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6. Mit Temperament und Manier

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Gründgens verbringt nach dem Ende seiner Halberstädter Verpflichtung zunächst zwei Monate bei seinen Eltern in Düsseldorf und spielt an der Freilichtbühne für Volkskultur den Antipholus in Shakespeares KOMÖDIE DER IRRUNGEN, von dort reist er – in Ermangelung eines ordentlichen Koffers mit einem Pappkarton – nach Kiel. Das Engagement in der rund 230000 Einwohner zählenden holsteinischen Universitätsstadt bedeutet einen gewaltigen Aufstieg für ihn, künstlerisch wie finanziell – »und die Stadt gefällt mir auch gut«1, teilt er Renée Stobrawa, mit der er immer noch freundschaftlich verbunden ist, freudig mit. Er ist »für die Kunstgattung als Schauspieler und für das Kunstfach als Charakterspieler« verpflichtet; die zwölfmonatige Saison hat am 1. Juli 1921 zunächst einmal mit vier Wochen bezahlter Ferien begonnen. Gegenüber Halberstadt hat sich seine Monatsgage beinahe verdoppelt: Er erhält nun 1000 Mark, zudem stehen ihm bei Abstechern des Theaters Tagegelder zu, und im zweiten Jahr soll seine Vergütung sogar auf 16000 Mark per annum steigen – »wenn der Betrieb des Schauspiels nicht eingestellt werden sollte«2. Dennoch bessert der stets von Geldsorgen Geplagte auch hier die Gage (die dann allerdings angesichts der zunehmenden Inflation tatsächlich kaum noch ausreichen kann) mit Gymnastikstunden auf und gibt Schauspielunterricht; auch dem später als eleganter Charmeur in Filmen und Fernsehserien wie DER FORELLENHOF und SALTO MORTALE populären Hans Söhnker erteilt er – »sicher nur aus finanziellen Gründen«3 – einige Stunden.

Zu den Vereinigten Städtischen Theatern zu Kiel, die im Jahr über 900 Vorstellungen zeigen, gehören das 1047 Zuschauer fassende Stadttheater, das hauptsächlich Opern und das klassische Drama pflegt, und das mit 671 Plätzen deutlich kleinere, an der Holtenauer Straße gelegene Schauspielhaus; dort gibt man »das moderne Drama, das Konversationsstück, den Schwank«4. Geleitet werden die Bühnen, die seit 1919 nicht mehr verpachtet, sondern als kommunaler Regiebetrieb geführt werden, nun schon die dritte Spielzeit von Max Alberty5, Dr. jur. und Dr. phil., ein Vierteljahrhundert älter als Gründgens, aber wie dieser vor einem ähnlichen familiären Hintergrund in Düsseldorf geboren: Der Sohn des Kommerzienrats Emil Poensgen entstammt einer in der Stahlindustrie tätigen weitverzweigten Großindustriellenfamilie (Ernst Poensgen hatte Louise Dumont und Gustav Lindemann als Mäzen geholfen, das Schauspielhaus Düsseldorf zu errichten) und hatte auf deren Wunsch 1908 einen Künstlernamen angenommen. Als überzeugter Sozialdemokrat – in seinem Direktionszimmer steht eine Büste August Bebels – wendet sich Alberty gegen den kapitalistischen Ausbeutungsbetrieb im Theater, setzt sich für angemessene Gagen und dienstfreie Abende ein. Er begreift die Bühne als eine Art moralische Anstalt im Schillerschen Sinn, als »Volksbildungsinstitut«6, das auch ein traditionell eher bildungsfernes Publikum erreichen, also jedem zugänglich sein soll, wenn erforderlich zu verbilligten Preisen. Sein Spielplan richtet sich vor allem nach ethischen, weniger nach kommerziellen Gesichtspunkten, die Operette ist für ihn die »Pestbeule am Leibe des Theaters«7, doch steht das Streben nach Qualität in stetem Konflikt mit dem Zwang zur Quantität, die nötig ist, um die verschiedenen Abonnementreihen zu bedienen.8 An Max Reinhardt orientiert, besetzt er nicht nach den traditionellen Rollenfächern, sondern gemäß dem jeweiligen Inszenierungskonzept und nach der Individualität der Schauspieler. Unter der Ägide des impulsiven, oft unbequemen Alberty, der so ausschließlich für das Theater lebt, daß er dort sogar übernachtet9, haben die Vereinigten Stadttheater zu Kiel den Ruf eines aufregenden zeitgenössischen Theaters und gelten als Talentschmiede.

