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DER ROMAN BERLIN

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In einer schweizerischen Zeitung las ich einen Artikel über Berlin. Der wohlmeinende Autor schrieb: Berlin – das ist ein Fortsetzungsroman mit zu vielen Fortsetzungen. Er will mit dieser hübschen Formulierung wohl sagen, die merkwürdige Sonderstellung Berlins nach dem Kriege sei ein zu altes, abgedroschenes Thema, werde allmählich langweilig für den Betrachter von draußen.

Wenn der Schweizer Journalist recht hätte, wäre es das beste, man stellte den Fortsetzungsabdruck ein, man schriebe diesen Roman »Berlin« nicht weiter. Das liegt aber nicht in unserer Macht; denn diesen Roman schreibt die große Politik, und die ehemaligen Alliierten sind seine Verleger. Die andere Möglichkeit wäre, man macht die kommenden Fortsetzungen wieder interessanter, wenn denn schon der weitere Abdruck nicht unterlassen werden kann. Aber was heißt hier interessant! Von Sensationen wie der Blockade stand genug in dem Roman »Berlin«. Angenehme Sensationen aber, scheint es, hat dieses seltsame Buch nicht zu bieten, von einem happy-end ganz zu schweigen, wenigstens vorläufig.

Wie wäre es also, wenn man die Vorstellung, Berlin sei ein Roman, ganz aufgäbe? Wenn man es als ein Stück Wirklichkeit unserer Welt nähme? Als einen Modellfall, ein Stück, wo im kleinen die zwangsläufigen Folgen der gegenwärtigen Machtkonstellation zu überblicken sind, nicht aber als eine Sage, ein nicht mehr spannendes Buch, das man aus der Hand legen kann? Wir wünschten uns, daß alles, was wir aus Berlin heraus sagen, verstanden werde als Nachricht von einem Geschehen, das alle betrifft, auch wenn das nicht sofort spürbar wird.

»Brücke der Einheit« steht in großen, schmutzig-weißen Buchstaben auf einem eisernen Querträger der grau-schwarzen Glienicker Brücke, die über die Havel hinweg den südwestlichsten Zipfel von Berlin mit Potsdam verbindet. Verbindet? »Au milieu du pont vous quittez le secteur américain«; »You are leaving the American sector in the middle of the bridge«; dann dasselbe in kyrillischen Buchstaben und klein darunter deutsch: »Auf der Mitte der Brücke verlassen Sie Westberlin«. Neben der rot-weißen Barriere steht der Westberliner Schupo. Aus der hölzernen Wachbaracke lehnt ziviler ein Zollbeamter in grasgrünem Rock. Ein Dutzend Autos parken auf der Königstraße, deren südlicher Bürgersteig schon sowjetische Zone ist. Vespas knattern, und drei blasse Jungen auf neuen Fahrrädern fragen den Zollbeamten, ob sie mal rüberfahren können. »Müßt ihr doch wissen, Jungs, Westberliner können nur mit Passierschein in die Zone.« »Den kricht ja keena!« »Eben!« sagt der Beamte. Die Jungen schieben ihre bewimpelten Räder zur Pfaueninsel-Chaussee, gehen am Jungfernsee entlang, rechts der schönste Park von Berlin, der Schloßpark von Klein-Glienicke, angelegt unter Humboldt, mit dem Schlößchen, an dem Schinkel gebaut hat; links das klarblaue Wasser des Sees, gegenüber Sakrow.

Jetzt kommt ein Vater mit zwei kleinen Kindern von drüben, Spaziergänger. »Lassen sie heute durch?« wird er gefragt. »Nich alle. Wie se jrade Lust haben.« Er berlinert genauso, der Mann von drüben, aus Potsdam, wie die Westberliner, die ihn fragen. Sie sehen’s nicht gern, die Vopos am anderen Schlagbaum, daß jemand nach Westberlin hinüberspaziert. Aber viele kommen doch, zumeist mit Rädern, Jugendliche vor allem.

Wochentags fahren sie einkaufen, sonntags gucken. Es ist kein reines Vergnügen für sie; man kennt sie heraus mit ihren zerknitterten Anzügen, schlechten Schuhen, den weiten Hosen und eckigen Schultern; verstohlen sieht man ihnen nach; mag’s auch mitleidig sein – sie fühlen sich fremd im eigenen Land, isoliert, wunderlich, ausgeschlossen.

