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7. Der Monokelprinz
ОглавлениеSeinen »Lebenshunger« kann Gründgens in Hamburg zweifellos stillen. Hatten ihn in Kiel seine »antiprovinzielle Erscheinung und seine exzentrische Individualität […] in dieser bürgerlichen Stadt zu einem umstrittenen Sonderfall«1 gemacht, wie Hans Söhnker rückblickend meinen wird, so bietet Hamburg mit über einer Million Einwohnern ein ganz anderes Umfeld. Es ist in den 20er Jahren ein Mittelpunkt moderner Kunst, nicht mit Berlin vergleichbar, aber alles andere als provinziell, und hat als Hafenstadt internationales Flair. »Im chinesischen Restaurant sangen sie beim Tanzen, die ganze Belegschaft, einstimmig und brausend – eine kleine Blonde hatte eine Kehle aus Blech – es klang wie aus einer Kindertrompete. Südamerikaner tanzten da und Siamesen und Neger. Die lächelten, wenn die kleinen Mädchen kreischten. Ich suchte, ob die Somali von Hagenbeck Vertreter entsandt hätten – aber so schön war hier niemand«2, heißt es in einem Feuilleton von Peter Panter alias Kurt Tucholsky. Und der englische Schriftsteller Stephen Spender beschreibt die Atmosphäre so: »Flache Häuser, Expressionismus, atonale Musik, Schwulenkneipen, Nacktkultur […]. Das Mondäne überdeckte alles. Es war leicht, modern zu sein. Man brauchte sich nur auszuziehen.«3
Hier stört sich kaum jemand daran, wenn ein junger Schauspieler wie Gründgens sein Bohemeleben exaltiert zur Schau stellt. Er trägt am liebsten einen langen, schon etwas schäbigen Ledermantel, im Gesicht ein silbernes Monokel, mitunter auch derer zwei – gleich ein halbes Dutzend besitzt er davon. So rast er auf dem Sozius von Paul Kemps Motorrad durch die Stadt, und so frequentiert er nicht nur die »HaKa« genannte Theaterkneipe der Kammerspiele, den bevorzugten Intellektuellen- und Künstlertreffpunkt der Stadt – vergleichbar dem Café du Dôme in Paris oder dem Romanischen Café in Berlin –, wo viele, unterhalten vom Klavierspiel des jungen Peter Kreuder und den Chansons, die Gründgens gelegentlich darbietet, am liebsten die günstigen Bratkartoffeln mit Senf essen und trotzdem anschreiben lassen müssen. Er verkehrt auch in den einschlägigen Hafenkneipen und Nachtlokalen St. Paulis, im Ballhaus Alkazar in der Reeperbahn 110 etwa, einem der großen Varietés auf der Meile, in dem auch die Nackttänzerin Anita Berber auftritt, oder in der Scala am Schulterblatt, in der die ebenso skandalträchtige Celly de Rheydt (alias Cäcilie Schmidt aus Rheydt bei Mönchengladbach) gastiert. Besonders gerne besucht Gründgens das im Keller der Großen Freiheit 10–12 gelegene Hippodrom, wo ein Stallmeister die Pferde traben läßt, die die Besucherinnen gegen einen Obolus reiten dürfen und auf denen sich manche Huren zum Kundenfang nackt präsentieren4 – nur manchmal freilich, nicht immer: »Es waren nicht nur Nachtbräute da, auch Tagesdamen und Familien mit Schwägerin, Tante und Großmama, denn es war Sonnabend«5, berichtet Tucholsky. Im 1944 gedrehten Film GROßE FREIHEIT NR. 7 tritt Hans Albers in diesem Hippodrom als singender Seemann auf, 1961 werden in diesem Gebäude die Beatles spielen.6 Doch Gründgens, »ein verhätscheltes Kind, ein Monokelprinz – ein gefährlich Wissender«7, pflegt nicht nur den Geist des épater le bourgeois, er experimentiert mit seinem Image, sucht sein Selbstbild, ja er scheint geradezu pubertär eine zweite Adoleszenz zu durchleben. Den Eltern in Düsseldorf berichtet er: »Mich packen alle Erschütterungen und alle Jubel stärker. Ich liebe schmerzlicher und bekomme tiefer Liebe. Ich lebe und muß leben in den Extremen. Die Mitte bietet keine Luft, in der ich atmen kann. Mein Glück ist tiefer, reiner und schöner und mein Unglück ist verzweifelter, hoffnungsloser und qualvoller. Ich erlebe in einer Stunde mehr, als mancher in seinem Leben. Dabei stürze ich mich nicht herein, es drängt sich an mich. Und so bin ich in meinem Glück unglücklich und in meinem Unglück glücklich. Doch das Wesentlichste ist, ich bin zufrieden (zufrieden damit, daß ich ewig unzufrieden bin). Es lebe die Unlogik des Denkens. Es lebe die Logik des Gefühls. Es lebe die Individualität des Einzelnen.«8
Das Theater spielt in den 20er Jahren eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben der Hansestadt und spiegelt zugleich die soziale Umbruchsituation. Den entscheidenden Impuls für die Entfaltung innovativer künstlerischer Kräfte hatte das Schauspielerehepaar Erich Ziegel und Mirjam Horwitz 1918 mit der Gründung der Hamburger Kammerspiele gesetzt.9 Ziegel, 1876 in Schwerin an der Warthe, dem heutigen Skwierzyna, geboren, hatte 18jährig am Meininger Hoftheater debütiert, nach dem klassischen Weg durch die Provinz am Schiller-Theater in Berlin gespielt und dort seine spätere Frau, die 1882 in Berlin zur Welt gekommene Mirjam Horwitz kennengelernt. 1913 waren beide an die Münchener Kammerspiele gegangen, er als Direktor, sie als Schauspielerin, von dort 1916 nach Hamburg: Ziegel hatte am Thalia-Theater inszeniert, Horwitz am Deutschen Schauspielhaus gespielt. Das 1900 eröffnete Deutsche Schauspielhaus an der Kirchenallee – zu dieser Zeit ein 1848 Zuschauer fassendes Privattheater ohne staatliche Förderungen, das Ziegel spöttisch als »hanseatisch-republikanisches Hoftheater«10 tituliert – gilt unter der Direktion des Schweizers Paul Eger als konservative, ästhetizistische Klassiker-Bühne und macht dem bereits 1843 gegründeten Thalia-Theater (seit 1912 in einem Neubau mit 1325 Plätzen am Pferdemarkt, dem heutigen Gerhart-Hauptmann-Platz) Konkurrenz, wo Direktor Hermann Röbbeling, in erster Linie auf Rentabilität bedacht, das bürgerliche Gesellschaftsstück pflegt, aber 1926 auch einen HAMLET im Frack und zu Jazzmusik zeigt. Daneben etablieren sich die wesentlich kleineren Kammerspiele rasch als Spielstätte moderner Stücke und entwickeln sich zu einer Hochburg expressionistischer Dramatik. Man will »dem lebendigen Geist dienen […], Forderung und Weltvision der Wertvollsten zu eindringlicher Gestaltung bringen«11, erläutert man die programmatische Zielsetzung, »ohne jedes Zugeständnis an Seichtheit und fades Unterhaltungsbedürfnis«12. So wird das Repertoire bestimmt von Autoren wie Frank Wedekind, August Strindberg, Georg Kaiser, Carl Sternheim, Paul Kornfeld, Ernst Toller und Klabund, nebenbei müssen dann aber doch auch einige populäre Unterhaltungsstücke für die notwendigen Einnahmen des mit einem Stammkapital von 200000 Mark als GmbH geführten Privattheaters sorgen, klassische Werke gibt man hingegen eher selten.