Gründgens’ Verhältnis zu Böhmer ist nach ihrer Ankunft in Kiel distanziert geworden: »Ich habe es gänzlich aufgegeben, auf einen wirklich freundschaftlichen, ernsten Verkehr mit Hanns zu kommen. Es geht nicht mehr, wir sind doch wohl zu verschieden. Er benimmt sich momentan hier unmöglich; er tut mir furchtbar leid, und ich schätze ihn in seiner Art auch heute noch sehr, nur kann ich ihm nicht mehr helfen.«10 Doch Gründgens findet im Schauspielensemble, das in der Saison 1921/22 aus sechzehn Herren und zwölf Damen sowie vier Eleven besteht, schnell Kontakt. Er freundet sich besonders mit Florian Kienzl an, der den Schauspielberuf bald aufgeben, ein renommierter Theater-, Film- und Literaturkritiker in Berlin werden und auch seinen einstigen Kollegen Gründgens rezensieren wird, und mit der soeben aus Frankfurt nach Kiel gekommenen Erna Heicke, die wie Gründgens in der Blücherstraße 9 wohnt, wo dieser im zweiten Stock »eine entzückende 2-Zimmerwohnung«11 gemietet hat. Eine enge künstlerische wie persönliche Beziehung geht er mit dem versierten Oberregisseur des Schauspiels, Clemens Schubert12, ein, der mit dem ebenfalls in Kiel engagierten Bariton Fritz Gabsch zusammenlebt. Unter Schuberts Regie spielt Gründgens unter anderem den Baron in Maxim Gorkis NACHTASYL, den Chevalier in Stefan Zweigs Einakter DER VERWANDELTE KOMÖDIANT, Fred O’Brixor in Heinrich Manns VARIETÉ (»Überreizt, höchst erregbar, nervös! Grotesk in den Verrenkungen am Klavier! Rasend leidenschaftlich. Eine wahre Komödiantenleistung!«13, notiert der theaterbegeisterte Gymnasiast Bernhard Minetti), den Dichter Alexander Weihgast in Arthur Schnitzlers LETZTEN MASKEN und in Herbert Eulenbergs erfolgreicher Posse BELINDE die Rolle des geckenhaften Hyazinth, der mittels einer Annonce eine Frau zu finden versucht, sich bald in eine unbekannte Brieffreundin verliebt und entsetzt reagiert, als sich diese beim persönlichen Kennenlernen als Mann entpuppt.

In mindestens 39 Inszenierungen wird Gründgens in der Saison 1921/22 beschäftigt – und keineswegs nur als Charge. Kein Wunder, daß er Renée Stobrawa schreibt: »Morgens um 9 ¼, mittags um 3 und abends um 7 Uhr Probe. Es ist wirklich zu viel. Und ich bin kaum in einem Stück frei. Den Etzel14 habe ich abgegeben. Es ist mir doch zu riskant, in einer solchen Rolle vor die Presse zu kommen. Ich habe dafür den Waldschrat in VERSUNKENE GLOCKE bekommen, der mir viel mehr Freude macht. Ach Du, eigentlich geht es mir recht gut hier.«15 Nicht zuletzt reüssiert er als Protagonist klassischer Dramen: Seinen Einstand gibt er am 11. September als Werbel in KRIEMHILDS RACHE, dem zweiten Teil von Friedrich Hebbels NIBELUNGEN. Am Abend darauf stellt er den bereits in Halberstadt gespielten Marinelli in Lessings EMILIA GALOTTI mit »Energie und Prägnanz« als wendigen »Aventurero, jenseits von Gut und Böse«, dar, nicht analysierend, sondern ganz »aus seiner Spielfreudigkeit heraus«16, aber immer mit genauer Selbstkontrolle, »ein Mienenspiel, das jeder Gedankenregung folgte, eine Beherrschung des Wortes, die jeder Silbe ihren Wert einprägte«17, so die Kieler Zeitung. Danach verkörpert er so wesentliche Rollen wie den Weislingen in GÖTZ VON BERLICHINGEN – »eine im großen und ganzen brave Leistung«18, meint Fritz Wichmann in den Kieler Neuesten Nachrichten verhalten –, den Isolani in WALLENSTEINS TOD, den Leicester in MARIA STUART (»sehr sehr gerne«19) und den Herzog in Goethes TORQUATO TASSO. Er gibt den melancholischen Jaques20 in Shakespeares WIE ES EUCH GEFÄLLT und das ebenso zimperliche wie störrische Muttersöhnchen Atalus in Grillparzers WEH DEM, DER LÜGT. Für einige Vorstellungen übernimmt er Clemens Schuberts Rolle des Oswald in Ibsens GESPENSTERN: »[…] es war einer meiner schönsten Theaterabende«, berichtet er seiner Mutter stolz: »Und ich war auch sehr gut, wie man mir schriftlich und mündlich versichert.«21 Am 20. April 1922 springt er in Goethes FAUST für den erkrankten Kollegen Paul Haag als Mephistopheles ein. Die Titelrolle in Clemens Schuberts Inszenierung gibt wie in der Premiere der Heldendarsteller des Kieler Theaters, Hans Alva, das Gretchen hat ebenfalls neu die später in Frankfurt als Charakterspielerin reüssierende Elisabeth Kuhlmann übernommen. Gleich in drei Rollen, als Erzengel Raphael, Altmayer und Valentin, steht Ernst Busch auf der Bühne – Gründgens wird Mitte der 40er Jahre im Leben Buschs eine ebenso entscheidende Rolle spielen wie dieser in dem seinen. Der Rezensent der Kieler Neuesten Nachrichten lobt die »behende Hagerkeit und ebenso kalte wie scharfe Dialektik« des Mephisto-Darstellers Gründgens: »In jedem Augenblick auf das Bildhafte seiner Erscheinung bedacht, brachte er alle die geistvollen Aussprüche, die ein Kulturwert des deutschen Volkes geworden sind, mit innerem Verständnis und in virtuoser Sprachbehandlung. Wenn hier und da eine Geste nicht frei von Theatralik war – u.a. in der Schülerszene –, so war Herr Gründgens doch durchweg ein lebhafter, geistreicher, eleganter Teufel, der auch den Schalk besonders zur Geltung brachte.«22

