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3. Schließlich haben wir alle auf dem Eisbärfell gelegen
Оглавление»Vom Vater her aus Aachen, von der Mutter her aus Köln stammend, bin ich in Düsseldorf geboren. Beide Familien hatten ihre große Zeit. Die Familie meines Vaters mit holländischem Einschlag ist durch viele Heiraten weit verzweigt und stellte in diesem Jahrhundert einen großen Teil der rheinischen Industrie. Die Familie meiner Mutter hatte unter anderem einen sehr bekannten Kölner Oberbürgermeister und beherrschte eine Zeitlang die Rheinschiffahrt. Der Verfall dieser Familien setzte aber bereits vor meiner Geburt ein. Was blieb, war die äußere Fassade, die angeblich gehalten werden mußte«1, heißt es in dem »Entwurf zu einer Selbstbiographie«, den Gustaf Gründgens 1952 auf eineinhalb Seiten zu Papier brachte. So oft er auch später noch davon sprach, eine Autobiographie mit dem Titel DER KÜNSTLER UND DIE MACHT verfassen zu wollen, verwirklicht hat er diese Pläne nie und auch sonst nicht ausführlicher von seiner Familie berichtet.
Am 22. Dezember 1899 zeigen Arnold Gründgens und seine Frau Emilie »ergebenst« die »glückliche Geburt eines prächtigen Jungen«2 an. Er ist um 10 Uhr vormittags zur Welt gekommen, wie damals üblich nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause in der Graf-Adolf-Straße 92 im Zentrum der rasch wachsenden Industriestadt Düsseldorf; 85,5 Prozent ihrer 213000 Einwohner sind 45 Jahre oder jünger. Erst am 16. März hatten Arnold und Emmi Gründgens, die am 11. Februar in Köln geheiratet hatten, diese Mietwohnung bezogen. In den übrigen drei Wohnungen der gutbürgerlichen, nur wenige Schritte vom Wilhelmsplatz (dem heutigen Stresemannplatz) entfernten Liegenschaft leben Kaufleute mit ihren Familien; Arnold Gründgens ist laut Adreßbuch als Fabrikant tätig. Heute versuchen die Anwohner der Graf-Adolf-Straße, deren durch Leihhäuser und Pornokinos ramponiertes Image aufzubessern, und präsentieren die von wenig ansehnlichen acht- bis zehngeschossigen Bauten aus den 50er und 60er Jahren geprägte Straße, die vom Bahnhof zur Glamourmeile Königsallee führt, mit dem Slogan »Vielfalt, die ich mag«. Als Gründgens geboren wird, gilt sie, gesäumt von meist im Stil des Historismus erbauten, mit eleganten Stuckfassaden versehenen Häusern, als »eine der schönsten Straßen der Stadt«3, die sich bald zur Vergnügungsmeile mit Cafés, Restaurants und Theatern entwickelt. Nicht weit von der Gründgensschen Wohnung setzt an der Graf-Adolf-Straße Nr. 44 das »Arabische Café« mit mehreren Kuppeln und einem Minarett einen orientalischen Akzent. Im Erdgeschoß befindet sich das erste Selbstbedienungsrestaurant Düsseldorfs, in den reich verzierten, mit Kamelsesseln und maurischen Hockern ausgestatteten Räumen des ersten Stocks servieren als Beduinen verkleidete Bedienstete. 1906 wird im selben Gebäude das erste Kino der Stadt eröffnet werden: Die Wunderhalle zeigt bis zu 15 Minuten dauernde Streifen – längere Filme mag man dem menschlichen Auge nicht zumuten. Im Jahr darauf wird auch das Graf-Adolf-Theater in der Graf-Adolf-Straße 69 »singende und sprechende Photographien, verbunden mit Auxetophon-Vorträgen«4 bringen.