Einen besonderen Blick haben Ziegel und seine Frau für aufstrebende junge Talente: Fritz Kortner, zuvor freilich schon in Berlin arriviert, und der noch unbekannte Regisseur Erich Engel finden hier Entfaltungsmöglichkeiten, ebenso Hubert von Meyerinck. Gründgens wird als Nachfolger von Rudolf Fernau engagiert (in den 30er und 40er Jahren mit Filmen wie DR. CRIPPEN AN BORD der profilierteste Interpret asozialer und krimineller Protagonisten). Mit ihm werden unter anderem sein einstiger Mitschüler, der besonders im komischen Fach talentierte Paul Kemp, der jugendliche Held Hans Otto, Fritz Holls zarte Tochter Ruth Hellberg, der schlesische Gutsbesitzer-Sproß Victor Kowarzik, der sich später den wohlklingenderen Namen Victor de Kowa zulegt, Werner Hinz, Josef Dahmen, Wolfgang Heinz, Herbert Grünbaum, Ernst-Fritz Fürbringer und Siegfried Schürenberg auf der Bühne am Besenbinderhof stehen – sie alle avancieren zu bekannten Bühnen- und Filmdarstellern. »Bei Ziegel engagiert zu sein, das war für jeden Schauspieler ein Sehnsuchtsengagement«, wird sich Victor de Kowa erinnern. »Gage gab es wenig. Was kümmerte es uns? Was machte es aus, wenn die Proben bis in die Nächte dauerten? Wenn in der vermieften Garderobe das Grundwasser stand? Da hockten wir im Winter beieinander auch außerhalb von Proben und Aufführungen. Hier kochten uns mitleidige Kolleginnen Kaffee. Hier stopften wir brav unsere Strümpfe. Der große Gustaf inbegriffen. Samt Monokel und immer viel zu langem Haar. Es war noch etwas Boheme in diesen Jahren bei Ziegel.«13
An den Hamburger Kammerspielen ist ein »Kräftefeld«14 entstanden, so Erich Engel, in dem unterschiedlichste künstlerische Temperamente mit einem ebenso gemischten Publikum zusammentreffen. Man kann gleichzeitig ein »ausgesprochen literarisches, an wirklicher Kunst interessiertes Publikum und solches, das dafür gelten möchte«, antreffen, »viel schöne Frauen, viel Hornbrillen; Wandervögel; viel junge Menschen«15. Neben »ernsthaften Kunstfreunden« sitzen »Schieber und Damen in sehr modernen Kostümen, nach starken Eindrücken lüstern«16. Weniger modern ist indes das im Parkett und einem Rang 742 Zuschauer fassende, technisch nur unzulängliche Theater, das Ziegel mal liebevoll »ein bißchen schäbig und ein bißchen romantisch«17, dann wieder ernüchtert einen »rachitischen alten Kasten«18 nennt (und das schon 1928 abgerissen wird). Auch die Lage in einem Hinterhof ist alles andere als günstig: Am Besenbinderhof, einer breiten, von Grünstreifen durchzogenen Allee, weist nur ein Schild über dem Durchgangsbogen des Mietshauses Nr. 50 darauf hin, daß sich dort ein Theater verbirgt. Durch einen tunnelartigen Gang, auf dessen beiden Seiten Theaterzettel, Photos und Plakate in Aushangkästen präsentiert werden, gelangt man zu einem zweiteiligen Flügeltor, dahinter führt eine breite Treppe tief hinunter in den Innenhof. Auf einem Absatz rechter Hand befindet sich das mit Schauspielerphotos und Bildern von Malern, die dort verkehren, bepflasterte Theaterlokal »HaKa«, unten schließlich, zwischen Kastanien und Akazien durchaus idyllisch gelegen, das eigentliche Theater: ein eher niedriges Jugendstilgebäude mit schmaler Säulenvorhalle.