Ein böser Witz: »Brücke der Einheit«. Aber das genau ist ihr Sprachgebrauch. Sie »kämpfen für den Frieden«, die Männer in den olivgrünen Uniformen und Tellermützen dort drüben am anderen Ende der »Einheitsbrücke«. Die rote Fahne am Brückenausgang drüben ist ausgeblichen. Symbolisiert ja auch schon zehn Jahre diese Art von »Einheit«.

Ist Berlin noch geistiges Zentrum? Mit dieser Fragestellung und Infragestellung beschäftigte sich eine öffentliche Diskussion in unserer Stadt. Das ist gut so. Man macht sich nicht gern etwas vor in Berlin. Niemand kann ja auch übersehen, daß wir an geistiger Blutarmut leiden.

Es ist kein Wunder.

1928 schrieb Gottfried Benn seinen Essay »Saison« und dazu: »– das war Berlin, aufblühend, halb Chicago und halb Paris, korrupt und faszinierend.« Damit kennzeichnet er die berühmten zwanziger Jahre mit »Romanischem Café« und Siemens-Aufschwung, Hotel Excelsior und dem Kabarett »Katakombe«.

Fünf Jahre später begann die Flucht oder Ausschaltung der Juden; Berlin verlor eines seiner Lebenselemente, einen seiner wesentlichen Charakterzüge. Dann kam Krieg und sogenannte Evakuierung. Wieder ging auch viel Intelligenz davon. Und schließlich kam »45« – »Finale Berlin«.

Nun, wir wissen inzwischen, daß das Finale einer Stadt nicht so pünktlich und abschließend kommt wie das Finale in einem Konzert. Aber drei Gewalten lassen sich nennen, die hinter Berlin das Fragezeichen angebracht haben, das wir heute ehrlicherweise selbst hinter unsere Stadt schreiben, wenn wir es auch vor Zugereisten noch so flott zu verbergen trachten: es waren der Antisemitismus und die allgemeine Intoleranz der Nationalsozialisten; es waren, in Konsequenz der Kriegspolitik Hitlers, die amerikanischen und englischen Bomben; und es war die sowjetrussische Besatzung.

Ein dreifacher Aderlaß – es gehört schon eine gute Portion Vitalität dazu, daran nicht zu verbluten. Berlin hat diese Vitalität bewiesen. Trotz allem geschieht noch einiges hier. Sachverständige behaupten, Berlins Theater sei zwar nicht mehr auf alter Höhe, aber es sei noch immer das beste in Deutschland. Nur in Berlin kann man den internationalen Film sehen, weil alle vier Mächte hier nicht nur recht und schlecht regieren, sondern auch kulturell paradieren. Noch immer ist Berlin das größte deutsche Forschungszentrum; noch immer verfügt es über Kunstschätze und Bibliotheken von Weltrang.

In Berlin arbeiten fünf Rundfunksender neben- und teilweise gegeneinander, anderthalb Dutzend der verschiedensten Zeitungen erscheinen täglich. Selbst das literarische Kabarett ist wieder flott; und sogar einige Verlage gibt es noch in Berlin. Besonders interessant aber wird die ehemalige Reichshauptstadt natürlich durch ihre Spaltung, dadurch, daß sie einerseits die anerkannte und gehätschelte Hauptstadt des russisch besetzten Deutschland ist und zum anderen, in Gestalt von West-Berlin, der lebendigste Protest des Westens inmitten der rücksichtslosen Sowjetisierung Mitteldeutschlands.

West-Berlin ist zur Zeit gewiß »nach der Saison«, Capri im Januar. Der Strand verwaist und beschädigt, prominente Kurgäste längst abgereist. Auf den Promenaden füttern Ureinwohner mißmutige Vögel, machen sich Gedanken um den Geist ihrer Insel. Es ist das Beste, was sie augenblicklich tun können; denn zu den Tugenden, die Berlin dem deutschen Nationalcharakter beigesteuert hat, gehörte immer die Selbstkritik.

