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ZWEITGRÖSSTE STADT EUROPAS

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Die Bevölkerung eines Staates, auch einer Stadt, gleicht einer Pyramide. Berlin ist heute eine Pyramide ohne Spitze. Der breite Sockel, der Unterbau blieb – bis weit über die Mitte hinauf. Die Spitze brach und bröckelte ab. Früher einmal saßen die Direktionen der größeren Unternehmen selbstverständlich in Berlin – heute unterhält man hier noch eine Generalvertretung. Früher erschienen die meisten und die besten Zeitungen in Berlin – heute: weder noch. Früher saß der deutsche Film in Berlin, das Zentrum des deutschen Rundfunks. Früher, überflüssig es zu erwähnen, fand der deutsche Staat in Berlin seinen repräsentativen und tatsächlichen Ausdruck.

Alles das war früher. Die großen Filmregisseure und Presseleute, die Industriellen, Minister, Gesandten, Professoren – sie alle gingen irgendwohin in die Bundesrepublik. Berlin hörte mit ihrem Abzug auf, eine Haupt- und Weltstadt zu sein, ohne daß irgendwoanders in Deutschland eine neue Haupt- und Weltstadt auch nur im Ansatz entstanden wäre. Aber was immer noch da ist in Berlin, erstaunlich unverletzt und ziemlich gleichmütig, immer noch da ist, das sind »die Berliner«, das ist das Volk dieser Stadt, die große Mehrzahl, das Heer der Verkäuferinnen und Metallarbeiter, der Sekretärinnen und Schaffner und Kellner.

Man braucht sich nur an einen U-Bahn-Ausgang zu stellen, nachmittags zwischen vier und sechs, wenn man heute Berlin finden will. Da kommen sie die Treppen herauf, es ist der alte Schlag. Müde, manchmal ungeduldige, auch vergrämte und törichte Gesichter darunter; aber alles in allem doch ein besonderer Schick und Schmiß der Frauen, eine besonders fixe, schnoddrig-umgängliche Art der Männer. Menschen, die zum mindesten eines nicht sind: provinziell, das heißt eng, ein bißchen zurück.

Überall sonst im heutigen restlichen Deutschland spürt man, besonders in Bonn natürlich: hier sind Spitzen-Splitter, und das Volk dazu fehlt. Im heutigen Berlin aber ist es umgekehrt: das Volk ist da, aber die Spitze wanderte ab und zerstreute sich in alle Winde. Deutschland ohne geistiges Zentrum.

Auf dem Wege hinaus in meinen Vorort komme ich durch eine Straße, die sieht genau so aus wie jede Hauptstraße einer ostelbischen Kleinstadt. Schmalbrüstige Kleinbürgerhäuser der Jahrhundertwende mit echt imitierten Barock- oder Renaissancefenstern, aus denen zum Feierabend die Gattinnen der Handwerksmeister und Beamten in ihren Kittelschürzen herauslehnen. Unten Geschäfte, zum Teil mit modernen Schaufenstern, etwas hervorstechend aus den Fassaden die Front des »Deutschen Hauses« mit dem Saal, der später in ein notdürftiges Kino umgebaut wurde. Wo sich die Straße zum Platz weitet, die kleine Dorfkirche, noch aus der frühesten Zeit der Ortschaft, inmitten die alte Linde, die eine erstaunliche Wandlung um sich herum schon hundert Jahre gelassen mit ansieht. Aus märkischen Dörfern – sie heißen heute noch Zehlendorf, Schmargendorf, Wilmersdorf – wurden Kleinstädte, aus den Kleinstädten Vororte, aus den Vororten Stadtteile der Reichshauptstadt, die heute den Mittelpunkt bilden zwischen Außenbezirken und Zentrum Berlins.

Das ist der Alexanderplatz und die Friedrichstraße, gewiß, der Kurfürstendamm, ja – und Berlin, das ist auch das stille, gepflegte Dahlem und das industriell-moderne Siemensstadt. Berlin im Durchschnitt aber setzt sich zusammen aus vielen, vielen dieser ostelbisch kleinbürgerlichen Haupt- und Nebenstraßen. Manchmal gibt es noch Linde und Dorfkirche, das eine oder andere der Häuser ist auf vier und fünf Stockwerke gewachsen. Hinterhöfe mit sogenannten Gartenhäusern kamen dazu, das »Deutsche Haus« wurde von Eckkneipen abgelöst, der Tanzsaal verwandelte sich in einen selbständigen Filmpalast, und Geschäftsstraßen schieden sich deutlicher von Wohnstraßen. Erstaunlich die Schnelligkeit, mit der diese Veränderungen vor sich gingen. Jeder ältere Berliner erinnert sich noch daran, daß der Kurfürstendamm um 1900 zwanzig Häuser zählte, an denen eine Dampfbahn vorbeifauchte. Das halbe zwanzigste Jahrhundert hat mehr verändert als zwei, drei frühere Jahrhunderte zusammengenommen. Kein Wunder, daß wir uns oft die Augen reiben, weil es wohl nie so schwierig war wie heute, ein Zeitgenosse zu sein und zu bleiben.

Groß, sehr ausgedehnt ist diese Stadt noch immer. Wer sie im Dunkeln anfliegt, staunt, wenn er ihre Lichter sieht, nachdem er vor anderthalb Stunden die Lichter Frankfurts sah. Die Finsternis der Zone mit ihren Stromsperren reicht bis an den Stadtgürtel. Unmittelbar, plötzlich sind dann nicht nur Bahnhöfe und Plätze beleuchtet, sondern Häuser, Wohnungen. Bunte Reklamen tauchen auf. Und dieser See von Lichtern ist aus 1 000 Meter Höhe nicht überschaubar, erstreckt sich, hinter der Finsternis, bis an den Horizont, verliert sich im Nachtdunst; geht nach rechts und links wieder über in Finsternis.

Auf Sand und Sumpf gesetzt, zwischen Seen und Wälder, ins flache märkische Land hinein, von der Nacht fast verschluckt jetzt – die zweitgrößte Stadt Europas. Berlin bei Nacht – dort unten. Wie sie den Abend herumbringt, die große Stadt; wie in hunderttausend Wohnungen das Radio geht, die Zeitung aus müden Händen sinkt; junge, arme, alte, reiche, glückliche, bedrückte Menschen einschlafen, ausgehen, heimkehren, grübeln, lieben, sich sorgen, hoffen, verzweifeln – leben.

Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor

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