Arnold Gründgens, am 1. Januar 1872 in Aachen als Sohn des Tuchfabrikanten Gustav Gründgens und seiner Ehefrau Maria, einer Tochter des Ahrweiler Papierfabrikanten Wilhelm Dahmen, zur Welt gekommen, ist seit 1898 Teilhaber der Firma C. A. Heinemann & Cie., einer Großhandlung in Sanitätsartikeln, die sich keine fünf Gehminuten entfernt ebenfalls an der Graf-Adolf-Straße befindet. Schon im Gründungsjahr 1896 hatte Carl Arnd Heinemann mit der Fertigung von Waschmaschinen zunächst für größere Haushalte begonnen, von 1902 an wird die Firma Krankenhäuser, Klöster und Hotels mit vollständigen »Dampfwäschereien« beliefern, zudem Zentrifugen, Spülmaschinen, »Vakuum-Staubabsaug-Apparate« und eine Kartoffel-und-Rüben-Schälmaschine vertreiben, über die ein Herr Kons, »Restaurateur der Festhalle und des Haupt-Weinrestaurants« 1904 im Werbeprospekt der Firma rühmt: »Die 25–30 Zentner Kartoffeln, welche täglich hier in meinem Haupt-Restaurant gebraucht werden, sind in ganz kurzer Zeit geschält.«5 Arnolds Vater, der 1836 geborene Gustav Johann Peter Gründgens, war »in jüngeren Jahren […] ein schöner Mann in des Wortes wahrster Bedeutung, später mit seinem wohlgepflegten Patriarchenbart, alle anderen um Haupteslänge überragend, beherrschte er das Bild des Tisches, an dem er saß, auch was Rede und Trinken anging. Dabei zeichnete ihn bei aller Derbheit ein goldener Humor aus.«6 Schon vor längerer Zeit hatte sich Gustav Gründgens aus der Tuchfabrik, die er 1862 in Aachen-Burtscheid zusammen mit Fritz und August Vassoll unter dem Namen »Gründgens & Gebr. Vassoll« gegründet hatte, zurückgezogen und lebt nun als Rentner in Aachen. Dort zählt die ursprünglich aus Holland stammende, dann im Dorf Pier bei Düren ansässige Familie seit langem zu den Honoratioren und beteiligt sich rege am kulturellen Leben; beim Niederrheinischen Musikfest 1846 etwa hatten gleich drei Mitglieder der Familie unter Leitung des Königlich Preußischen General-Musikdirektors Felix Mendelssohn Bartholdy im Chor gesungen, als Solistin hatte die legendäre »schwedische Nachtigall« Jenny Lind gastiert. Die Aachener Wohnsitze der Familie sind durchaus repräsentativ zu nennen, so hatte der Holzhändler Arnold Hubert Gründgens, Arnolds Großvater, zeitweise das prunkvolle, im 14. Jahrhundert errichtete Haus Löwenstein am Marktplatz bewohnt.
Auch Emilie Gründgens, am 1. Februar 1874 in Köln geboren, wo ihr Vater Johann Heinrich Ropohl eine »Uhren- und Fourniturenhandlung« führt, in der seine Frau Therese seit 1868 als im Handelsregister eingetragene Prokuristin mitarbeitet, blickt auf respektable Vorfahren zurück: »Emmi« ist die Urenkelin7 des kurfürstlichen Titularhofrates und Erbvogts8 Johann Baptist Fuchs, 1798 für knapp neun Monate Präsident der Munizipalität im damals französisch besetzten Köln, später Advokat und schließlich königlich preußischer Regierungsrat. Dessen aus Oberwinter stammender Vater Jakob Fuchs, verheiratet mit der Schiffertochter Maria Catharina Weyl, erwarb 1757 als Mitglied der Fischmengerzunft das Kölner Bürgerrecht. 1764 übernahm er gegen eine jährliche Pachtsumme von 2000 Rheinischen Thalern das Amt eines kurkölnischen Brückenmeisters (erst 1822 wurde die »fliegende Brücke« zwischen Köln und Deutz in eine feste Brücke umgewandelt), später wurde er Teilhaber der im Holländerholzgeschäft tätigen Großhandelsfirma von Hausen in Saargemünd.9
