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4. Ein Fonds fürs Leben
ОглавлениеGründgens kehrt unverzüglich ins Rheinland zurück, zieht in die elterliche Wohnung und tritt am 1. April 1919 gegen ein Studiengeld von 750 Mark per annum als zahlender Schüler1 in die Hochschule für Bühnenkunst ein – den Ausbildungsvertrag des 19jährigen hatte sein Vater unterschreiben müssen, erst mit 21 gilt man als mündig. Eigentlich hatte das Schuljahr bereits am 1. September begonnen, doch da die Schule aufgrund des Krieges »männliche junge Talente [hatte] schmerzlich entbehren müssen«, ist die Leitung froh, solche nach der Demobilisierung auch mitten im Schuljahr aufnehmen zu können und so »eine größere Möglichkeit im Ausbau des Ensemblespiels«2 zu haben. Angeschlossen ist die ursprünglich »Akademie für ethische und ästhetische Kultur« benannte Schauspielschule ans Schauspielhaus Düsseldorf. Das Privattheater war 1904 durch die für ihre hohe Sprachkultur berühmte Schauspielerin Louise Dumont, die heute gerne als »Neuberin des 20. Jahrhunderts« bezeichnet wird, und den Regisseur Gustav Lindemann gegründet worden, und zwar als Schauspielhaus Düsseldorf GmbH mit einem Stammkapital von 600000 Mark, an dem die Dumont mit einer Stammeinlage von 260000 Mark sowie weiteren 50000 Mark über eine Kapitalvertreterin und Gustav Lindemann mit 50000 Mark beteiligt sind – also die Stimmenmehrheit im Aufsichtsrat der Gesellschaft besitzen. Louise Dumont, 1862 als Tochter des Kölner Kaufmanns Hubert Heynen geboren, hatte von 1888 an zehn Jahre lang am Königlichen Hoftheater in Stuttgart, dann am Deutschen Theater Berlin gespielt und dort unter der Direktion von Otto Brahm, dem wesentlichen Förderer des Naturalismus, ihre größten Erfolge in Stücken Henrik Ibsens gefeiert. 1903 hatte sie sich der »Internationalen Tournée Gustav Lindemann« angeschlossen. Der zehn Jahre jüngere Regisseur, in Danzig als Sohn eines jüdischen Kaufmanns zur Welt gekommen, hatte ebenso wie die Dumont das Ziel eines eigenen Theaters mit fester Spielstätte, das frei sein sollte von den Mängeln der naturalistischen Spielweise verfolgt, und so hatten die beiden bald beschlossen, eine gemeinsame Bühne zu gründen. Eine Verwirklichung dieses Planes in Weimar war an Intrigen gescheitert, auch die möglichen Alternativen Darmstadt und Köln waren ausgeschieden, daher hatten sich Louise Dumont und Gustav Lindemann (den sie 1907 in London ehelichte) schließlich für Düsseldorf entschieden. Nach nur 234 Tagen Bauzeit hatte man dort 1905 das Schauspielhaus an der Ecke von Karl-Theodor-Straße und Kasernenstraße, gegenüber der im Vorjahr eingeweihten Synagoge, eröffnen können. Das Foyer und der rund 950 Besucher fassende, in den Farben Weiß, Grau und Rot gehaltene Zuschauerraum befinden sich in einem relativ niedrigen Bau mit zwei repräsentativen Fassaden im Louis-Seize-Stil, hinter dem das 28 Meter hohe, in zeitgenössischer Fabrikarchitektur mit Zinnen und Türmen burgartig gestaltete Bühnenhaus emporwächst. Die Bühne hatte man mit den neuesten theatertechnischen Errungenschaften wie einer 14 Meter breiten Drehbühne, in die drei große Versenkungen integriert sind, ausgerüstet.
