Читать книгу Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor - Thilo Koch - Страница 8
DAS LIED IN ALLEN DINGEN
ОглавлениеEin Kessel pfeift, das Kaffeewasser nebenan ist fertig. Man dreht sich noch einmal um, halbe Stunde Zeit. Ein Volkswagen startet. Wird er wie immer gleich aus dem Anlasser losfahren? Da ist er schon weg. Und nun läuft oben auch das Badewasser ein. Gleich wird der Milchwagen bimmeln. Das Radio unten bringt Frühnachrichten.
»Es schläft ein Lied in allen Dingen . . .« Ein dissonantes Lied, das unseren Morgen begleitet. Aber wenn man nicht gerade sehr müde oder schlecht gelaunt ist, haben all diese vertrauten Geräusche der Umwelt doch auch etwas eigentümlich Beruhigendes. Aus Schlaf und Traum erst langsam zu heller Wirklichkeit aufsteigend, stellt sich das Gleichgewicht des wachen Lebens mit Hilfe dieses geheimen Liedes in den Dingen wieder her. Es hat alles seine Ordnung, sagen sie uns. Sie sagen es manchmal mißtönend, und doch können wir uns an sie halten, tun es auch ganz unbewußt. Die Katastrophenzeiten stecken uns allen noch so in den Knochen, daß wir das Gleichmaß des Alltags genießen können.
Wie vom nächsten Kirchturm die Glocke herüberklingt am Abend, das Tropfen des Regenwassers im Abflußrohr der Dachrinne, die knarrende Haustür, das Klingeln einer Straßenbahn von der Kreuzung drüben, abgerissene Klänge eines Violinenkonzertes aus dem Radio der Leute gegenüber, der Schrei des Käuzchens von der hohen Kiefer hinter dem Haus, der Schritt auf der Treppe, dann das Klirren eines Schlüsselbundes – all die unzähligen Geräusche des Abends, die wir beim Zeitunglesen vernehmen, ohne es recht zu bemerken, oder vorm Einschlafen, sie sind – wie die pünktlichen Regungen des Morgens – kleine Tropfen, die den Strom des Tages machen, der uns dahinträgt, aus dem Schlaf in den Schlaf.
Auf geheimnisvolle Weise leiten uns all diese kleinen Signale, die ihren eigenen Zweck haben mögen und die wir doch – wie alles, was uns begegnet – auf uns sehr persönlich beziehen. Sie helfen bilden, was man Atmosphäre nennt oder Stimmung. Wo die Zeitung immer einmal wieder das unmittelbar Bedrohliche in fetten schwarzen Schlagzeilen auf den Frühstückstisch bringt – dort schätzt man die kleinen, bewahrenden Selbstverständlichkeiten, das Lied in allen Dingen, mag es auch monoton, profan und eigentlich gar nicht schön sein. Das sogenannte Entscheidende ist immer unsicher; so suchen wir manchmal Sicherheit in naheliegenden Banalitäten, weil sie vertraut sind.