Fünf Wochen zuvor war der 48jährige Max Alberty in der Nacht auf den 15. März 1922 völlig überraschend an einem Herzinfarkt verstorben. Gründgens, dem Alberty eine weitere Spielzeit in Kiel, nun sogar mit einer Jahresgage von 30000 Mark und den Hauptrollen in Franz Werfels Verstrilogie SPIEGELMENSCH und in Schillers FIESCO, angeboten hatte (»Diesen beiden Aufgaben kann doch kein Menschen widerstehen, nicht?«23 so Gründgens damals), muß sich nun eine neue Verpflichtung suchen. Als sich die Aussicht auf »eine glänzende Position mit einer Riesengage«24 an den von Saladin Schmitt geleiteten Vereinigten Stadttheatern Bochum-Duisburg zerschlägt, entschließt er sich relativ kurzfristig zu einem weit weniger prestigeträchtigen Engagement am Theater in der Kommandantenstraße in Berlin, denn dorthin geht als Oberspielleiter Clemens Schubert, und mit ihm wechseln auch die Schauspieler Florian Kienzl und Elisabeth Bechtel.25 Am 2. Juni unterzeichnet Gustaf Gründgens seinen vom 15. Juli 1922 bis zum 31. Mai 1923 gültigen »Normalvertrag«, zehn Tage später gibt der »eigenwillig begabte Künstler«26 in der Titelrolle von Friedrich Sebrechts Tragödie KLEIST27 seine Kieler Abschiedsvorstellung.

