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5.

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Der große Tag war da: Ferienbeginn. Wie ein Bienenschwarm waren die Schüler des Gymnasiums davongestürmt, nachdem ihnen die Schulglocke zum letztenmal für fünf Wochen geläutet hatte.

Dr. Melk sah ihnen nach. Oberstudiendirektor Sternhaus trat zu ihm:

„Herr Kollege, lassen Sie uns an diesem schönen Vormittag noch ein halbes Stündchen plaudern.“

„Gern, Herr Direktor.“

Die beiden Lehrer schritten der Allee zu, die von dem Schloß, in dem die Schule untergebracht war, zu dem großen Park hinüberleitete, hinter dem dann die Sportplätze der Schule lagen.

„Ich habe also noch einmal Ihretwegen bei Oberschulrat Nietmann angefragt“, sagte der Direktor. „Gestern traf seine Antwort ein. Sie müssen trotz Ihres Alters und Ihrer anerkannten Fähigkeiten ins Schulungslager. Das Provinzialschulkollegium hat es erneut angeordnet.“

Melk lachte nur: „Wir wissen doch beide, Herr Direktor, daß Nietmanns Wort beim PSK geheiligt ist, weil er die niedrigste Parteibuchnummer all der Herren dort hat.“

„Lieber Kollege“, Sternhaus sah sich ängstlich um, „Sie reden sich bestimmt noch um Ihren Kopf. Ich bitte Sie, seien Sie vorsichtig. Das sage ich einmal aus Freundschaft zu Ihnen und zum anderen aus Egoismus. Ich kann Sie im Kollegium unmöglich entbehren, ohne daß die Frequenz der ganzen Schule sinkt. Und dann machen Sie es auch mir nur schwer auf meinem Posten. Ich habe keinen leichten Stand, wie Sie wissen, weil ich früher einer Partei angehörte, die den Nationalsozialismus bekämpfte. Hätten wir genug Lehrer in Deutschland, wäre ich längst durch einen politisch einwandfreien, sicheren Mann, möglichst durch einen ‚Alten Kämpfer‘, ersetzt worden. Auch so konnte ich mich nur halten, weil ich Pg wurde und SA-Mann.“

„Stört Sie der Dienst nicht?“

„Dieser Dienst ist gar nicht so schlimm. Ich übernahm den Unterricht der SA-Kameraden jeden Sonntagmorgen im Rahmen der vormilitärischen Ausbildung. Es macht mir fast Spaß, den Leuten etwas Schießlehre beizubringen. Im übrigen verzichte ich allerdings gern auf den Außendienst. Das Tam-Tam liegt mir gar nicht, zumal ich in dieser braunen Uniform wirklich unmöglich aussehe. — Sie haben mich ja neulich am 1. Mai in Reih und Glied gesehen“, fügte er hinzu, als er Melks Lächeln bemerkte.

„Hm, Herr Direktor, ich verstehe nur nicht, warum Sie sich zu etwas zwingen, was Ihnen so zuwider ist.“

„Warum? — Lieber Kollege, in welcher Welt leben Sie! Wir sind die Generation der ‚Umwertung aller Werte‘: Drei verschiedene Eide haben wir schon geleistet — auf das Kaiserreich, auf die Republik und auf das Dritte Reich. Es kommt auf einige Metamorphosen mehr oder weniger nicht mehr an. Wichtig ist nur, ob es dem Vaterlande dient — und das ist, wenn nicht aller Augenschein trügt, im Hinblick auf den letzten Eid kaum zu bezweifeln —, und wichtig ist zweitens, ob es mir selbst dient, mir und meiner Familie. Meinen Sie, ich wäre bei einer anderen Einstellung noch im Amt?“

„Wahrscheinlich wären Sie entlassen oder pensioniert worden“, sagte Melk langsam, „aber wäre das wirklich schlimmer, als diese Windfahnenpolitik? — Verzeihen Sie das Beispiel!“

„Ich kann Ihre Wahrheiten vertragen, Melk. Sie wollen sagen: ‚Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?‘ — Sie berühren da einen wunden Punkt, aber sehen Sie, die Verhältnisse sind immer stärker als man selber. Ich war ein lustiger Burschenschaftler als Student, eine Zeit, die ich um keinen Preis missen möchte. Jetzt habe ich drei Jungen auf der Universität, wo leider nicht mehr der alte Geist der Korporationen herrscht, aber doch immer noch eine gewisse Fidelitas, wie sie schreiben und erzählen. Sollen es meine Söhne schlechter haben, als ich es hatte? Nein. Ich schicke ihnen also einen anständigen Wechsel. Dazu will meine älteste Tochter heiraten; meine Frau ist nicht ganz anspruchslos — für alles muß ich aufkommen. Außerdem aber kann ich ohne die Schule nicht froh sein; ich fühle mich wohl in meinem Amt. Soll ich das alles zum Einsturz bringen durch — nun durch Gesinnungstüchtigkeit?“

