sehen, wie er so durchkommt. Lieber wäre es mir gewesen, er hätte sich gut mit denen gestellt.“

„Lassen wir den Thomas nur selbständig seinen Weg gehen, Herr Frey. Wir Alten können doch nicht mehr tun, als aufpassen, daß er sich nicht allzu sehr verirrt oder durch irgendeinen Unfall am Wege liegenbleibt. Gehen und auch irren muß die Jugend immer selbst.“

Vater Frey nickte sorgenvoll und sog an seiner Zigarre. Dr. Melk kramte unter vielen Schichten von verstreuten Papieren einen Zettel hervor und begann mit dem Buchhändler seine dringendsten Bücherwünsche zu erörtern. Darüber kamen sie in ein langes Gespräch. Der Tabaksqualm wurde dicker, die Flasche leer, auch noch eine zweite, die Dr. Melk aus der offenbar recht ergiebigen dunklen Ecke hervorholte, und erst spät in der Nacht schüttelten sich beide die Hände zum Abschied. Für den einsamen Gelehrten war das Gespräch ein lange entbehrtes Glück gewesen. Frey aber kam entschieden fröhlicher nach Hause, als er gegangen war. Der Schlüssel zur Haustür wollte durchaus nicht passen, und die Treppe zum Obergeschoß glich einer wildbewegten Ziehharmonika.

Eine Jugend war das Opfer

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