Das Schauspielhaus Düsseldorf, das sich rasch den Ruf erworben hatte, ein dem Dichterwort verpflichtetes Theater der feierlichen Kunstausübung zu sein, und als eine der führenden Bühnen Deutschlands gilt, ist jedoch seit einiger Zeit massiven Angriffen von deutsch-nationaler Seite ausgesetzt. An der Spitze der Gegner steht Gustav Luhde, Kritiker der Düsseldorfer Zeitung, der sich heftig über die Beschäftigung von Gustav Landauer als Dramaturg und Schriftleiter der theatereigenen Zeitschrift Masken echauffiert hatte. Aber auch nachdem Landauer, Mitglied der Münchner Räteregierung, am 2. Mai 1919 im Gefängnis Stadelheim ermordet worden ist, attackiert Luhde weiterhin die »individualistisch-anarchistisch zersetzenden Wesenstendenzen der Direktion Dumont-Lindemann, die ihr redliches Teil dazu beigetragen hat, das heutige allgemeine Chaos vorzubereiten«3. Entnervt von solchen Pressekampagnen und zudem vom Versuch des Arbeiter- und Soldatenrats, Einfluß auf Repertoire und Besetzung zu erzwingen, hatten Louise Dumont und Gustav Lindemann im Frühjahr 1919 angekündigt, die Leitung des Schauspielhauses an die beiden Schauspieler und Regisseure Paul Henckels und Fritz Holl (den Vater der später mit Gründgens gut befreundeten Schauspielerin Ruth Hellberg) sowie den schwedischen Bühnenbildner Knut Ström zu übergeben – »und das war für uns besonders schön und günstig, weil sich nun Frau Dumonts ganze Kraft und Arbeit auf die Schule konzentrierte«, erzählt Gründgens 1931 in den Düsseldorfer Nachrichten. »Mir ist heute allein die Qualität unserer Arbeit unfaßbar. Wir haben alle geschuftet wie die Wilden. Aus reinem Vergnügen, aus lauter Überschwang, ohne Aufforderung. Unfaßbar auch die Geduld, mit der Frau Dumont all diese Temperamentsausbrüche über sich ergehen ließ. Viermal Balkonszene aus ROMEO UND JULIA, dreimal Faust und Mephisto, zehnmal Gretchen in einer Unterrichtsstunde gehörten zur Tagesordnung. Von Strindberg und Wedekind ist kein Satz ungesprochen geblieben; ich glaube hier hat jeder jede Rolle probiert und vorgesprochen. Und als wir erst die Werfelschen Gedichte in die Hand bekamen!«4
Zu den Lehrkräften gehören außer der Dumont unter anderem der Schul- und neue Theaterleiter Fritz Holl sowie Peter Esser, der gefeierte Hamlet des Schauspielhauses. Elsa Dalands, ehemals als Sängerin tätig, unterrichtet morgens um acht im Foyer des Schauspielhauses Sprechtechnik – Gründgens soll »in stimmtechnischer Hinsicht freilich bis zuletzt ihr Sorgenkind«5 gewesen sein. Im Anschluß lehrt Paul Henckels rhythmische Gymnastik und Atemtechnik, er zeigt sich vor allem von Gründgens’ tänzerischem Talent überzeugt. Im Schuljahr 1919/20 gehören zu den 47 Schülern6 der Höheren Bildungsanstalt für Bühnenkunst die gemeinsam mit Gründgens an den Hamburger Kammerspielen und später lange Jahre an den Städtischen Bühnen Frankfurt tätige Ellen Daub, der ab 1922 ebenfalls an den Hamburger Kammerspielen engagierte und nach 1930 durch seine humorvolle Darstellung skurriler Alltagsmenschen als Filmkomiker populäre Paul Kemp sowie Walter Oehmichen, der 1948 die Augsburger Puppenkiste gründen wird. Die in den USA aufgewachsene Till Klokow wird in Berlin ebenso mit Gründgens spielen wie die kindlich aussehende Margarete Koeppke. Besonders befreundet ist Gründgens mit zwei Mitschülern: mit Renée Stobrawa7 und Hanns Böhmer. »Wir hatten keinen gemeinsamen Pfiff, aber wir erkannten uns kilometerweit an den Dalandschen Ba-Be-Bi-Bo-Bu-Übungen, die wir auf dem Hin- und Rückweg zur Schule übten. Wir mußten uns einen Punkt in der Luft denken und dann das Ba über den Kopf dahin werfen«, wird sich Gründgens erinnern.