„Zweifellos eine Frage, vor der wir heute alle stehen“, bestätigte Melk. „Ich in meiner Unabhängigkeit bin kein Maßstab. Aber Pastor Machenberg lebt in dem gleichen Konflikt. Ich bewundere seine redliche Haltung, denn es geht bei ihm nicht nur um Materielles, sondern zugleich um Tod oder Leben seiner Frau. Vielleicht, Herr Direktor, sollten wir uns an dieser Haltung ein Beispiel nehmen; denn wer weiß, ob die Verhältnisse, um deren Bestand willen wir uns heute immer wieder ducken, nicht gerade dadurch, daß wir uns ducken, einer vollständigen Auflösung und Zerstörung zugetrieben werden? Ich will mich deutlicher ausdrücken: Im heutigen Deutschland erleben wir viel, wogegen sich jedes anständige Gefühl empört. Dennoch schweigen wir, ja stellen uns noch dazu in die Reihen der Heilrufer, damit die Wut der Gewaltherrschaft sich nicht über unserem Haupte entlade. Wir glauben es unserer Familie schuldig zu sein, wir wollen ihr ein Wohlergehen erhalten, das wir uns nur in den alten, liebgewordenen Verhältnissen vorstellen können. Wir hängen an geliebten Menschen, an der Heimat, an Kunst und Wissenschaft — alles das wollen wir uns erhalten. Wir erreichen das im Augenblick, indem wir uns fügen. Aber könnte nicht vielleicht gerade dadurch eine viel umfassendere Vernichtung eben dieser geliebten Menschen, der Heimat, der schönen und nützlichen Dinge, der Kunst, der Wissenschaft herbeigeführt werden?“

Sternhaus hörte aufmerksam zu und vergaß sogar das Umherspähen. Er räusperte sich.

„Wenn ich Sie recht verstehe, meinen Sie, daß das Regime, unter dem wir uns jetzt ducken, uns dem Verderben zusteuert. Also einem Krieg? Und zwar einem unglücklichen Krieg?“

„Kriege sind immer unglücklich“, sagte Dr. Melk. „Das weiß ich, seit ich einen mitgemacht habe. Sie sind auch für den Sieger kein Glück, oder doch ein teuer erkauftes, ein zu teuer erkauftes.“

„Das zu beurteilen steht Ihnen als Historiker eher zu als mir, dem Naturwissenschaftler. Aber sonst sehe ich nicht so schwarz wie Sie. Es stecken einige gesunde Absichten in der neuen Entwicklung. Als alter Burschenschaftler kann ich zum Beispiel nur bejahen, daß endlich verwirklicht wird, was die Sehnsucht vieler Jahrhunderte war: Alle Deutschen in einem Staate zu vereinigen. Auch daß man der Raumnot endlich Herr werden will, ist einfach das Gebot der Stunde. Wir sind ja wohl unbestreitbar ein Volk ohne Raum.“

„Aber nicht das einzige! In dieser Not sind die meisten Völker des alten Europa. Sie ist eine Hauptursache aller sozialen, wirtschaftlichen und sogar seelischem Leiden der modernen Welt. Freilich ist sie bei uns besonders akut, aber es kann nicht gut gehen, wenn ein Volk diese Not mit Radau und Rücksichtslosigkeit blitzschnell und nur für sich allein beseitigen will, also durch einen Eroberungskrieg.“

„Hielten Sie das für so verwerflich? Alles Leben ist Raub. Sie müssen es mir als Biologen zugestehen, daß ich den Kampf ums Dasein mit allen Mitteln auch in der Menschengeschichte als beherrschendes Prinzip ansehe.“

Melk blieb stehen: „Hier sind wir bei einer Kernfrage angelangt.“

Die Allee war zu Ende, und sie gingen wieder zum Schloß zurück. Dr. Melk fuhr fort:

„Wenn Sie den Menschen biologisch begreifen, müssen Sie jede Sittlichkeit als Schwäche, als lebensbeeinträchtigenden Irrtum verwerfen, denn wenn bloß Naturtriebe ihn leiten, kann man von ihm keinerlei Einschränkung seines Egoismusʼ verlangen, worauf alle Ethik beruht. Humanität müssen Sie dann als nutzlose Gefühlsduselei ablehnen.“

„Sie führen mir meine Worte in extremer Konsequenz vor. Ich will das gleiche tun: Lehnen Sie den Kampf ums Dasein als Grundprinzip für das Handeln auch des Menschen ab, dann müssen Sie zu den Indern gehen, dürfen kein Tier mehr töten, um es aufzuessen, ja, Sie müssen sich wie ein Fakir dem Hungertode weihen, weil Sie ja auch in der Pflanzenkost Lebendiges verzehren.“