Gründgens wird zunächst wieder einmal von Geldsorgen geplagt. »Ich sitze hier […] in einer unbeschreiblichen Klemme. […] Denn denk’ mal die Reise, der Koffertransport, Hotel (1 Tag) etc. Jetzt logiere ich auf der Chaiselongue«, schreibt Gründgens, der vorübergehend in der Wohnung von Clemens Schuberts Schwager, dem Zahnarzt Carl Lehmann, in der Lübeckerstraße 131 untergekommen ist, seiner Mutter. »Heute fand ich eine Wohnung! Endlich! […] Nun kann ich aber nicht umziehen, weil ich kein Geld habe. Denn ich muß vierzehn Tage vorauszahlen. Die Kammerspiele sind (ein trauriges Zeichen der Zeit, als literarisches Privattheater) nicht in der Lage, einen größeren Vorschuß zu gewähren. Es klingt unglaublich, aber es ist so! (Es handelt sich um die Existenz des Theaters.) […] Also um Gottes willen schickt Geld, sonst ist alles aus, und zwar telegraphisch (bitte, bitte umgehend) und möglichst noch mehr als zehn Millionen. Ich hoffe, Euch einstmals alles vergelten zu können, aber helft mir jetzt! Ich muß wenigstens bei meiner ersten Rolle ein Dach überm Kopf haben.«19 Sein am 19. April unterzeichneter »Normalvertrag« garantiert Gründgens monatlich 440000 Mark »Märzgrundgage«, »dazu kommen alle tariflich festgesetzten Teuerungszuschläge ab 1. April«20: Deutschland befindet sich in der Hyperinflation. Als Gründgens am 25. August 1923 mit den Proben beginnt, muß man für einen Dollar nicht mehr 50000 Mark bezahlen, wie noch im Februar, sondern 50 Millionen. Um einen gewöhnlichen Brief zu frankieren, braucht man eine 75000-Mark-Briefmarke, Anfang Oktober beträgt das Briefporto schon 2 Millionen, sechs Wochen später 10 Milliarden. Ein einziger Dollar ist dann 4,2 Billionen Mark wert – oder vielmehr 4,20 Rentenmark: Am 15. November wird die Inflation mit der Einführung der mit der späteren Reichsmark wertgleichen Rentenmark beendet. An Gründgens’ ständigen Finanznöten ändert das freilich wenig. Er lebt auf Pump, läßt anschreiben, fährt aber dennoch leidenschaftlich Taxi. »Wenn er kam, rief er schon: Struck geh raus, bezahl das Taxi! Hier hast du ein Photo von mir oder irgendetwas. […] Ja, anstelle von Geld hat er mir ein Photo mit Autogramm gegeben«21, wird sich sein Garderobier erinnern. Fahrten mit der Straßenbahn oder dem Omnibus verabscheut er zutiefst. Dennoch dichtet er über das Schwarzfahren: »Ich der Ärmste von euch allen / bin dem Omnibus verfallen […]. / Warum soll ich denn, gerade ich denn / Meinen Obolus entrichten?«22
Gustaf Gründgens im Kostüm des Geisterbeschwörers aus Shakespeares Komödie der Irrungen, Hamburger Kammerspiele, 1923
© Theatermuseum Düsseldorf
Sein Hamburger Debüt gibt der 23jährige Gründgens, der seit dem Abschluß seiner Schauspielausbildung vor drei Jahren über 80 verschiedene Rollen gespielt und sich große Routine erworben hat, am 8. September 1923 »in einer glänzenden Rolle«23, wie er selbst findet, nämlich als Aloysius Wolkenwind in Hugo Wolfgang Philipps grotesker Tragödie DER CLOWN GOTTES. Zu Jahresbeginn 1923 an drei Häusern gleichzeitig uraufgeführt, hat sie sich rasch zu einem der erfolgreichsten Theaterstücke auf deutschen Bühnen entwickelt und den Autor quasi über Nacht zum Star der Literaturszene gemacht. Der erfolglose Maler Wolkenwind, seit langem von Schulden bedrückt und von Gläubigern bedrängt, kapituliert vor einer kunstfeindlichen Gesellschaft, indem er seine künstlerische Existenz selbst auslöscht: Er besorgt sich die Papiere des verstorbenen Hieronymus Siebenkäs und schiebt die seinen dem Toten unter. Doch dann wird er als Mörder Wolkenwinds – also als Mörder seiner selbst – zum Tode verurteilt. Am Schluß kriecht der vermeintliche Delinquent unterm Schafott hervor und erhebt sich als Prometheus. Regie bei dieser Tragigroteske um den Stellenwert der Kunst, die Individualität des Künstlers und das Überleben des Einzelnen in einer menschenfeindlichen Welt führt der Gründgens aus vielen Arbeiten vertraute Clemens Schubert, den Staatsanwalt gibt Karl Zistig, bei dem der Soldat Gründgens einst einige Schauspielstunden genommen hatte. Die Presse lobt den »verheißungsvollen«24 Neuzugang, »der sich hier mit einer imponierenden Leistung zeigen konnte, der neben einer puppenhaften Sprache gelenkiger Gliedmaßen auch über den einfachen Menschenschrei jenseits aller Rednerei verfügt«25. Acht Tage später übernimmt Gründgens den Grafen in Arthur Schnitzlers skandalträchtigem REIGEN, dann folgen zumeist kleinere Parte, immerhin aber auch – »komisch durch die Bewegungen, Gesten, Gebärden, durch das Augenrollen, das Schlenkern der langen Arme und Beine«26 – die Titelrolle in Paul Kornfelds Charakterkomödie PALME ODER DER GEKRÄNKTE und der Schauspieler Albert Becher in Paul Apels heiterem Traumspiel HANS SONNENSTÖßERS HÖLLENFAHRT. 1936 wird das Stück in Gründgens’ Bearbeitung und Inszenierung, mit Chansons versehen und mit ihm selbst in der Titelrolle einer der größten Erfolge am Berliner Staatstheater. Gründgens, durchaus zufrieden, »eine sehr, sehr schöne Stellung […] gefunden zu haben«, charakterisiert seine schauspielerische Entwicklung selbst so: »Also als Typ: ein etwas neurasthenischer Henckels mit jugendlichem Bonvivant-Einschlag«27. Weiß er, was er mit dem Hinweis auf die Modekrankheit Neurasthenie (eine erhöhte Reizbarkeit und herabgeminderte Leistungsfähigkeit der Nerven aufgrund der Überlastung durch geistige Tätigkeiten) bekennt? Für Sigmund Freud zählt diese zu den Aktualneurosen, die durch eine inadäquate Verarbeitung der Libido verursacht werden, wesentliche Symptome sind Schlafstörungen und Kopfschmerzen – wenige Jahre später die Probleme, die Gründgens am meisten belasten.
