Читать книгу Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor - Thilo Koch - Страница 11
DIE GUTE ALTE ZEIT
ОглавлениеIn den älteren Straßen des Stadtteils Grunewald wurde mir gestern klar, daß unsere Zeit so schlecht nicht ist wie ihr Ruf. Es wurde mir klar vor diesen Gründerzeit-Villen. Jedes Fenster ist eine kleine Bühne mit eingerolltem Gipsvorhang über und neben dem Fensterrahmen; die Eingangstür ist die Stirnseite eines Tempels; das verwinkelte Dach sieht aus wie ein Miniatur-Nürnberg, und obenauf ist ein Luginsland, ein Türmchen mit Wetterfahne. Das Ganze ist schmalbrüstig und immer zu hoch; man fragt sich vergeblich, wo in diesen Baukästen einer kranken Phantasie eigentlich jemand wohnen soll und welche Art Lebewesen es wohl sein könnten, die in diesen steinernen Disharmonien atmen mögen. Nun, solche Häuser entstanden, als man die »Molkerei-Gotik«, das »Büro-Barock« und die »Bahnhofs-Renaissance« erfand. Ein eiserner Träger durfte nicht aussehen wie ein eiserner Träger, er wurde der korinthischen Säule nachgebildet.
Spaziert man von Grunewald nach Dahlem, kommt man durch Straßen mit modernen Häusern. Die sind niedrig, einfach, liegen möglichst zurückgezogen von der Straße, haben große Fenster; wenn sie schmuck sind, sind sie es durch die Ausgewogenheit der Maße, durch werkgerechte Gediegenheit, indem der Baumeister den natürlichen Ausdruck des Materials zur Geltung kommen läßt. Ein tragender Balken wird nicht mehr unter Stuck versteckt; sichtbar und schön gebeizt beweist er ein Grundgesetz der Ästhetik: daß das Notwendige immer zugleich auch schön ist. Diese Häuser sind Wohnungen für Menschen, sonst nichts; ein vernünftig zugeschnittenes WohnKleid, einfach und praktisch gearbeitet. Türen sind nicht höher, als die menschliche Gestalt sie fordert; auf Dekorationen, leeren Effekt wird verzichtet.
War »die gute alte Zeit« eine gute Zeit? Viele möchten in ihr gelebt haben. Ich weiß nicht recht. Eins allerdings weiß ich seit gestern sicher: in ihr gewohnt haben möchte ich nicht.