Der erwähnte Hin- und Rückweg zur Schule führt Gründgens täglich über die Grenze, da das linksrheinische Düsseldorf seit dem 4. Dezember 1918 von belgischen Truppen besetzt ist. Und trotz eines Dauerpassierscheins wird auch er akribisch kontrolliert, denn es ist verboten, Lebensmittel vom linken zum rechten Ufer hinüberzubringen (nicht aber umgekehrt), »Zeitungen, Briefe, bedruckte Sachen irgendwelcher Art«8 dürfen weder ein- noch ausgeführt werden. Seit März 1918 lebt die Familie Gründgens an einer der schönsten Straßen Oberkassels, dem von schirmförmig gestutzten Platanen gesäumten, vornehmen Kaiser-Wilhelm-Ring, der den Rhein und die Rheinwiesen entlang verläuft. Nahe der Oberkasseler Brücke, im Haus Nr. 18, 1899 durch den berühmten Architekten Heinrich Krings im holländischen Patrizierstil erbaut, hat Arnold Gründgens eine der drei gut 100 Quadratmeter großen Wohnungen gemietet, zudem dient ein in einem Anbau gelegenes Zimmer als Bleibe für das Dienstmädchen Johanna Schwab – die nun die frisch gelernten Texte des Schauspielschülers Gründgens abhören muß.9
Schon gleich zu Beginn ihrer auf zwei Jahre angelegten Ausbildung, die neben den Fächern Atemkunst, Sprechtechnik, Fechten, Ästhetische Gymnastik und Rhythmische Gymnastik auch Philosophie, Literaturwissenschaft und Kostümkunde umfaßt, werden die Schüler in Vorstellungen am Schauspielhaus beschäftigt, freilich ohne dafür eine Vergütung zu erhalten. Gründgens tritt erstmals am 19. April 1919 – also zweieinhalb Wochen nach Unterrichtsbeginn – in Leo Tolstois LEBENDEM LEICHNAM auf. Er spielt den Lakai des Lebemanns Afremow, den Adolf Dell verkörpert, den Fedja gibt Peter Esser, dessen Frau Lisa die Schweizerin Ellen Widmann, die 1931 die Mutter Beckmann in Fritz Langs Film M darstellen wird. Statisterie und kleine Rollen wie Friedrich von Herrnstadt in Kleists KÄTHCHEN VON HEILBRONN in der Regie von Paul Henckels folgen. Von einem Kollegen übernimmt Gründgens den die Thisbe spielenden Bälgenflicker Flaut in William Shakespeares SOMMERNACHTSTRAUM, inszeniert von Gustav Lindemann. In HAMLET gibt er mal den Priester, mal – statt des erkrankten Adolf Dell – den Güldenstern. Ebenfalls als Rollenübernahme vertraut man dem Schauspielschüler den Hofmarschall von Kalb in Friedrich Schillers KABALE UND LIEBE an. Die Aufgaben sind so zahlreich, daß sich der überlastete Gründgens an die Direktion wendet: »Leider ist es mir gänzlich unmöglich, den Anforderungen, die in letzter Zeit an mich gestellt werden, gerecht zu werden. Mit Ausnahme von MUSIK10 befindet sich kein Stück auf dem Repertoire, in dem ich nicht beschäftigt bin. Und die mir zugewiesenen Aufgaben sind (mit Ausnahme von ROBERT UND BERTRAM11) derart, daß sie jeder andere Schüler spielen könnte. Ich bitte herzlich, mich nicht mißverstehen zu wollen. Nicht weil ich mir zu erhaben vorkäme, diese oder jene kleine Rolle zu spielen, sondern lediglich in der Einsicht, daß man mit dem Heranziehen der Schüler zu Rollen und Statisterie gleichmäßiger verfahren könnte, schrieb ich diesen Brief. […] Was ich in letzter Zeit an der Akademie durchmachen mußte, hat mich seelisch so heruntergemacht, daß ich einfach nicht mehr kann. Und da ich ganz haltlos bin und von keiner Seite ein Entgegenkommen mehr finde, habe ich meine Begeisterung für die Sache und meinen Ehrgeiz, hier etwas zu erreichen, verloren.«12 Er bittet darum, unter anderem in Lessings MINNA VON BARNHELM umbesetzt zu werden – daß sich Gründgens jedoch ausgerechnet mit der ihm zugedachten Rolle des Hochstaplers Riccaut de la Marlinière unzufrieden zeigt, ist der Direktion »unerklärlich«. »Daß Sie es unter Ihrer Würde erachten, für Herrn Hannemann in Gelsenkirchen die Rolle des 2. Dieners zu übernehmen, wirft ein sehr bedenkliches Licht auf die Art, wie Sie innerlich zu Ihrer Berufsarbeit stehen. […] Wir verkennen nicht, daß Sie in der letzten Zeit sehr viel zu tun hatten, wir waren stets der Meinung, daß Ihre Bühnensicherheit und weitere Ausbildung sehr fördernde Tätigkeit Ihnen erwünscht sei. Es tut uns leid, daß wir uns in dieser Beziehung getäuscht haben.«13 Es bleibt dabei: Den Riccaut muß Gründgens in einer Nachmittagsvorstellung an Stelle von Henckels, der abends in einer anderen Inszenierung beschäftigt ist, spielen.