Schon in seiner zweiten Spielzeit entwickelt sich Gründgens zu einem »Senkrechtstarter«, wie ihn die Stadt lange nicht gesehen hat. Er darf sich auch in Hamburg als Regisseur versuchen und inszeniert – mit dem berühmten Albert Steinrück als Gast – Octave Mirbeaus Boulevardstück GESCHÄFT IST GESCHÄFT, das am 26. August 1924 Premiere hat; noch in derselben Saison führt er unter anderem Regie bei Georg Kaisers KOLPORTAGE mit sich selbst in der wirkungsvollen Rolle des Acke, bei Shaws Komödie HELDEN, in der er einen sarkastischen Bluntschli gibt, und – mit sich als Dr. Jura – bei Hermann Bahrs KONZERT, einem Stück, das ihn bis ans Lebensende begleiten wird. Er zeichnet unter Ziegels Regie den Junker Andreas von Bleichenwang in Shakespeares WAS IHR WOLLT als lächerlichen Korpsstudenten mit Reitpeitsche und Monokel und spielt – zwei Tage nach der Uraufführung des Stückes in Meißen – mit tänzerischer Anmut und der Freude darüber, auf der Bühne endlich einmal »schön« sein zu dürfen, den Prinzen Pao in Klabunds KREIDEKREIS. Die Rolle der Haitang, gespielt von Lilly Eisenlohr, wird in der kommenden Spielzeit in einzelnen Aufführungen Elisabeth Bergner übernehmen, in Berlin eine »Sensation«, in die die ganze Stadt vernarrt ist, knabenhafte femme enfant und verführerische femme fatale zugleich. Auch in ihrer gefeierten Rolle als Rosalinde in Shakespeares WIE ES EUCH GEFÄLLT wird die Bergner in Hamburg gastieren. Solche Rollengastspiele sind an der Tagesordnung: Bereits 1924 hatte Gründgens in Leonid Andrejews Stück DER GEDANKE mit Paul Wegener und in Schnitzlers Einakter GROßE SZENE mit Albert Bassermann gespielt, dem wohl bedeutendsten realistischen Darsteller des frühen 20. Jahrhunderts. 1927 wird die als Stummfilmdiva gefeierte Maria Orska, die als Morphinistin berüchtigte Exfrau des Bankiers Hans von Bleichröder, seine Partnerin in Georges de Porto-Riches GERMAINE sein. Gründgens wiederum gastiert als Pao in Lübeck und in Oldenburg als Jaques in WIE ES EUCH GEFÄLLT.
Franz Werfels »magische Trilogie« SPIEGELMENSCH, die am 13. Dezember 1924 an den Hamburger Kammerspielen unter der Regie des Oberspielleiters Friedrich Brandenburg Premiere hat, zeigt die Läuterung des von Lebensüberdruß getriebenen Thamal im Kampf gegen sein zweites Ich, eben den Spiegelmenschen, oder anders gesagt: den inneren Kampf des Ichs, allegorisiert im »Sein-Ich« des Mannes Thamal, der sich nach der absoluten Wirklichkeit verzehrt, und im »Schein-Ich« des Spiegelmenschen, der ihn zum Genuß verführt. Gründgens gibt die Rolle des Thamal »tänzerisch – dämonisch und irrlichternd«28. Ist schon diese in einem homoerotischen Kontext situiert29, so spielt Gründgens am 9. April 1925 mit der Titelrolle in Carl Sternheims OSKAR WILDE den vielleicht bekanntesten Homosexuellen der Jahrhundertwende. Kaum ein Schauspieler verkörpert in den 20er und 30er Jahren derart häufig homosexuelle, homoerotisch konnotierte oder zumindest homosexuellem Begehren ausgesetzte Charaktere wie Gustaf Gründgens. Erst später wird er sich genötigt sehen, auf Distanz zu dem Bild zu gehen, das die Öffentlichkeit nicht zuletzt durch solche Rollen von ihm hat, wie er sie in Eulenbergs BELINDE spielt, in Burtes KATTE, Werfels SPIEGELMENSCH, Erich Ebermayers KASPAR HAUSER, Klaus Manns ANJA UND ESTHER, Ferdinand Bruckners VERBRECHERN, Eduard Künnekes LISELOTT, Hermann von Boettichers KÖNIG, Shakespeares RICHARD II., Hans Rehbergs SIEBENJÄHRIGEM KRIEG, Hans Baumanns ALEXANDER – und eben auch in OSKAR WILDE. Sternheims Drama behandelt die Ereignisse um die Verurteilung Oscar Wildes zu zwei Jahren Zuchthaus im Jahr 1895 wegen »unzüchtiger Handlungen«. Die Hamburger Kritik zeigt sich von Gründgens’ Darstellung beeindruckt, obschon ihm das »(nach den Bildern zu schließen) recht respektable Bäuchlein«30 des historischen Wilde fehle: »Gustaf Gründgens war auf Grund natürlicher Gaben und seiner nervös-hemmungslosen Spieltechnik wegen der ideale Vertreter des sensiblen, eitlen, pathetischen und weibisch-schwachen Dichters«31. Der gerühmte Darsteller jedoch veröffentlicht ein Vierteljahr nach der Premiere einen Artikel in Hans Reimanns Zeitschrift Das Stachelschwein, zu deren literarischen Mitarbeitern Max Brod, Erich Kästner, Anton Kuh, Roda Roda und Karl Valentin gehören und für die auch Gründgens gelegentlich Gedichte und humorvoll-satirische Kurzgeschichten verfaßt. Selbstbewußt verkündet der Schauspieler: »Als der Vorhang sich nach der Premiere […] senkte, wußte ich genau, daß ich den Wilde den Absichten des Autors entgegen gespielt habe. Der Erfolg hat mir recht gegeben. Als ich die Rolle bekam, war mir von vornherein klar, daß ich mich zu entscheiden hatte, entweder Sternheim oder Wilde zu spielen, denn nur einem von beiden konnte ich – der Dichtung nach – gerecht werden.« Das ist nicht nur höchst ungewöhnlich für einen Schauspieler – so etwas leistet sich sonst kein Kollege in Hamburg –, sondern auch das seltene Zeugnis einer Rollenanalyse unter dem Blickwinkel der Homosexualität: Das Hauptmotiv für Wilde, sich seiner Verhaftung nicht zu entziehen, sei, so Gründgens »trotz Sternheim« Bosie gewesen. »Wilde wußte ganz genau, wie sehr Bosie (Alfred Douglas) seine Flucht verabscheuen würde. […] Flucht war gleichbedeutend mit Bosies Verlust, also ließ es Wilde eben darauf ankommen. Der ganze erste Teil der ›Epistola‹ mit seinen kleinlichen Rechnereien ist ein Beweis dafür: ›… vom Freihalten beim Diner im Savoy-Hotel bis ins Zuchthaus habe ich alles für dich getan.‹ Für Bosie – nicht für sich; denn Wilde gehörte sich selbst nicht mehr in dieser Zeit, konnte also auch gar nicht er selbst sein. […] Der Sternheim’sche Grund: sich und seinem Lebensgesetz treu bleiben zu müssen, ist zwar sehr dichterisch und idealistisch, aber bei diesem hymnischen Gesetzlosen, dem schillernden, unter keinen noch so weiten Hut zu bringenden, weil mit männlichem und weiblichem zu reich bedachten Oscar Wilde, kann das (zum Hauptmotiv erhoben) nichts weiter als eine Phrase sein. Schmus. Schmonzes. Der große Umschwung in Wildes Leben kam erst ein Jahr nach seiner Entlassung aus dem Kerker, als Bosie, mit dem er […] wieder zusammen gekommen war […], ihn endgültig hatte sitzen lassen. Da erst brach er zusammen, und da erst war ihm alles gleich. Von da an ließ er sich fallen. Nun kam es für ihn ja auf nichts mehr an, wo ihm in Bosie der ganze Lebensreiz genommen war.«32 Gründgens korrigiert also nicht nur die Motivation Wildes, sich verhaften zu lassen – bei Sternheim provoziert Wilde seine Verurteilung, um sich selbst zu verwirklichen –, sondern lastet Sternheim die Herabspielung des homosexuellen Elements an.33 Wilde habe im Elend wohl »die Hoffnung, nie die Sehnsucht« verlassen, also habe er »nicht, wie verlangt, einen abgeklärten, zufriedenen, nichts bereuenden Wilde« spielen können, sondern »einen gequälten, unglücklichen, dessen Freude und Leichtfertigkeit geheuchelt war«34.