In Berlin erhält Gründgens für seine Tätigkeit als jugendlicher Bonvivant und Charakterspieler eine Monatsgage in Höhe von 5000 Mark, doch das ist angesichts der Inflation keineswegs viel. Allein für eine Mahlzeit muß er mit 35 bis 45 Mark rechnen, für das möblierte Zimmer, das er ab 1. August gemietet hat – zuvor kommt er für eine Nacht bei seinem Kollegen Kienzl, dann bei einem Freund von Schubert unter –, bezahlt er 1000 Mark. Es liegt in der Wohnung der Architektenwitwe Wally Langer-Wagner im vierten Stock der Augsburger Straße 54, nur wenige Häuser entfernt von einem der bevorzugten Theaterlokale, in dem Stars wie Emil Jannings, Fritzi Massary und Conrad Veidt ebenso verkehren wie die vielen, die es noch nicht geschafft haben: der Bierstube von Änne Maenz, Berlins populärster Künstlerwirtin, die immer bereit ist, einen mittellosen jungen Schauspieler mit ihren berühmten Bouletten durchzufüttern. »Ehe man in Berlin die billigen Lokale ausfindig gemacht hat, vergeht eine Menge Zeit«, berichtet Gründgens seinen Eltern und klagt etwas selbstmitleidig über die »unbarmherzige, kalte, grausame Stadt«28. Noch vor Probenbeginn wird die erste Teuerungszulage von 2000 Mark bewilligt. Rasch klettert die Gagensumme in eine astronomische Höhe, reicht aber dennoch nie zum Lebensunterhalt aus; die Inflation wird denn auch Hauptgrund für das Scheitern des ambitionierten Theaterunternehmens sein. Der neue Unterpächter des zur Metropol-Theater AG gehörenden Theaters in der Kommandantenstraße ist »ein Doktor Poell unbekannten Ursprungs«29, wie Alfred Döblin im Prager Tagblatt kolportiert. Der ehemalige Innsbrucker Zahnarzt Eugen Poell hat, um das Theater übernehmen zu können, seine wertvolle Briefmarkensammlung im Ausland gegen Devisen versilbert – wohl vor allem seiner Freundin zuliebe, der Schauspielerin Ebba Maran, die sich am Theater in der Kommandantenstraße profilieren soll. Er selbst ist völlig theaterunerfahren, das südlich der Stadtmitte gelegene Haus mit 800 Zuschauerplätzen, 1906 durch die Brüder Herrnfeld erbaut, indes keineswegs eine Kleinbühne. Bis 1916 hatten diese deutsch-jüdische Milieustücke und Komödien in jiddischer Sprache gezeigt, von 1921 bis März 1922 hatte die »Wilnaer Truppe« in dem vorübergehend Jüdisches Künstlertheater benannten Haus gastiert – von 1935 bis 1941 dient das baufällige Gebäude in der Kommandantenstraße 57 dem Jüdischen Kulturbund als Zufluchtsstätte und wird 1944 zerstört, seine Ruine 1953 gesprengt.30 Neben Clemens Schubert, dem die Oberspielleitung obliegt, ist der auch als Schauspieler wirkende Friedrich Lobe als Regisseur verpflichtet, Schuberts Freund Fritz Gabsch fungiert als »musikalischer Beirat«. Erklärtes Ziel ist es, eine moderne literarische Bühne zu gründen.31 »Das Programm ist […], wenn auch ungeschrieben klar: deutsche Kunst, literarische Bemühtheit«, kommentiert Alfred Döblin. »Es sind lauter abseitige, leicht (Verzeihung) provinzmäßige, nicht großstädtische Größen. Heimatkunst […].«32


Als Weislingen in Goethes Götz von Berlichingen, Vereinigte Städtische Theater zu Kiel, 1921

© Theatermuseum Düsseldorf

In einer Art Vorsaison zeigt man zunächst den Schwank LIEBE UND TROMPETENBLASEN von Hans Sturm und Hans Bachwitz, die man gerne auch als »Literaturfabrikationsfirma Sturm & Bachwitz« bezeichnet. Gründgens gibt darin am 4. August 1922 sein Berlin-Debüt in der Rolle des Karlstadt, klagt aber den Eltern: »Die Proben waren gräßlich; ich habe doch nicht die richtige Einstellung zu so leichter Ware.«33 Am 12. September wird die »Winterspielzeit« dann offiziell mit Wilhelm Schmidtbonns ebenso pathetischem wie lyrischem Schauspiel DER GESCHLAGENE eröffnet, das bis 25. Oktober auf dem Spielplan steht. Der Regisseur des Abends, Clemens Schubert, verkörpert zugleich die Titelrolle des bei einem Absturz erblindeten Fliegers Josef Wacholder, der mit dem Argwohn, seine Frau könne ein Verhältnis mit seinem Bruder David beginnen, die ganze Familie martert; Gründgens ist nur im letzten Akt als blind geborener Johannes Pracht zu sehen. Die zweite Premiere am 20. September gilt Friedrich Lienhards Schelmenspiel DER FREMDE, vereint an einem Doppelabend mit Franz Johannes Weinrichs Tanzpoem DER TÄNZER UNSERER LIEBEN FRAU mit Gründgens in der Titelrolle eines Spielmanns, der aus Verehrung für die Mutter Gottes zum Bruder Simplizius wird und sich vor dem Marienbild in Tod und ewige Seligkeit tanzt. Die Kritik ist uneins angesichts der ersten nennenswerten Aufgabe für Gründgens in Berlin: Paul Wiegler hält ihn für »nicht untalentiert«34, Fritz Engel meint sogar, Gründgens sei »gut in Sprache und Rhythmus«35 gewesen, Ludwig Sternaux hingegen, er habe »mit viel hohlem Pathos Moissi nachgestümpert«36 und könne zudem nicht tanzen. In Adolf Pauls Komödie DIE SPRACHE DER VÖGEL, die am 5. Oktober Premiere hat, spielt Gründgens den zentralen Part des Sabud, der die Freundschaft des Königs Ealomo den Launen einer Frau zuliebe preisgibt.