»Ehrfurcht vor unserem Beruf und die Tatsache, daß Kunst nur auf dem Boden der Wahrheit und der Wirklichkeit gedeihen kann«14, habe ihn die Hochschule für Bühnenkunst gelehrt, wird Gründgens gut drei Jahrzehnte später formulieren. Die Unterrichtsstunden bei Louise Dumont und Gustav Lindemann, vor allem aber »das vorgelebte Leben«, der »vorgelebte […] Ernst«, hätten ihm »einen wirklichen Fonds fürs Leben mitgegeben«15. Prägend für den Regisseur und sein oft mißverstandenes Ideal der werktreuen Interpretation wird Dumonts Postulat, das Theater habe der dramatischen Dichtung zu dienen, die jeweils aus ihrem individuellen Stil heraus gestaltet werden soll. Die auf Überzeitlichkeit zielenden Inszenierungen in Düsseldorf werden von der Dominanz der Sprache über mimischen und gestischen Ausdruck geprägt und gehen nicht von der Situation, sondern vom Wort, vom Wortsinn, dem Rhythmus und der Dynamik des Dialogs aus. Louise Dumonts und Gustav Lindemanns literarisiertes Theater zelebriert die reine theatrale Kunst als hehres, festliches Ereignis, ja fast als kultisches Weihespiel – ganz im Gegensatz etwa zum sinnlichen, visuell betonten Theater Max Reinhardts, das man am Schauspielhaus Düsseldorf als äußerliches Komödiantentum empfindet. So steht bei der entschiedenen Verfechterin des Ensemblegedankens auch nicht der einzelne – womöglich prominente – Schauspieler im Zentrum der künstlerischen Bemühungen, der Dumont kommt es allein auf das Wort des Autors an. Theater ist kein Geschäft, wie es in ihren Augen der Antipode Max Reinhardt betreibt, sondern priesterlicher Dienst an der hohen Dichtung. Von den Schauspielern erwartet sie folglich eine von persönlichen Eitelkeiten freie Vermittlerrolle zwischen Kunst und Leben – nicht aber unbedingt priesterliche Askese: »Bi-Sexualität! Sie schadet nicht. Seid ihr begabt, dann flutet’s ineinander!«16 soll sie den Schülerinnen und Schülern zugerufen haben. Louise Dumont selbst pflegt ein immer distanzierteres Verhältnis zu ihrem Ehemann und schenkt alle Zuneigung ihrem jeweiligen »Liebling«: der jungen Schauspielerin, die sie gerade favorisiert.
Welche sexuellen Erfahrungen der Schauspielschüler Gründgens macht, ist nicht überliefert, doch entdeckt der Bürgersohn in dieser Zeit das Bohemeleben: »[…] wir saßen Nächte durch in Ateliers uns befreundeter Maler; ich erinnere mich an einen Abend in der Gegend um die Worringer Straße: wir waren etwa zwanzig und saßen auf der Erde um eine große Schüssel Kartoffelsalat. An der Wand hing ein großes Bild des Atelierbesitzers, Glockenläuten darstellend. Und Karl Hannemann las vor; stundenlang, erbarmungslos; eigene und fremde Sachen.«17 Im Restaurant Zum Storch an der Derendorfer Straße, dem Vereinslokal des Künstlervereins »A. V. Laetitia«, der bereits 1878 als studentische Verbindung für die angehenden Künstler der Akademie entstanden war, tritt Gründgens in einigen kurzen dramatischen Grotesken des »Dandys vom Rhein« Hermann Harry Schmitz auf18 und spielt unter anderem in IST WOHLGETAN, IST WOHLGETAN die Rolle des Knüller (»ein Blinder aus der III. Etage«) sowie den Kaspähr Fröbel (»ein Naivling, an beiden Beinen gelähmt«) im Stückchen DIE PHILOSOPHEN. DAS MYSTERIUM DES SONNENSTICHS: »An einem Augusttag, bei 40 Grad Hitze, ward solange wegen einer überreifen Leiche geredet, bis diese sich nicht mehr riechen konnte und sich kurzerhand selber beseitigte.«19 »Oder wir spielten im Aktivistenbund, in der Rosenstraße war er beheimatet, das neueste Stück des damals so fruchtbaren Karl Hannemann oder irgendeines anderen von uns.«20 Im Haus des Chemikers und Photographen Erwin Quedenfeldt in der Rosenstraße 28 halten die Mitglieder des von diesem Mitte 1919 gemeinsam mit dem Schriftsteller Herbert Eulenberg, dem Mitbegründer des »Jungen Rheinlands«, ins Leben gerufenen »Aktivistenbundes 1919« ihre Zusammenkünfte ab, einer Vereinigung linker Intellektueller, bildender Künstler, Literaten, Theaterleute und Journalisten »in tätiger Feindschaft gegen die zu seelenlosem Formalismus erstarrte Tradition«21, so Quedenfeldt.