Gründgens selbst ist alles andere als unglücklich in Hamburg. An der Wand seines Zimmers bei der Sanitätsratswitwe Else Wiemann in der Bethesdastraße 55 im Stadtteil Borgfelde hängen »alle Janbilder«35, wie er der Mutter glücklich mitteilt, denn bei ihm eingezogen ist der Maler Hans Robert Kurzke36, allgemein Jan gerufen. Gründgens hatte den blonden, blauäugigen, kraftvoll wirkenden Sohn des Hamburger Kriminal-Oberwachtmeisters Paul Kurzke bereits 1924 kennengelernt, vermutlich auf dem Hamburger Künstlerfest CUBICURIA, DIE SELTSAME STADT.37 Die alljährlich zur Faschingszeit im Curiohaus an der Rothenbaumchaussee veranstalteten Künstlerfeste gelten als überregional beachtete Ereignisse des Kulturlebens; seit 1922 bildet eine theatralische Revue deren Höhepunkt. Die aufwendige dekorative Gestaltung der Festsäle übernehmen Schüler der Kunstgewerbeschule, an der Jan Kurzke mit einem Stipendium von 1920 bis 1925 Figuren- und Aktmalerei bei Arthur Illies studiert. Auch Gründgens engagiert sich – und führt sogar zweimal Regie: Im Februar 1925 inszeniert er eine recht freizügige theatralische Revue »in 183 Eruptiv-Bildern aus allen Teilen, Ecken und Schlupfwinkeln der majestätischen Erde«38 mit dem Titel DER SIEBENTE KRATER, ein »tolles Trommelfeuer von Parodie und jazzelnder Verhohnepiepelung«, so der Hamburger Anzeiger, der sich auch über die drei Revuegirls, die »ihre rosenen Brüstchen sehn«39 lassen, wie das Gründgens selbst formuliert, nicht entrüsten mag: »Bißchen doll nackedei wars ja, aber schließlich wollen Ehemänner sich auch mal an fremdem Fleisch ergötzen. Paprika fürs Volk!« Gründgens selbst singt »tolldreiste Couplets«40 und tanzt Stepeinlagen, sein Kollege Paul Kemp tritt, »den nackten Körper braun geschminkt, auf dem Kopf eine schwarze Perücke«41, als Salome auf. Auch das Titelgedicht zu dem Spektakel hat Gründgens beigesteuert: »Ein grünkariertes Pony hüpft im Takt / der Jazzband über laute Treppenstufen; / ein Övelgönner Backfisch tanzt kompakt / mit amourösem Schenkel zwischen seinen Hufen. […].«42 Und 1926 führt er bei NOA TAWA, DAS AUFTAUCHENDE EILAND abermals Regie.
Jan Kurzke am 8. Mai 1925 in Hamburg
© Theatermuseum Düsseldorf
Gustaf Gründgens hatte sich sofort in den gut fünf Jahre jüngeren Jan Kurzke verliebt, so sehr, daß der besessene Schauspieler noch Jahrzehnte später erklärt, »er wäre Logenschließer in Hamburg geworden oder geblieben, wenn er deshalb nur hätte bei Jan bleiben können«43. Vergeblich versucht der sich betont unbürgerlich gebende Kurzke, als überzeugter Marxist Mitglied der KPD, seinen Lebensunterhalt als Kunstmaler zu bestreiten. 1925 stellt er seine Bilder erstmals öffentlich aus, doch nur gelegentlich erhält er »einen Porträtauftrag, der in Hut und Wintermantel bezahlt«44 wird. So teilt er mit Gründgens, der seine Mutter inständig bittet, doch in ihrem Bekanntenkreis Bilder von Jan feilzubieten, dessen Bohemeleben – das Bett allerdings zum Kummer seines Freundes gelegentlich auch mit der einen oder anderen Dame.