Arnold und Emmi Gründgens lassen ihren Erstgeborenen nach katholischem Ritus auf den Namen Gustav Heinrich Arnold taufen10 – mit »f« wird Gründgens seinen Namen erstmals in einem am 18. April 1921 unterzeichneten Vertrag mit den Vereinigten Städtischen Theatern Kiel schreiben.11 Benannt wird er nach seinen beiden Großvätern Gustav und Heinrich sowie nach seinem Vater Arnold. Dieser versucht sich indes mit wechselndem Glück in verschiedenen Tätigkeiten. Schon bald nach der Geburt seines Sohnes verläßt er die Wäschereimaschinenfabrik Heinemann, betreibt vorübergehend eine Eisen- und Stahlwarenhandlung und vertritt dann die Firma Otto Gruson & Cie., Magdeburg-Buckau, ein in der Stahlformgußherstellung führendes Eisen- und Stahlwerk, das unter anderem Zahnräder produziert. Schließlich leitet er die Düsseldorfer Niederlassung von Rheinhold & Co., Vereinigte Norddeutsche und Dessauer Kieselgur-Gesellschaft. Die 1887 in Celle gegründete Firma fördert aus eigenen Gruben Kieselgur, die man unter anderem als Filter für Wasser und Öle, als Füllstoff in Wärmeisolierungen, Anstrichmitteln und Tabletten und als natürliches Pestizid verwendet; während des Zweiten Weltkrieges wird sie als Trägermaterial für das in deutschen Vernichtungslagern eingesetzte Zyklon-B-Gas dienen.
Arnold Gründgens um 1940
© Privatbesitz Gerrit Gründgens
Mit Arnold Gründgens’ permanenten Berufswechseln einher gehen zahlreiche Umzüge12: im März 1900 in die Lennéstraße 16, bereits sieben Monate später in die Luisenstraße 53, 1904 in die Kronprinzenstraße 47 und 1909 in eine Wohnung an der Kavalleriestraße 64, die Arnold Gründgens vom jüdischen Tabakkaufmann Robert Samuel mietet, dem späteren Stifter der Robert-und-Hedwig-Samuel-Stiftung, die noch heute die Ausbildung von Jugendlichen insbesondere in Südamerika und Asien fördert. Im August 1912 übersiedelt die Familie Gründgens schließlich nach Düsseldorf-Oberkassel. Zunächst bewohnt man ein Haus in der Düsseldorfer Straße 84 (zu dieser Zeit noch eine ausgesprochen ruhige, beschauliche Wohngegend), im März 1915 wechselt man an die mit Bäumen bewachsene Glücksburger Straße. Dort mietet Arnold, der inzwischen Isolierrohre fabriziert, vom Photographen Jean Kronenberg das schmale, aber durchaus repräsentative Haus mit der Nr. 6: drei Stockwerke und ein Tiefparterre, von welchem man ebenerdig den hinter dem Haus gelegenen kleinen Garten betritt. Die Eheleute Gründgens richten sich im großbürgerlichen Stil der Zeit ein, mit schweren Möbeln aus dunklem Holz; an der Wand hängen die beiden Porträts, die sie bei Fritz Reusing in Auftrag gegeben hatten, einem überregional gesuchten Bildnismaler der Düsseldorfer Schule. Das Bild der Mutter wird Gründgens zeit seines Lebens begleiten.