Melk lächelte: „Das kommt Ihnen absurd vor; mir auch, denn wir haben nun einmal einen zu starken Willen, um ihn in uns selbst verneinen zu können. Wir sind keine Inder. Aber wir wollen uns hüten, nur unsere Art allein als ‚gottgefällig‘ anzusehen.“

„Mit dem konsequenten Denken wären wir also zu unvereinbaren Endpunkten gelangt.“

„Ja, es ist hier wie immer nichts mit der Konsequenz. Leben ist nicht Mathematik, es läßt sich nicht ausrechnen.“

„Also schreiten wir zum Kompromiß. Ich gebe zu, daß der Kampf ums Dasein beim Menschen sich nicht in den einfachen Formen abspielt, die wir in der Natur sehen und gern als grausam bezeichnen oder als bloß zweckmäßig abtun. Der Mensch macht es komplizierter und raffinierter. Dabei mag dann auch manches Hübsche abfallen, was wir meinten, wenn wir von Kultur sprechen.“

„Ich weiß nicht, ob die Ironie der rechte Ton ist, Herr Direktor, wenn es sich um Dinge handelt, die uns heilig sein müssen, wollen wir nicht an allem Geistigen verzweifeln; mit anderen Worten: an unserem Menschentum. Es gibt ein Höheres in uns. Wir dürfen es nur nicht selbst ersticken, zertreten, verspotten, verachten. Unsere Aufgabe ist nicht Selbsterhaltung und Fortpflanzung allein. Dafür hätten wir nicht alles dessen bedurft, was uns von der Natur unterscheidet: Selbstbewußtsein, Vernunft, Sprache, eigenschöpferische Gestaltungskraft. Der Mensch ist anders als die Natur. Das eben befähigt ihn zur Humanität.“

„Und zu einer Bösartigkeit, mit der er jedes andere Wesen in der Natur bei weitem übertrifft.“

„Nicht nur übertrifft; allein der Mensch kann überhaupt bösartig sein, weil allein er Gut und Böse unterscheidet. Darum ist er ohne eine bindende Ethik das unglücklichste aller Geschöpfe, mit ihr aber — sie äußere sich als Religion oder Phisolophie — das reichste, reicher als die Natur, um alles das nämlich reicher, was wir Kultur nennen.“

„Ein Reichtum, der mir immer fragwürdig erschien.“

„Er ist es heute mehr denn je durch das Fehlen einer Ethik, denn man sollte sich hüten, die Züchtung eines geblähten Patriotismus für ethisch zu halten. In Wahrheit erweitert man damit nur den individuellen Egoismus zu einem kollektiven: Der Mensch wird zum Herdentier. Die Vermassung aber nimmt dem einzelnen die Verantwortung als sittliche Persönlichkeit, also sein Gewissen, und seine restlichen Anwandlungen von Humanität schaltet man aus, indem man an seinen Idealismus für höhere, das heißt machtpolitische, patriotische Zwecke appelliert. Als Menschenmaterial wird er in der großen Maschinerie des Staates verbraucht.“

„Ein düsteres Bild! So ganz unrecht haben Sie leider nicht; aber so sehr ich im grundsätzlichen, wo Sie Idealist sind, skeptisch urteile, sowenig zweifle ich doch im einzelnen daran, daß alles irgendwie richtig, weil notwendig, geschieht. Deshalb bleibe ich auch lieber bei Realitäten und philosophiere nicht gern. Man wird nur mißmutig davon.“

Sie waren bei dem kleinen Springbrunnen angekommen. Melk, die Hände auf dem Rücken, blickte nachdenklich auf das silbern zerrieselnde Tropfenspiel. Sternhaus sah ihn von der Seite an und brach das kurze Schweigen:

„Es tut mir aufrichtig leid, daß gerade Sie es sind, Herr Kollege, den man zu diesem blödsinnigen Schulungskurs befiehlt. Aber ich sagte Ihnen ja, ich . . .“

„Sie brauchen nichts zu befürchten“, winkte Melk ab. „Ich gehe hin und lasse mir zeigen, wie man die neue Jugend erziehen muß, und schweige, wo es angebracht ist.