Selbst mit Gründgens’ Schwester Marita hatte Jan geflirtet, als die beiden Freunde im Juni 1924 bei Gründgens’ Eltern am Kaiser-Wilhelm-Ring logiert hatten: Gründgens hatte an der Düsseldorfer Freilichtbühne als Droll (also als Puck) in Shakespeares SOMMERNACHTSTRAUM gastiert, alternierend mit Frida Hummel, der Frau des Bühnenbildners Eduard Sturm. Den Zettel hatte der junge Rudolf Platte gegeben, den Flaut der spätere Burgtheater-Direktor Paul Hoffmann. Zudem hatte Gründgens – zum zweiten Mal in seinem Leben – Regie geführt, nämlich bei Theodor Körners 1812 entstandenem Trauerspiel ZRINY, einem »Schinken mit endlosen rhetorischen Jambentiraden«45, so die Düsseldorfer Nachrichten, der den ungarischen Heldenkampf gegen die türkischen Eroberer behandelt. Während Gründgens probiert hatte, waren sich Jan und Marita näher gekommen. »Dann artete das ein bißchen aus – ein Küßchen hier, ein Küßchen da – und eines Tages wollte Gustaf mit Jan in die Stadt gehen, und der sagte, er bliebe zu Hause. Daraufhin brauste Gustaf ab, nach einer Weile kam er zurückgesaust, riß die Tür auf und schmiß ein Buch mitten ins Zimmer und ab«46, wird sich Marita erinnern. Ihr Bruder hatte ihr HERZBLÄTTCHENS ZEITVERTREIB. UNTERHALTUNGEN FÜR KLEINE KNABEN UND MÄDCHEN ZUR HERZENSBILDUNG UND ENTWICKLUNG DER BEGRIFFE47 vor die Füße geworfen …
Streit, Trennung, Wiederfinden und Versöhnung wechseln sich ab. Mal stürzt sich Gründgens in einem allenfalls halb ernst gemeinten Suizidversuch die Treppe im Besenbinderhof hinunter, mal berichtet er den Eltern, die ihn noch immer mit einem monatlichen Zuschuß unterstützen und nicht zuletzt deshalb Rechenschaft über seinen Lebenswandel verlangen: »Ich habe mich mit Jan versöhnt und bin endlich wieder im Gleichgewicht. Er ist nun einmal mein alter ego, mit dem ich in Harmonie leben muß, um schaffen zu können. Dieser Zwist war sogar insofern gut, als er sowohl wie ich und alle die Überzeugung gewinnen müssen, daß pekuniäre Momente in unsrer Freundschaft (wie auch Vater in seinem Brief einmal andeutete) nicht die geringste Rolle spielten. Er hat sich und mir bewiesen, daß er auch ohne mich ›leben‹ kann (ich meine ›essen‹ kann). Da es mir unmöglich ist, sein ›Leben‹ mitzuleben, muß er, was leichter ist, mein ›Leben‹ mitleben. Das ist alles. Und wenn ich auch ›schlechter‹ lebe und mich sehr – zu sehr – einschränken muß: Besser in einer Hütte mit ihm, als in einem Schloß ohne ihn. Das ist nicht Hörigkeit, sondern tiefinnerstes Zugehörigkeitsgefühl. […] Und wenn Vater damals schrieb, daß im Grunde er es wäre, der für den Luxus, Jan zu haben, bluten müsse, kann ich nur sagen: Jan ist für mich nötiger wie das tägliche Butterbrot.«48 So verbringt er mit Kurzke den Sommer 1925 auf Hiddensee, wo er sich »nach dieser teuflischen Saison […] an See, Luft, Sonne und Jan von allem Häßlichen des Winters«49 erholt.
Für die neue Spielzeit 1925/26 hatte Gründgens erstmals einen – mit monatlich 650 statt 320 Mark wesentlich besser dotierten – Dienstvertrag als Schauspieler und Regisseur erhalten und sich den Passus erkämpft: »Falls HAMLET zur Aufführung kommen sollte, hat Herr G. das Recht, den Hamlet in der Premiere zu spielen.«50 Zu Beginn der Saison inszeniert er im 816 Zuschauer fassenden Komödienhaus, dem ehemaligen »Hammonia-Varieté« gleich hinter den Kammerspielen an der Norderstraße, wo Ziegel seit 1920 vor allem Lustspiele und Possen zeigt, Carl Laufs’ Schwank PENSION SCHÖLLER und spielt selbst den Eugen Rümpel, dann am Besenbinderhof erstmals den skrupellosen Christian Maske in Carl Sternheims SNOB und kurz darauf den Angelo in Shakespeares MAß FÜR MAß: »der letzte Sprößling eines überzüchteten Adelshauses, dem sich das rote Blut schon in grünes Eiswasser zersetzt hat«51. Den Hamlet gibt er zwar – noch – nicht, dafür im weiteren Verlauf dieser Spielzeit Rollen wie John Tanner in George Bernard Shaws MENSCH UND ÜBERMENSCH, einen reichen, jungen Mann, der revolutionäre Ideen verficht und, ohne es zu wollen, Vormund einer exzentrischen jungen Frau wird, und in Jules Romains’ Komödie DR. KNOCK ODER DER TRIUMPH DER MEDIZIN den ehrgeizigen Mediziner Dr. Knock, der, um seinen Reichtum zu mehren, die robuste und gesunde Bevölkerung eines französischen Dorfes in Dauerpatienten verwandelt. Regie führt als Gast der später vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht in die Theatergeschichte eingegangene Erich Engel.
Gründgens inszeniert Büchners LEONCE UND LENA als heiteres Märchenspiel ohne einen Anflug bitterer Satire und gibt darin einen frivol-narzißtischen Prinzen Leonce. In der Premiere am 5. September sitzt der 18jährige Klaus Mann und findet den Schauspieler Gründgens, den er zum ersten Mal sieht, »recht gut«52. Klaus, der älteste Sohn des berühmten Literaten Thomas Mann, der im Jahr zuvor den ZAUBERBERG veröffentlicht hatte, versucht sich ebenfalls als Autor, hatte vor kurzem den vielbeachteten Novellenband VOR DEM LEBEN vorgelegt und steht unmittelbar vor dem Abschluß seines Romandebüts DER FROMME TANZ, das ein ekstatisches Coming-out und einer der ersten Homosexuellen-Romane der deutschen Literatur überhaupt wird. Auch ein erstes Theaterstück hatte er in gerade einmal zwei Wochen heruntergeschrieben: ANJA UND ESTHER, dessen Buchausgabe bereits erschienen ist, gewidmet dem Schauspieler Hans Brausewetter, für den Klaus Mann schwärmt. Nach dem Scheitern des etwas überspannten Plans einer Max-Reinhardt-Inszenierung mit Elisabeth Bergner hatte sich der junge Autor bei den Theaterdirektoren Arthur Hellmer, Theodor Tagger (alias Ferdinand Bruckner) und Victor Barnowsky vergeblich um eine Aufführung in Berlin bemüht. Nun spricht er also bei Ziegel in Hamburg vor – mit Erfolg. Zwei Tage nach der Uraufführung an den Münchener Kammerspielen wird das schwermütig-laszive, eher lyrische als dramatische Stück am 22. Oktober 1925 auch an den Hamburger Kammerspielen gezeigt. Erst 14 Tage vor der Premiere war auf Initiative des mit der Regie betrauten Gründgens53 eine spektakuläre Besetzung zustande gekommen, die optimale Publizität garantieren soll: Neben dem Regisseur selbst als Jakob (bereits seine 40. Rolle in Hamburg!) und dem Schauspieler Wolfgang Heinz als dem »Alten«, dem merkwürdigen Leiter des sonderbaren Stifts, das Schauplatz des Dramas ist, steht in der Rolle des Dichters Kaspar der als Schauspieler völlig unerfahrene Autor auf der Bühne, zudem gastieren als titelgebendes lesbisches Liebespaar Erika Mann54, die 1924/25 bei Max Reinhardt in Berlin und in dieser Spielzeit am Schauspielhaus Bremen verpflichtete ältere Schwester von Klaus55, und Frank Wedekinds Tochter Pamela Wedekind56, am Ostpreußischen Landestheater in Königsberg engagiert und seit Sommer 1924 mit Klaus Mann verlobt.