Parallel dazu tritt Gründgens ab Mitte September fünf Monate lang spätabends im Cabaret Größenwahn auf, dessen Domizil sich unweit seines möblierten Zimmers am anderen Ende der Augsburger Straße befindet: an der Ecke von Kurfürstendamm und Joachimstaler Straße (dem heutigen Kranzler-Eck), eine Etage über dem ehemaligen Café des Westens – allgemein Café Größenwahn genannt –, das von 1898 bis 1915, von Literaten, Journalisten, Künstlern, Musikern und Theaterleuten frequentiert, vielen Bohemiens als eine Art Heimat gedient hatte. Die Schauspielerin und Diseuse Rosa Valetti, »häßlich wie die schwarze Nacht und platzend von lichtstarker Persönlichkeit«37, so ihre Kollegin und Konkurrentin Trude Hesterberg, hatte das politisch-literarische Cabaret, das einen Hauch Montmartre nach Berlin bringen sollte, Ende 1920 als eine entschiedene Kampfansage an Philistertum und politische Reaktion gegründet. Im Größenwahn waren Valettis Bruder Hermann Vallentin, Kurt Gerron und Paul Morgan aufgetreten, hatten Blandine Ebinger Friedrich Hollaenders LIEDER EINES ARMEN MÄDCHENS und Kate Kühl Chansons von Aristide Bruant und Frank Wedekind vorgetragen. Nun steht hier – kurz bevor die Valetti nach nur zwei Jahren die Leitung wieder abgibt – in Kniehosen, einem Hemd mit Schillerkragen, den Rucksack geschultert und das Schmetterlingsnetz in der Hand auch der Berlin-Neuling Gründgens auf dem Podium. Vermittelt hat das Engagement der Bühnenbildner Edward Suhr, man kennt sich vom Schauspielhaus Düsseldorf her. Für ein abendliches Honorar von zunächst 200 Mark – was dank der Inflation nicht einmal mehr fünf amerikanischen Cents entspricht, das deutsche Briefporto beträgt zu dieser Zeit sechs Mark – trägt Gründgens eine selbstverfaßte Wandervogelparodie38 mit dem Titel DER NEUE MENSCH ODER HAB SONNE IM HERZEN!39 vor. Vertont hat sie Theo Mackeben, der 15 Jahre später auch die Musik zum Gründgens-Film TANZ AUF DEM VULKAN samt dem noch heute oft gespielten Chanson DIE NACHT IST NICHT ALLEIN ZUM SCHLAFEN DA komponieren wird. »Der bekannte Führer der Jugendbewegung, Hans Blüher40, der sich einst unter der Mimikry begabter psychoanalytischer Philosophie das Vertrauen einer großen Anhängerschaft erschlich, war, nachdem er die Maske lüftete und sich als pseudowissenschaftlicher Antisemit und ›Entlarver der jüdischen Mimikry‹ entpuppte, längst reif zur Verwertung als komisch-traurige Figur für das intellektuell interessierte Cabaret. Das ›Größenwahn‹ hat ein unbestreitbares literarisches Verdienst dadurch erworben, daß es jetzt in einer erquickend-komischen Szene Blüher, den Begriffsmythiker, Flaischlen41, den Sonnen-Naivling, und die ganze lautenklimpernde, wadenstrumpfbedeckte teutonische Wandervogelei verspottete. Gustav Gründgens hat diesen witzigen Dialog verfaßt und spielt ihn grotesk-parodistisch mit Else Ehser«42, lobt die B. Z. am Mittag. Gründgens erregt damit weit mehr die Aufmerksamkeit des verwöhnten und kritischen Berliner Publikums als am Theater in der Kommandantenstraße.