Sie hätten »eine unbeschreiblich schöne und unbeschwerte Kindheit«13 gehabt, so Gustavs am 23. Mai 1903 geborene, also dreieinhalb Jahre jüngere Schwester Maria Theresia, die sich später als Vortragskünstlerin Marita Gründgens14 nennt. Im Spiel imitieren die Kinder, wie Besucher dem Dienstmädchen distinguiert ihre Visitenkarten überreichen und dann im Salon gestelzte Konversation mit den Eltern pflegen, oder treten voreinander als berühmte Pianisten oder Sänger auf – das jeweils andere Geschwister gibt dann das kritische Publikum. Gustav verkleidet sich gerne als Priester und zelebriert die Messe, Marita fungiert – der Zeit 70 Jahre voraus – als Ministrantin. Beeindruckt ist Gustav besonders, wenn die Mutter große Toilette macht, um an einer gesellschaftlichen Soiree teilzunehmen. Gelegentlich tritt die musisch veranlagte Emmi Gründgens, die in ihrer Jugend bei der Sopranistin Lilli Lehmann, einer der bedeutendsten Wagner- und Mozart-Interpretinnen ihrer Zeit, Gesang studiert hatte, im Rahmen von Wohltätigkeitsveranstaltungen auf. Setzt sie sich zu Hause an den Flügel und singt Lieder von Schumann, Schubert, Wolf oder Brahms, lauscht Gründgens »andächtig den Tönen«15. Während die enge Bindung zu »Mui«, wie der »Gui« gerufene Junge seine über alles geliebte Mutter nennt, der er stupend ähnlich sieht, bis zu deren Tod am 3. Mai 1935 einen großen Raum in seinem Leben einnimmt, wird er den Vater später als schwierigen, verschlossenen, starren und wenig umgänglichen Menschen bezeichnen, »von formaler Korrektheit, geringer Schwingungsfähigkeit und wohl auch mangelnder Durchsetzungsfähigkeit«16. Das Verhältnis zu ihm ist nicht zuletzt deshalb angespannt, weil seine Affären mit den wechselnden Dienstmädchen der Familie nicht zu übersehen sind. Doch erst als Arnold Gründgens am 3. September 1937, also gut zwei Jahre nach Emmis Tod, eine weitere Ehe mit der fast 38 Jahre jüngeren Erica Neuy eingeht, wird Gründgens endgültig von seinem Vater Abstand nehmen17, die Stiefmutter auf Distanz halten und sich weigern, seinen am 23. Oktober 1940 geborenen Halbbruder Gerrit auch nur kennenzulernen.
Emmi Gründgens mit ihren beiden Kindern, 1914
© Theatermuseum Düsseldorf
»Er war ein reicher rheinischer Kaufmannsprotz, aber was in der Realität übrigblieb, war ein Schein-Dasein. Der Vater hat nie richtig und kontinuierlich gearbeitet«18, gibt Peter Gründgens-Gorski später einmal über Arnold Gründgens zu Protokoll, »ein Industriemann mit progressivem Mißerfolg«19. Dessen Bedürfnis, trotz schwindender finanzieller Mittel, einen großbürgerlichen Lebensstil aufrechtzuerhalten, wird indes verständlicher, wirft man einen genaueren Blick auf seine Familie. Dabei weckt gar nicht so sehr die angesehene Gründgens-Sippschaft in Aachen, als deren »schwarzes Schaf«20 er gilt, seinen Neid – obgleich sein Onkel Julius, der die väterliche Metallwaren- und Holzhandlung übernommen hatte, immerhin wohlhabend genug war, sich am Aachener Lousberg durch den Stadtbaumeister Friedrich Joseph Ark einen zweigeschossigen, fünfachsigen Bau nach dem Vorbild venezianischer Renaissance-Villen errichten zu lassen, »Villa Gründgens« genannt.21 Arnolds einziger Bruder Carl Gründgens praktiziert in Aachen als »Spezialarzt für Chirurgie und Orthopädie«, die fünf Schwestern sind durch gutbürgerliche Eheschließungen wohlversorgt: Anna etwa hat den Direktor des Königlichen Hohenzollern-Gymnasiums in Düsseldorf, Julius Asbach, geheiratet. Eduard Haber, der Ehemann der jüngsten, »Toni« gerufenen Schwester Antoinette, der 1900 in den Reichskolonialdienst des Auswärtigen Amts berufen und 1910 zum Kaiserlichen Geheimen Oberregierungsrat ernannt worden war, avanciert 1917 zum letzten Gouverneur von Deutsch-Neuguinea. Lediglich der Gatte der »Erna« genannten ältesten Schwester Arnoldine, der aus einer gutsituierten Familie stammende Fritz Arnold, der vor der Ehe eine Kolonialwarenhandlung in Nicaragua betrieben hatte, war mit seiner Bank und seiner Getreidemühle in Anselmo im US-Bundesstaat Nebraska nicht allzu erfolgreich gewesen, fungiert jedoch seit seiner Rückkehr 1891 immerhin als Geschäftsführer des Mineralöl-Handels Ernst Schmidt in Oberkassel. Bei ihm in der Kavalleriestraße 19 war Arnold, als er im Juni 1898 aus Bad Godesberg nach Düsseldorf gezogen war, untergekommen, bis er im März 1899 zusammen mit seiner aus Köln übersiedelten Frau Emilie die erste eheliche Wohnung an der Graf-Adolf-Straße bezogen hatte.