Gründgens, der die Gesellschaft der weltläufigen, extravaganten Dichterkinder genießt und mit ihnen nachts durch die Kaschemmen von St. Pauli streift, lobt im Freihafen, den Blättern der Hamburger Kammerspiele, den literarischen Newcomer emphatisch, wenn auch vielleicht nicht ganz aus Überzeugung, sondern der Publicity wegen: »Die jüngere Generation hat in Klaus Mann ihren Dichter gefunden. […] Mit unerbittlicher Liebe zeigt er seine Generation in all ihrer wissenden Unwissenheit, ihrer gehemmten Hemmungslosigkeit, ihrer reinen Verworfenheit. […] Man muß sie lieben, diese Menschen, die soviel Liebe in sich haben, und mit wissender Schmerzlichkeit ihre Irrwege gehen. […] Lieben muß man vor allem den Dichter dieser Menschen, der seine Gestalten so beseelt und leidvoll durch dies erregende Stück sendet und […] mit hilfreicher Hand zur Klarheit führt. Und das ist das Wesentliche an Klaus Mann: Er ist nicht nur ein Schilderer der neuen Jugend, er ist vielleicht berufen, ihr Wegweiser zu werden.«57
Klaus Manns ziemlich mißratenes »romantisches Stück in sieben Bildern«, das der Kritiker Herbert Ihering anläßlich einer Berliner Inszenierung »den szenischen Marlittroman der Homosexualität«58 nennen wird, spielt in einem »›Erholungsheim für gefallene Kinder‹, worunter man sich eine Mischung aus Ballettschule und Sanatorium mit einem Einschlag von Gefängnis, Bordell und Kloster vorzustellen hat«59. Jakob, »ein gehemmter Melancholiker«60 betet die schwermütige Anja an, die jedoch ein intimes Verhältnis mit der bisexuellen Esther hat, welche sich wiederum in einen unvermittelt auftauchenden proletarischen Draufgänger namens Erik verliebt und das Heim verläßt, während Anjas Halbbruder Kaspar »alle und keinen liebt«61. Klaus Manns dramatischer Erstling, dessen gestelzte Sprache und dünne Handlung in peinlichem Kontrast zum philosophischen Anspruch stehen, stößt zwar beim Publikum auf großes Interesse, erntet aber neben einigen wohlwollenden Reaktionen vor allem Verrisse – immerhin »ein ziemlich lauter succès de scandale«62, wie Klaus Mann meint. »Klaus Mann und Gründgens schwammen in einer fast unerträglich dekadenten Atmosphäre«63, heißt es, und daß das »Herumwühlen in sexuellen Entartungsmöglichkeiten«64 abstoßend sei. Diese Jugend, die »nichts bewegt als die Wirrnis pervertierter Liebesgefühle«, solle »ihre düsteren Angelegenheiten im Stillen mit sich selbst abmachen, aber nicht vor der Öffentlichkeit«65. Gründgens habe als »verzerrter Erzengel« die interessanteste Figur darzustellen, findet das Hamburger Echo: »Leider gerät auch ihm schon einzelnes als übertriebene Wirkung. Der Eindruck war trotzdem stark.«66 Klaus Mann klagt bei seinem Vater über das »boshafte, gehässige und voreingenommene Mißverständnis, das fast die gesamte Presse mir entgegengebracht hat«67, nicht ahnend, daß auch Thomas Mann ANJA UND ESTHER als »unbeschreiblich gebrechliches und korruptes Stückchen«68 wertet. In Hessen wird es nach einer Inszenierung am Landestheater Darmstadt gar zu einer Landtagsdebatte kommen, in der man sich über den »Schmutzfladen« empört, der »auf krankhaft perverse Weise« die Frau »auf die Stufe tierhafter Schamentblößung« herabsetze und »Schrecken und Grauen zugleich«69 erwecke. Doch der Effekt ist enorm, halb Deutschland spricht von den »Dichterkindern« Klaus, Erika und Pamela, deren Bild am 31. Oktober 1925 sogar auf der Titelseite der Berliner Illustrirten Zeitung prangt. Gründgens, auf dem Originalphoto als vierter zu sehen, hatte man jedoch einfach abgeschnitten. »Welch ein Moment tödlicher Peinlichkeit, da er den Affront entdeckte!«, heißt es in einer später gestrichenen Passage in Klaus Manns autobiographischem »Lebensbericht«, DER WENDEPUNKT. »Er saß regungslos, sehr steif aufgerichtet, die Lippen aufeinandergepreßt, das Gesicht zur fahlen Maske erstarrt. Kein Wort, keine Geste – nur der stumme Vorwurf seiner Juwelenaugen! Es war fast unerträglich.«70
Erika Mann, Klaus Mann, Pamela Wedekind und Gustaf Gründgens 1925 in Hamburg
© Theatermuseum Düsseldorf
Klaus Mann ist von dem sieben Jahre älteren charismatischen Schauspieler durchaus fasziniert: »Er glitzerte und sprühte vor Talent, der charmante, einfallsreiche, hinreißend gefallsüchtige Gustaf! Ganz Hamburg stand unter seinem Zauber. Welche Verwandlungsfähigkeit! Welche Virtuosität der Dialogführung, der Mimik, der Gebärde! […] So begabt war Gustaf, daß er auf der Bühne gertenhaft schlank aussehen konnte, obwohl er in Wirklichkeit schon als junger Mensch eher zum schwammig-weichen Fettansatz neigte. […] Gustaf war brillant, witzig, blasiert, mondän. […] Gustaf war düster und dämonisch, Gustaf war müde und dekadent. Gustaf war von überströmender Lebendigkeit; er war abwechselnd jugendlicher Liebhaber, ›père noble‹, Intrigant und Bonvivant; er war alles und nichts. Er war der Komödiant par excellence. […] Die erste Begegnung mit Gustaf bleibt mir unvergeßlich. Mit dem Elan eines neurotischen Hermes drang er in unser Hotelzimmer ein. So