Dort erzielt Alexander Zinns 1909 entstandene Komödie SCHLEMIHL, in der Gründgens ab 28. Oktober unter der Regie des Intendanten Eugen Poell eine Nebenrolle spielt, immerhin einen Achtungserfolg. Am 15. Dezember werden vier der fünf Szenen aus Rolf Lauckners expressionistischem Einakter-Zyklus SCHREI AUS DER STRAßE uraufgeführt und finden durchaus Beifall: Das Werk, das, so das Prager Tagblatt, »ergreift, interessiert, verblüfft, nachdenklich macht«43, sei »mit sorgfältiger Arbeit an einem noch jungen Schauspieler-Bestand herausgebracht« und mit »spürbarem Ernst gespielt«44 worden, heißt es etwa in der Zeitschrift Die schöne Literatur (die unter Will Vespers Leitung und dem Titel Die Neue Literatur zur führenden NS-Literaturzeitschrift werden wird). Gründgens spielt in Lauckners Zyklus drei Hauptrollen: in der VORSTADTLEGENDE den Blinden Sascha, der mit zwei ebenfalls blinden Freunden in der Neujahrsnacht unter Alkoholeinfluß eine Dirne ersticht, in PESTALOZZI den satanischen Oberkellner, der einen alten Lehrer überredet, einen Schieber zu bestehlen, und den Nuditätenhändler im STERBENDEN STUDENTEN.45 Als preußischer Kronprinz Friedrich in Hermann Burtes häufig aufgeführtem (in Preußen jedoch bis 1918 nicht zugelassenem) KATTE, der am 31. Januar 1923 mit Clemens Schubert in der Titelrolle Premiere hat, erregt Gründgens erstmals die Aufmerksamkeit des Berliner Kritikerpapstes Alfred Kerr, der vermutlich wegen der Besetzung des Königs Friedrich Wilhelm mit dem prominenten Schauspieler Hermann Vallentin die Aufführung besucht. Im Rahmen eines »Österreichischen Einakterabends« spielt Gründgens in Jakob Wassermanns GENTZ UND FANNY EßLER den Grafen Reitzenstein und in Peter Nansens Lustspiel EINE GLÜCKLICHE EHE den Ministerial-Rat Dr. jur. Friedrich Jermer, der ein Verhältnis mit Nancy, der Ehefrau seines Jugendfreundes Christian Mogensen beginnt. Die Premiere von Martin Langens jambischem Trauerspiel JULIUS CÄSAR UND SEINE MÖRDER, dessen Dreh die Behauptung ist, Brutus sei Cäsars leiblicher Sohn, ist kurzfristig gefährdet, als der für den Marcus Antonius vorgesehene Raul Lange mitten in den Proben ans Deutsche Theater abwandert, vergeblich bemüht Direktor Poell das Bühnenschiedsgericht46, findet dann aber Ersatz in dem Schauspieler Otto Braml. Neben Friedrich Lobe als Cäsar übernimmt Gründgens den Octavius und steht erstmals gemeinsam mit dem 20jährigen Werner Hinz als Catulus auf der Bühne, der dreieinhalb Jahrzehnte später in Hamburg alternierend mit Will Quadflieg die Titelrolle in Gründgens’ berühmter FAUST-Inszenierung spielen wird. In insgesamt zwölf Stücken wirkt Gründgens am Theater an der Kommandantenstraße mit, unter anderem wiederholt er die bereits in Kiel gespielten Rollen des Oswald in Ibsens GESPENSTERN und des Herzogs in Goethes TASSO.

Das ganze Unternehmen verläuft jedoch ohne Fortune. Wegen der Kohlennot in Zeiten der Inflation kann der Zuschauerraum nicht beheizt werden, die Besucher und damit die Einnahmen bleiben aus. Schließlich muß der Versuch, eine literarische Bühne zu etablieren, als gescheitert betrachtet werden. Berlin bleibt für Clemens Schubert wie für Gründgens zunächst nur ein wenig erfolgreiches Zwischenspiel – allerdings eines mit Folgen: Erich Ziegel, der Intendant der renommierten Hamburger Kammerspiele, einem der wenigen Theater, die in den 20er Jahren ein künstlerisches Gegengewicht zu den Bühnen der Hauptstadt bilden, hat Schubert und Gründgens in Berlin gesehen und beide engagiert, Schubert als Regisseur, Gründgens »für das Kunstfach I. jugendlicher Charakterspieler & jugendliche Bonvivants und verwandte Rollen«47, so der am 19. April unterzeichnete Vertrag. Erneut wechseln die Freunde also gemeinsam Engagement und Stadt.