»Wer sich in der Schule, auf den Aktivistenbünden, Morgenveranstaltungen und Schulfeiern noch nicht genug austoben konnte, durfte mit Eugen Dumont schmieren gehen«22, wird sich Gründgens im Rückblick erinnern. Vor allem während des Sommers tingelt der geschäftstüchtige Dumont – nicht verwandt oder verschwägert mit der Prinzipalin – mit »Bunten Abenden«, dargeboten von einem aus Schauspielschülern zusammengestellten Ensemble, zu dem auch Gründgens zählt, über die Dörfer, hochstaplerisch beworben als »Gastspiel des Düsseldorfer Schauspielhauses«23. Während der Spielzeit gastiert man vor allem in der näheren Umgebung Düsseldorfs, etwa im »Vossen links«, dem beliebtesten Ausflugslokal Oberkassels. Auch der Bühnenbildner Traugott Müller, mit dem Gründgens am Berliner Staatstheater eng zusammenarbeiten wird, ist dort tätig: Seine erste – verläßlich nachgewiesene – Bühnendekoration überhaupt entsteht für eine Aufführung von Hugo von Hofmannsthals DER TOR UND DER TOD am 20. Februar 1920 im »Vossen links«.
Das Zeugnis der Hochschule für Bühnenkunst attestiert Gustav Gründgens, wie sich der Schauspielanfänger ja noch immer schreibt, »ein ungewöhnliches Talent für die sinnfällige Ausformung der seelischen Struktur problematischer Naturen; seine starken Ausdrucksmittel sind mit energischem Willen gepaart und gut diszipliniert. Das nervöse Temperament, das der leisesten Anregung folgt, weist zunächst auf erfolgreiche Gestaltungen aus der modernen Literatur, ohne Beschränkung auf die Verkörperung nur jugendlicher Personen. Bei einem ungestörten Verlauf der Entwicklung dürfte der Gestaltungskraft Herrn Gründgens’ das ganze Gebiet kompliziertester Charakterrollen in der klassischen dramatischen Dichtung offenstehen.«24 Es wird bereits am 28. Mai 1920 ausgestellt, damit sich Gründgens wie alle Schüler schon vor dem eigentlichen Ende der Ausbildung um ein Engagement bewerben kann. Das Schülerverzeichnis der Hochschule für Bühnenkunst nennt zwar den 1. Juli 1920 als offizielles Austrittsdatum, doch erst am 13. Juli findet die Abschlußaufführung der Hochschule statt, bei der Gründgens zusammen mit Margarete Löschhorn, die 1924 den Schriftsteller Kurt Heynicke heiraten wird, eine Szene aus Shakespeares RICHARD III. zeigt.
Im selben Monat spielt Gründgens erstmals an der Düsseldorfer Freilichtbühne für Volkskultur, die, 1919 errichtet, 1700 Zuschauer faßt. Unter der Regie seines Lehrers Paul Henckels wirkt er vom 4. Juli an in einem Abend mit vier kurzen Stücken von Hans Sachs mit, dann im Märchen HÄNSEL UND GRETEL und schließlich ab 29. Juli in gleich zwei Rollen in Shakespeares WAS IHR WOLLT: als Curio und als Fabio. Danach reist er erst einmal für einige Tage nach Berlin, wo er – ob großzügig finanziert vom Vater oder in Erwartung der ersten Gage, bleibt unklar – im eleganten Eden-Hotel am Zoologischen Garten absteigt, einem der größten und luxuriösesten Hotels, das erst im Jahr zuvor in die Schlagzeilen geraten war: Im Januar 1919 hatte man Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg dorthin verschleppt und sie nach Mißhandlungen durch Soldaten der Garde-Kavallerie-Schützendivision während des Abtransports ermordet. Die Bar des Eden-Hotels, die auch Gästen offensteht, die nicht im Hotel wohnen, wird Gründgens Ende der 20er Jahre noch häufig frequentieren. Doch zunächst schnuppert der Schauspielschulabsolvent nur ein bißchen an jener großen Welt, zu der er so gerne gehören würde …