leichtfüßig war sein Gang, daß man nicht umhin konnte, seine etwas abgetragenen, aber doch irgendwie sehr schicken Sandalen mit mißtrauischem Blick zu streifen. Gab es dort keine Flügel? Nein; auch war es kein antikes Göttergewand, was ihm da mit edler Nachlässigkeit um die Schultern hing, sondern nur ein ziemlich schäbiger Ledermantel. Er war schön, die gerade, etwas zu fleischige Nase, die stolzen Lippen, das markante Kinn: alles war von kräftiger und reiner Bildung. Die leichte Verzerrtheit seiner Miene war wohl auf das Monokel zurückzuführen, welches er wegen starker Kurzsichtigkeit trug. Zu einer Brille mochte seine Eitelkeit sich nicht bequemen. Er litt an seiner Eitelkeit wie an einer Wunde. Es war diese fieberhafte, passionierte Gefallsucht, die seinem Wesen den Schwung, den Auftrieb gab, an der er sich aber auch buchstäblich zu verzehren schien. Wie tief muß der Inferioritätskomplex sein, der sich in einem solchen Feuerwerk von Charme kompensieren will! […] Wer sich auch nur von einem Menschen wirklich geliebt wüßte, hätte es kaum nötig, ständig zu verführen.«71
Ob sich Gründgens ausgerechnet von Erika Mann »wirklich geliebt« weiß? Hat er sich tatsächlich in die burschikose, ihm zwar intellektuell ebenbürtige, schauspielerisch aber nur mäßig begabte Erika Mann verliebt? Noch vor kurzem hatte Gründgens seiner Mutter geschrieben: »Ich bin ja wohl auch beruflich zu ausgefüllt, um unsere modernen Frauen noch an der Kandare halten zu können. Warten wir also gottergeben auf das Käthchen von Heilbronn.«72 Erika Mann ist nun freilich alles andere als ein hingebungsvolles, einzig aus seiner Emotion heraus handelndes Käthchen, das seinem »hohen Herrn« »wie ein Hund, der von seines Herrn Schweiß gekostet«73, folgt, und man kann sich leicht ein »Wesen von zarterer, frommerer und lieberer Art«74 denken als sie. Sie ist auch kein Sprößling des Kaisers wie das Käthchen, ihr Vater Thomas Mann – den man wenige Jahre später als »Kaiser aller deutschen Emigranten«75 bezeichnet – wird aber schon jetzt für den Nobelpreis gehandelt, den er 1929 tatsächlich erhält. Gründgens ist zwar kaum, wie einige seiner Biographen meinen, der Kleinbürger, den es reizt, als Schwiegersohn des großen Literaten in andere gesellschaftliche Kreise aufzusteigen, aber er erwartet sich mit der Heirat die Anerkennung seiner äußerst wohlhabenden Familie, als deren »schwarzes Schaf« der wirtschaftlich erfolglose, komplexbeladene Vater Arnold Gründgens gilt. Und die mäßig erfolgreiche Schauspielerin Erika Mann erhofft sich von einer Ehe mit dem zum Hamburger Theaterstar avancierten Gründgens einen Karriereschub. Geht es also für beide um eine »Cocktailehe«? Oder geben sie nur leichtfertig einer Laune nach? Gründgens schwärmt von der knapp sechs Jahre Jüngeren: »Unter anderem hat sie wohl die schönsten Augen, die man sich denken kann.«76 Und Erika soll ihrer Großmutter Hedwig Pringsheim gegenüber sogar von der »großen Liebe« gesprochen haben. Gründgens sei in den 20er Jahren »in fast auffälliger Weise an sanktionierten Dauerbindungen interessiert« und darauf bedacht gewesen, »möglichst schnell eine Familie zu gründen«77, wird sein Psychiater berichten, dem Gründgens anvertraut, er habe sich 1926 zwischen Pamela Wedekind und Erika Mann zu entscheiden gehabt …
»Liebe, liebe Leute, damit Ihr nun nicht ganz ohne Sensationen seid, was die Familie angeht, will ich Euch denn ein freudiges Ereignis keinen Tag vorenthalten«, schreibt er seinen Eltern im April 1926 aus Wien, wo er als Gast am Theater in der Josefstadt probiert. »Es wird ja nun bitterer Ernst. Erika Mann und ich haben uns verlobt und werden in Bälde heiraten. Erika fährt heute nach München und bespricht das nähere mit den Eltern. Hochzeiten tun wir in München, wo Ihr ja nun hinkommen müßt. Es wird wohl sehr offiziell werden, aber sicher auch hübsch.«78 Fraglos imponiert Erika die Kraft an darstellerischer Energie des Vollblutschauspielers, und zweifellos sehnt sich Gründgens, nicht zuletzt angesichts der komplizierten Beziehung zu Jan Kurzke, mit dem er weiterhin befreundet bleibt, nach einem Leben in bürgerlichen Normen. Er verbrennt vor der Heirat zahlreiche Briefe, will »ein anderer Mensch sein«79, wünscht sich eine anerkannte, geordnete Existenz. Doch kann die Verbindung zweier Künstler, die beide eher dem eigenen Geschlecht zuneigen, das leisten? »Kannst Du mir mal sagen, warum ich Idiot heirate?«80, soll Gründgens drei Tage vor der Hochzeit gegenüber seiner Schwester ausgerufen haben. Und Erika Mann hatte ihrer Freundin Pamela schon Wochen zuvor erklärt, sie fange angesichts des hochempfindlichen Gründgens und seiner Hysterie an, sich »vor dem heiligen Ehestand ein bißchen zu fürchten«81. Doch die Trauung findet statt, am Samstagvormittag, dem 24. Juli 1926, im Standesamt München I. Als Zeugen fungieren Thomas Mann, bekanntlich selbst homophil veranlagt, und der Musiker Klaus Pringsheim, der Zwillingsbruder von Thomas Manns Frau Katia, auch er homosexuell.