Minderwertig fühlt sich Arnold Gründgens wohl vor allem angesichts seiner Kölner Verwandten: Sein Cousin väterlicherseits und Namensvetter Arnold von Guilleaume, der drittälteste Sohn seiner Tante Antoinette22, nennt wie sein ältester Bruder Theodor von Guilleaume ein Vermögen von 26 Millionen Mark sein eigen. Ihr Bruder Max besitzt sogar 27 Millionen Mark23 und ist der reichste Einwohner Kölns. Jeder der drei verfügt damit über ein ebenso großes Vermögen wie beispielsweise Wilhelm von Siemens, und alle drei sind sogar noch wohlhabender als der Berliner Bankier Robert von Mendelssohn, mit dessen Sohn Francesco sich Gustaf Gründgens 1928 eng befreunden wird – beeindruckt von dessen ihm märchenhaft scheinenden Reichtum. Die Guilleaume-Brüder wurden wegen ihrer Verdienste in den erblichen Adelsstand erhoben: Theodor bereits im Jahr 1900 (1914 wird er zudem mit dem Titel eines Freiherrn versehen), Max und Arnold vier Jahre später. Auch wenn gewisse Kreise die vor allem wegen ihres Vermögens nobilitierten Familien als »Börsenadel« ablehnen, bedeutet diese »Allerhöchste Auszeichnung« doch einen enormen Gewinn an gesellschaftlichem Ansehen für die 1094 Familien, an die zwischen 1871 und 1918 der einfache Adel des »von« verliehen wird.
Die Guilleaumes hatten einen rasanten Aufstieg erlebt: Als sich Arnold Gründgens’ Tante Antoinette einst mit Franz Carl Guilleaume verlobt hatte, war der künftige Brautvater von der beruflichen Stellung seines Schwiegersohns in spe keineswegs angetan gewesen. Der 1794 geborene, seit 1823 mit der zwei Jahre jüngeren Buchdruckerstochter Lucia Urlichs verheiratete Arnold Hubert Gründgens – der Urgroßvater von Gustaf Gründgens –, der in Aachen-Burtscheid eine Metallwaren- und Holzhandlung betrieb, hatte sich für seine 1837 geborene Tochter Antoinette eine bessere Partie versprochen als den drei Jahre älteren, zeit seines Lebens kränkelnden Franz Carl Guilleaume, der im väterlichen Unternehmen tätig war. Felten & Guilleaume, 1826 gegründet, hatten ursprünglich Hanfgespinste, Seilerwaren und Tauwerk produziert, 1835 mit der Herstellung von Stahlseilen für den Bergbau begonnen und 1853 als erste auf dem Kontinent bewehrte Telegraphenkabel24 hergestellt. Arnold Hubert Gründgens hatte vom Vater seines künftigen Schwiegersohns die Zusicherung verlangt, daß er diesem ausreichende finanzielle Mittel für den Unterhalt einer Familie bereitstelle, worauf Theodor Guilleaume seinem Sohn ein Jahresgehalt von 2000 Talern ausgesetzt hatte. Kurz nach der Trauung mit Antoinette Gründgens am 31. Dezember 1859 wurde Franz Carl an der Unternehmensleitung beteiligt, fünf Jahre später alleiniger Inhaber der Firma Felten & Guilleaume. 1873 gründete er im rechtsrheinischen Mülheim das Carlswerk und verlegte dorthin die gesamten metallverarbeitenden Betriebe des Mutterkonzerns. Man produzierte Eisen- und Stahldrähte, Freileitungsseile aus Kupfer und Aluminium, Blitzschutzanlagen, aber auch Sprungfedern und Klaviersaitendraht. Antoinette und Franz Carl konnten ein »pompöses Wohnhaus«25 unweit des Kölner Doms beziehen.
