Читать книгу Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor - Thilo Koch - Страница 6
WAR DÄDALUS EIN BERLINER?
Оглавление»Ein neuer Dädalus«, so stand unter einem Foto, das diese Woche in Berliner Zeitungen zu sehen war. Auf dem Bild balanciert ein seltsam in Leder gekleideter Herr auf seinen Schultern einen Flugapparat. Er stürmt auf federnden Ballen einen Abhang hinunter; adlergleiche Schwingen sind ausgebreitet – aber die Unterschrift belehrt uns, daß auch dieser neueste Dädalus bisher immer wieder scheiterte: seine Versuche, sich aus eigener Kraft, vogelgleich, von der Erde zu erheben, blieben Versuche.
In diesem Berliner Dädalus könnte man, wenn man will, eine Allegorie sehen für die Tragikomik der ganzen Stadt Berlin. Es gibt heute zwei- und dreistöckige Flugmaschinen, die Ozeane überqueren, während die Passagiere an einer Bar sich bequem über Fortschritt und Geschäft unterhalten können: unser Berliner Dädalus dagegen möchte sich autark sehen, unabhängig von den Segnungen einer Zivilisation, die für ihn hinter einem Vorhang versteckt ist.
So begann man während der Blockadezeit im Westberliner Stadtgebiet nach Kohle zu schürfen. Ein Miniaturbergwerk inmitten einer Weltstadt, das hätte wohl nie rentabel werden können. Aber die absurde Lage Berlins gebiert absurde Ideen; die Tragik dieser Situation tritt oft recht komisch in Erscheinung. Die Einwohner einer lange belagerten Stadt entwickeln zweifellos seltsame Eigenschaften.
Es ist für normale Leute von draußen manchmal schwierig, sich mit den Belagerten zu verständigen. Soll man über deren Komplexe sich amüsieren oder ärgern? Der an die enge Erde gefesselte Mensch verfertigt aus Schrauben und Schnallen, Stangen und Hebeln eine zerbrechliche Maschine, mit der er ins Weite, Freie, Offene zu entfliehen hofft. Es gelingt ihm nicht, immer und immer wieder nicht – er bastelt trotzdem weiter. Wir wollen hoffen, daß wir mindestens so lange noch herzhaft lachen können über unseren Dädalus-Komplex, bis wir ihn nicht mehr nötig haben.