Verändert sich die Erdoberfläche durch Katastrophen, Vulkanausbrüche, oder wandelt sich alles allmählich, unmerklich fast für ein menschliches Auge, durch die langsamen, aber mächtigen Kräfte von Wasser und Wind? Diese alte Streitfrage der Geologie kam mir in den Sinn, als ich vorgestern abend von einer kurzen Reise durch die nördliche Bundesrepublik zurückkehrte.

Das »flache Land« – sagen wir, eine ostfriesische Kleinstadt – scheint ein Beweis für die Theorie der unmerklichen, sanften Veränderung, wenn wir einmal die Gesetze der Erdgeschichte auf die Menschengeschichte anwenden wollen. Zwischen einer Reproduktion des Hasen von Dürer und einem Kachelofen mit der Jahreszahl 1910 trinkt man sein »Köppke Tee mit Klunche« wie eh und je. Vor dem Fenster die grünen Koppeln und am Horizont die charaktervolle Silhouette der hohen friesischen Windmühle, fest gegründet auf rundem Steinsockel. Lediglich einige Nissenhütten oder Baracken am Stadtrand zeigen den Einbruch eines fremden Elementes an. Der Ostflüchtling ist als Treibholz der Geschichte am Strande zurückgeblieben, als die große Welle des Krieges sich überschlagen hatte und das Wasser langsam zurückfloß. Aber viele dieser gestrandeten Opfer haben sich überraschend schnell eingerichtet und trinken den landesüblichen Tee schon ganz wie Alteingesessene. Gewisse alltägliche Zeremonien haben ein unglaubliches Beharrungsvermögen.

Gilt das überall und immer? Gilt das auch für den Osten? Der unter russischer Besatzung lebende Teil Deutschlands scheint die andere geologische Theorie, die der gewaltsamen Veränderung, zu bestätigen. Hier glich das Kriegsende einem Vulkanausbruch, der eine total veränderte Landschaft zurückließ. Hier zersprangen die gesellschaftlichen Formen, und der Lavastrom fließt immer weiter; noch immer werden Profile eingeschmolzen, umgeglüht. Berlin ist das Observatorium, von dem aus dieser Prozeß registriert werden kann. Es ist der Ort, dessen Bewohner sich im Osten wie auch im Westen ein wenig fremd vorkommen; denn sie haben zu gegenwärtig die alles sprengende Macht vulkanischer Geschichtskräfte, um an die Unerschütterlichkeit des sanften Gesetzes der lieben Gewohnheit glauben zu können. Sie notieren aber andererseits – und dies ist vielleicht verwunderlicher noch – das Katastrophengebraus mit einer gewissen Gelassenheit; denn sie wissen, daß plötzliche Einbrüche und gewaltsame Verschiebungen oft nur scheinbar grundstürzend wirken, nur die Oberfläche wandeln, nicht das Wesen.

Leute vom Observatorium Berlin, mit einem Wort, halten alles für möglich, aber das Notwendige für wahrscheinlich; denn wenn die Dinge nicht doch am Ende immer nach einem gewissen Gleichgewicht strebten, hätte diese Stadt an der abschüssigen Grenze zwischen frischgefurchtem Lavafeld und altgeglättetem Strand längst entweder einer falschverstandenen Revolution oder einer falschverstandenen Restauration verfallen müssen.

Tatsächlich erhält sich Berlin in der Schwebe einer abwartenden Improvisation.

Es fällt dem Berliner schwer, einzusehen, daß er vorläufig keine Hauptrolle spielt, daß er durch den Ausgang des Krieges zwischen den Fronten hängengeblieben ist und nun gleichsam abseits von der Geschichte eine Zuschauerrolle übernehmen mußte. Aber noch immer ist man in dieser Stadt realistisch. Das Leben geht weiter, und mit größter Selbstverständlichkeit richtet man sich nach diesem ebenso banalen wie unwiderleglichen Wort. Geht es nicht gut, so geht es doch, besonders wenn man weiß, daß es nicht besser gehen kann.

Potsdamer Ecke Bülowstraße: grünes Licht. Ein Taxi will anfahren, aber ein anderer Wagen mit einer jungen Dame am Steuer steht im Wege. Es ist grünes Licht, und die junge Dame fährt und fährt nicht an. Da beugt sich der Taxi-Chauffeur aus dem Fenster und ruft ihr zu: »Nu fahrn Se man, Frollein, jrüner wird’s nich!«

Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor

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