Die fünf ihrer sieben Kinder, die das Erwachsenenalter erreichten, verehelichten sich alle mit Angehörigen angesehener Familien. Der 1861 geborene Theodor heiratete Hortense Mallinckrodt, eine Tochter des 1902 nobilitierten Lederfabrikanten und Kölner Großkaufmanns Gustav (von) Mallinckrodt. Seine ein Jahr jüngere Schwester Margarethe vermählte sich mit Emil Windthorst, einem Verwandten des Parlamentariers Ludwig Windthorst, des legendären Bismarck-Gegners und Gründervaters der Zentrumspartei; ihre 1888 zur Welt gekommene Tochter Elsa wird 1908 den Bergwerks- und Hüttenbesitzer Werner Carp26, einen Enkel des Großindustriellen Friedrich Wilhelm Haniel, ehelichen und nach dem Zweiten Weltkrieg eine recht enge Beziehung mit Gustaf Gründgens, ihrem Cousin zweiten Grades pflegen. Der 1866 geborene Max von Guilleaume verband sich mit Clara Michels, der Tochter des Kölner Handelskammerpräsidenten Gustav Michels, des Mitbegründers und Vorstandsmitglieds der Rhenania-Versicherungs AG. Die Eheschließung des 1868 geborenen Arnold mit Elisabeth Deichmann, der Tochter des teilhabenden Bankiers am Privatbankhaus Deichmann & Co, Otto Deichmann, schien vielen als durchgeplantes wirtschaftsbürgerliches Kalkül – nicht ganz zu Unrecht, schließlich hatten ihre Eltern »Ella« Deichmann schon als 16jährige mit dem 23jährigen Arnold von Guilleaume bekannt gemacht –, doch waren die beiden wirklich ineinander verliebt.27 Und die jüngste, 1871 geborene Schwester Marie Emma Josephine Hubertine, kurz »Ditz« genannt, heiratete in erster Ehe den besten Freund ihres Bruders Arnold, den Maler August Neven du Mont, dessen Vater die nationalliberale Kölnische Zeitung verlegte (bis heute gelten die Neven DuMonts als eine der bedeutendsten deutschen Verlegerfamilien), in zweiter Ehe den Diplomaten Robert von Scheller-Steinwartz, 1912 bis 1915 Staatsminister im Herzogtum Sachsen-Altenburg.