Man sollte auswandern oder sich wenigstens zur Ruhe setzen. Aber dafür hänge ich zu sehr an den Jungen, an unserem Beruf — geradezu närrisch hänge ich daran. Und manches Gute kann man vielleicht doch noch stiften. Gerade jetzt. Den einen oder anderen bringt man doch zum Nachdenken, und damit ist schon viel erreicht. Das Nachdenken muß sich ganz von selbst gegen dieses Regime wenden. Man braucht fast gar nicht mehr zu tun, als dazu anzuregen. Sehen Sie doch die Grundsätze, nach denen wir die Jugend erziehen sollen. Nicht zuletzt zielt alles darauf ab, den Jungen und Mädchen keine Zeit zu lassen, sich Gedanken zu machen, ob denn auch alles, was man ihnen empfiehlt — und das heißt ja heute stets so viel wie befiehlt —, ob alles das auch recht und gut ist. Probleme gibt es für diese Jugend nicht mehr. Nur Lösungen, die in ehernen Lettern in den Schulungsheften zu lesen sind und geglaubt werden müssen, Parolen, Führerworte. Schon der Zehnjährige wird in eine Uniform gesteckt. Man mag beim Wandervogel und bei den Pfadfindern noch so viel an Fahrtengeist und freier Wanderlust entlehnen wollen — das Grundelement der HJ ist die vormilitärische Ausbildung. Drill und Dressur sollen im Kinde schon den Soldaten wecken. Daß die Seele dabei verlorengeht, der Geist unausgebildet bleibt — wer fragt danach? Das Ziel ist eindeutig: Sparta und nicht Athen. Oder wenn wir in Deutschland bleiben wollen: Potsdam und nicht Weimar.“

„Aber offenbar ist es im Sinne der heranwachsenden Generation. Die Jungen und Mädchen sind begeistert bei der Sache.“

„Die Mehrzahl gewiß. Jugend ist immer leicht zu begeistern, ist leicht entflammt für Dinge, die nach Abenteuer und Ferne schmecken, also für Krieg und Kriegesruhm. Jugend will im Dienst einer großen Idee stehen. Es ist die Schuld unserer Generation, Herr Direktor, daß wir ihr keine wahrhaft große, humane Idee aufrichteten. Nun läuft sie in blindem Eifer der erstbesten Fahne nach, deren Träger so klug waren, die Jugend aufzurufen.“

„Ja, ja. Außerdem steht der junge Mensch immer in einer ganz natürlichen Opposition zu Schule und Elternhaus, und gerade die vitaleren Typen sehen in der HJ eine vortreffliche Basis, dieser Opposition den Anschein nationalpolitischer Wichtigkeit zu geben.“

„Und sie haben in ihrer HJ ja auch eine reale Macht. Eltern und Arbeitgeber, ebenso wie die Lehrerschaft, verlieren immer das Rennen, wenn sie sich mit der HJ einlassen.“

Sternhaus sah sich wieder ängstlich um und zog etwas hastig die Uhr: „Wir haben uns ganz schön verplauderte. Meine Frau wird schon mit dem Essen warten.“

„Ja, es wird Zeit, daß wir einander frohe Ferien wünschen“, sagte Melk. „Doch ich hätte es beinahe vergessen — da ist noch eine halb dienstliche Sache. Was machen wir mit Frey? Er will auf eigene Faust nach England fahren, nachdem ihn die HJ nicht zum Schüleraustausch zugelassen hat. Man sollte ihm wohl abraten; es gibt bestimmt Aerger.“

„Ich weiß davon“, bestätigte Sternhaus, „und habe ihn natürlich darauf aufmerksam gemacht, daß er sich dadurch den Zorn seines HJ-Gebietsführers Landhoff zuziehe, von dem das Verbot ausgeht. Andererseits ist es natürlich gut für ihn, wenn er die Reise macht — rein bildungsmäßig. Er will ja zu diesem englischen Musikprofessor — wie hieß er doch gleich?“

„Professor Johnson meinen Sie, einer der bedeutendsten Musikpädagogen Großbritanniens, der mit unserem Orgelprofessor Gehrmann in Hellwedel befreundet ist. Gehrmann hat Frey als begabten Schüler empfohlen, und Johnson hat ihn darauf für die Ferien eingeladen. Damit es unkostenmäßig ermöglicht werden kann, nimmt Gehrmann dann seinerseits einen jungen Engländer auf. Also ein Schüleraustausch privat.“

„Ja, so schilderte es Frey mir auch. Ich bin überzeugt, daß er sich nicht abhalten läßt zu fahren. Nun, als Studienreise ist ja eigentlich nichts dagegen einzuwenden.“

„Wir wollen das beste hoffen, aber wenn ich an das treffliche Duo Landhoff-Nietmann denke, bin ich bedenklich. — Nun aber möchte ich mich verabschieden, Herr Direktor, um mich langsam ‚geistig und moralisch‘, wie es jetzt immer so schön heißt, auf meinen Lehrgang vorzubereiten. Ich will doch nun endlich lernen, wie man Jugend anfaßt.“

Eine Jugend war das Opfer

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