Doch bevor Gründgens sein Engagement in der Hansestadt antritt, beginnt die Sommerspielzeit am Städtischen Kurtheater Eckernförde, an dem Gründgens nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Spielleiter verpflichtet ist. »Ein im Aufblühen begriffener Kurort«48, so bezeichnet das DEUTSCHE BÜHNENJAHRBUCH unter der Rubrik »Bemerkenswertes« das etwas mehr als 7000 Einwohner zählende älteste Bad der Nordmark. Gründgens mietet ein Zimmer im Stadtzentrum in der Kieler Straße 32, die parallel zum kaum 150 Meter entfernten Strand verläuft. Noch näher, im Haus Nr. 54, befindet sich das Städtische Kurtheater, auch Badetheater genannt, wie schon im Sommer zuvor geleitet vom Schauspieler und Regisseur Karl Friedrich Lassen, mit dem Gründgens in Kiel oft auf der Bühne gestanden und unter dessen Regie er Don Contreras in Pius Alexander Wolffs PRECIOSA gespielt hatte. Das Kurtheater zeigt zur Unterhaltung der Badegäste wöchentlich wechselnde Stücke, die Aufführungen finden im etwa 500 Zuschauer fassenden kombinierten Kino-, Theater- und Festsaal des seit 1723 existierenden Hotels Stadt Hamburg statt. Wenn in Eckernförde nicht gespielt wird, gastiert man in der Wirtschaft des Gastwirts Marten in Klein-Waabs, im Angler Hof in Süderbrarup, im Schauspielhaus Kappeln sowie in den Stadttheatern von Rendsburg und Schleswig. An einer veritablen Schmiere also und nicht erst an den renommierten Kammerspielen in Hamburg gibt Gründgens, werbewirksam annonciert als »Charakterdarsteller […] aus Berlin, der im kommenden Herbst zu den durch die hochstrebenden Ziele ihres Direktors Erich Ziegler [sic] bekannt gewordenen Hamburger Kammerspielen übertritt«49, sein Regiedebüt. Er trifft am 21. Juni in Eckernförde ein, tags darauf beginnen die Proben, und schon drei Tage später eröffnet die Saison mit Hebbels bürgerlichem Trauerspiel MARIA MAGDALENA; Gründgens spielt, »seiner Wirkung […] sicher«50, den skrupellosen Leonhard. Wiederum drei Tage später hat EINE GLÜCKLICHE EHE des Dänen Peter Nansen Premiere, jenes Lustspiel über ein Dreiecksverhältnis, in dem Gründgens bereits in Berlin aufgetreten war. »Die ›glückliche‹ Ehe […] wird kaum nach dem Geschmack unserer Theaterbesucher gewesen sein. In der Kleinstadt hat man andere Ansichten in dieser Beziehung«, moralisiert die Eckernförder Zeitung, lobt aber dann doch: »Ganz glänzend war wieder die Aufführung an sich, es war direkt ein künstlerischer Genuß, dem Spiel von Fräulein Braune (als Nancy) und Herrn Gründgens (als Dr. Jermer) zu folgen. […] Daß die Aufführung, die unter der Regie von Herrn Gründgens stand, mit Liebe vorbereitet war, verriet auch die Sorgfalt, die auf die Ausschmückung der Bühne und auf die Kostüme gelegt worden war.«51 In Schnitzlers LIEBELEI hat der innert kürzester Zeit zum Publikumsliebling avancierte Gründgens nur eine winzige Rolle: »Die drei Worte, die Herr Gründgens als ›Ein Herr‹ zu sprechen hatte, waren ihm genug, wieder eine Probe temperamentvollen Spieles zu geben. Allein schon die Art, wie er dem Räuber seiner Ehre die Liebesbriefe vor die Füße warf, war großartig.«52 In CHARLEYS TANTE, der später mehrfach verfilmten und noch heute vielgespielten Farce von Brandon Thomas, übernimmt Gründgens die zentrale Rolle des Lord Babberly, der sich von seinen Freunden Charley und Jack dazu überreden läßt, für eine geplante Verabredung mit ihren Freundinnen verkleidet als Charleys Tante aus Brasilien die Anstandsdame zu spielen. »Herr Gründgens war in der Hauptrolle ganz großartig, trug zwar hier und da etwas derb auf, erreichte aber immer eine köstlich-komische Wirkung. Seinem lebendigen Spiel galt der größte Teil des starken Beifalls.«53 In Roberto Braccos Konversationsstück UNTREU gibt Gründgens den Liebhaber Riccardi (»Die im Bühnenraum besonders aufdringliche Wärme belästigte die Künstler ganz außerordentlich, insbesondere Herrn Gründgens, der als Liebhaber noch sein innerliches Feuer spielen lassen mußte«54, berichtet die Eckernförder Zeitung), in Franz und Paul von Schönthans Schwank DER RAUB DER SABINERINNEN den Schauspieler Sterneck, in Ibsens GESPENSTERN abermals den Oswald, diesmal in einer Inszenierung Karl Friedrich Lassens. Gelegentlich wird jedoch auch Kritik an seiner Darstellung laut: So beeinträchtige »die überstürzte und dadurch undeutliche Aussprache« von Gründgens seine »sonst ganz vorzüglich wiedergegebene Rolle des Hans Karl Erichsen«55 in Curt Goetz’ Dreiakter DER LAMPENSCHIRM. Aufschlußreich ist aus heutiger Sicht insbesondere die Einschätzung Gründgens’ anläßlich eines »Künstler-Konzerts«56 im Hotel Seegarten, bei dem er als Rezitator auftritt: Er sei »ein interessanter junger Künstler, der freilich in seinem Hang zu expressionistischen Formen leicht aus Stil in Manier verfällt. So wirkten die feinen Dichtungen Franz Werfels unehrlich, als ob Werfel nichts als sein Spiegelmensch wäre. Gründgens’ parodierender Art liegt das Komische und Groteske, so traf er den leichten, eleganten, harmlos-frivolen Ton Heines und schuf hier etwas Originelles.«57

Seinen letzten Auftritt in Eckernförde hat Gründgens am 16. August 1923 in Max Mohrs im Jahr zuvor höchst erfolgreich uraufgeführtem Bühnenerstling IMPROVISATIONEN IM JUNI. Als neunte Rolle in nicht einmal acht Wochen spielt Gründgens den berühmten Improvisator Adam Zappe, von dessen Kunst man sich die Heilung eines schwermütigen jungen Mannes erhofft – eine Rolle, in der er alle schauspielerischen Register ziehen kann: »Der Stil, der Stil, meine Herren! Soll ich katholisch oder diabolisch anheben, soll ich allumfassende Liebe oder zerwuchtenden Haß aufklingen lassen, soll ich endlich die Tempel meiner Kunst mit indischen, französischen, russischen, jüdischen oder amerikanischen Parfüms durchwehen?«58 Wenig überraschend heißt es tags darauf in der Eckernförder Zeitung, er habe »den vielen hiesigen Freunden seiner mimischen Virtuosität« neue hinzugewonnen. Überraschender ist dagegen die Besetzung des melancholischen Jan Mill mit Hanns Böhmer, der nur für diese eine Aufführung in Eckernförde gastiert, »wobei ihn seine weiche, wie aus Traumland herüberklingende Stimme wirkungsvoll unterstützte«59. Da Böhmer durch ein Engagement in München bestens versorgt ist, dürfte dieses vielleicht durch Gründgens vermittelte Gastspiel kaum eine Benefizaktion für den einstigen Freund gewesen sein. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß sich die beiden vorübergehend wieder angenähert haben, doch ist kein Brief, der das belegen könnte, erhalten …

Die wichtigste Rolle im privaten Leben des 23jährigen Gründgens spielt seit geraumer Zeit auch jemand anders: »[…] nun bist Du bald ›Schwiegermama‹. Immer neue Würden!«, teilt er seinem »lieben, süßen Muttchen« mit. Gründgens plant zu heiraten. Die Auserwählte ist seine Kollegin Erna Heicke60, die er in Kiel kennengelernt hatte. »Glaub’ mir, es ist schon das beste. Seit ich mich dazu entschlossen habe, bin ich wie verwandelt; ruhig und zufrieden. Ich schicke Dir bald viele Bilder vom Heikchen. Ich wollte, Du hättest sie schon bei Dir, Du wirst sie sehr lieb haben, weil sie so ein herrlicher natürlicher Kerl ist. Und viel Schweres hat das liebe Ding schon mitgemacht. Und jetzt wollen wir uns aneinander ruhig und gesund machen. Du prophezeitest mir ja immer eine rabenschwarze Jüdin – aber nun ist es doch ein dunkelblondes Geschöpfchen geworden und so zierlich, daß man meinen könnte, man brauche bloß zu pusten, dann fiele sie um, aber die sind ja bekanntlich die stärksten. Geld hat sie soviel wie ich, nämlich nichts, aber jung ist sie und Talent hat sie für zehn. Ich will sie in Hamburg schon unterbringen. […] Wir wollen nun auch mit der Hochzeit nicht mehr zögern; wir kennen uns ja nun über zwei Jahre. Besorge mir doch umgehend meinen Geburtsschein, den brauche ich nämlich beim Standesamt.«61 Gründgens macht sich unterdessen daran, eine möblierte Dreizimmerwohnung in Hamburg zu suchen. Und es gelingt ihm tatsächlich, den Direktor der Hamburger Kammerspiele für die Kollegin zu interessieren. Doch einmal mehr verläuft das Leben nicht so verläßlich wie eine akkurat geprobte Theaterinszenierung, denn Erna Heicke ist nun doch nicht bereit, ihr Kieler Engagement aufzugeben: »Es war alles perfekt, sie brauchte nur zu kommen und wär engagiert worden; sie schreibt, hol mich ab; ich gehe zur Bahn, sie kommt nicht. (Bedenk’ was alles auf dem Spiel stand! Karriere, Heirat, alles.) Sie schreibt auch nicht; 14 Tage nicht; dann auf einen erstaunten und entrüsteten Brief von mir: Sie sei krank gewesen; weiter nichts«, klagt Gründgens seiner Mutter. »Was soll ich tun; jetzt ist eine andere engagiert. Nu – abwarten. Ich bitte Dich inständig, Mutter, ihr nicht zu schreiben. Ich will erst klar sehen. Schluß davon. Es könnte mir gesundheitlich besser gehen, das Herz rebelliert gegen meinen Lebenshunger.«62

Gustaf Gründgens

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