Seit dem Tod des im Volksmund »Siemens des Westens«28 genannten Königlich preußischen Kommerzienrats Franz Carl Guilleaume im Jahr 1887 leiten seine Söhne Theodor und Max gemeinsam das Carlswerk, das um die Wende zum 20. Jahrhundert der größte Arbeitgeber in Köln ist. Sie widmen sich dem Ausbau des Stromkabelgeschäfts und forcieren darüber hinaus Seekabelprojekte. Ihr jüngster Bruder Arnold modernisiert indessen die ihm anvertraute Seilerei Felten & Guilleaume am Kartäuserwall in Köln; darüber hinaus ist er Mitglied zahlreicher Aufsichtsräte, unter anderem stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Gerling-Konzerns. Die Charaktere der Brüder sind zwar höchst unterschiedlich: Während der pflichtbewußte Arnold, dem eine steife gesellschaftliche Attitüde nachgesagt wird, seiner Arbeit in der von Ordnung und Exaktheit beherrschten »Erwerbshöhle«29 mit »äußerster, vorbildlicher Pflichterfüllung«30 nachgeht, gilt Theodor als visionärer Fabrikant und genußfreudiger Lebemann zugleich. Was die drei Brüder jedoch verbindet, ist ein luxuriöser Lebensstil, sie alle bewohnen neben ihren Stadthäusern stattliche Schlösser.31
Seine im Vergleich zu den Cousins und Cousinen seines Vaters ungleich bescheidenere, aber keineswegs ärmliche Kindheit und Jugend hielt Gustaf Gründgens nicht für besonders bemerkenswert: »Biographien sind meine Lieblingslektüre. Aber ich überschlage immer die Jugendzeit der Autoren. Schließlich haben wir alle auf dem Eisbärfell gelegen, sind alle in die Schule gegangen, und ich finde es nicht interessant, in welcher Klasse man sitzen geblieben ist. Und ich kann auch nicht finden, daß die Schilderung der Schullehrer für den Leser wissenswert ist.«32 Nun ja, der eher mäßige Schüler bleibt tatsächlich einmal sitzen: in der Quarta. Und manchen Pädagogen der Städtischen Oberrealschule zu Düsseldorf, die er – nach der dreijährigen Vorschule – von Ostern 1909 an, also seit Beginn des Schuljahres 1909/1910, besucht, hat vielleicht der Schriftsteller Heinrich Spoerl porträtiert, der dort bis 1905 ebenfalls die Schulbank gedrückt hatte: »Also, wat is en Dampfmaschin?«33, fragt etwa der kauzige Physiklehrer Bömmel in der 1933 erschienenen, mehrfach verfilmten FEUERZANGENBOWLE.34 Die ehemalige Höhere Bürgerschule, 1899 zur lateinlosen Oberrealschule erweitert, liegt in der Düsseldorfer Innenstadt am Fürstenwall, an der Ecke zur Florastraße; rund 600 Schüler lernen zu dieser Zeit in dem 1887 erbauten palastartigen Gebäude im Stil der Neorenaissance. Das Abgangszeugnis vom 12. September 1912, also mitten im Schuljahr, attestiert Gründgens, der seit dem Frühjahr die Quarta wiederholt hat, zwar regelmäßigen Schulbesuch; Betragen, Fleiß und Aufmerksam seien »gut«. Die Leistungen in den einzelnen Schulfächern indes sind, abgesehen von Erdkunde und Geschichte, nur »genügend«, Schreiben und Rechnen werden als »mangelhaft« bewertet, Zeichnen als »nichtgenügend«. Abschließend hat man vermerkt: »Zur Vorbereitung auf das Gymnasium soll er Privatunterricht erhalten.«35 Der Besuch der Oberrealschule ist übrigens nicht umsonst: Das Schulgeld beträgt 130 Mark per annum, was etwa einem Monatsgehalt der meisten Erwerbstätigen entspricht; für eine Mark bekommt man ein Pfund Fleisch oder einen halben Zentner Kartoffeln, die monatlichen Mietkosten einer 4-Zimmer-Wohnung belaufen sich auf etwa 40 bis 50 Mark.
Im April 1913 wird Gründgens Schüler der Höheren Knabenschule in Oberkassel, die, da das 1912 errichtete Schulgebäude am Comenius-Platz liegt, von allen Comenius-Gymnasium genannt wird, diesen Namen aber erst ab 1951 offiziell tragen wird. Mit rheinischer Liberalität und von humanistischem Geist geprägt leitet das Gymnasium seit der Gründung 190836 – und bis ins Jahr 1948! – der 1879 geborene promovierte Historiker Hans Mosler, der Griechisch, Latein und Geschichte lehrt und von den Schülern respektvoll »Zeus« genannt wird. Gründgens’ schulischer Erfolg hält sich weiterhin in Grenzen – vielleicht ist das der Grund, warum er zu Ostern 1916 das Comenius-Gymnasium verläßt und nach Mayen, dem »Tor zur Eifel«, geschickt wird. Es ist nicht das erste Mal, daß er fort von zu Hause ist, schon als Zehnjähriger hatte Gustav die Sommerferien ohne seine Eltern im Rheinholdschen Ferienheim37 in Winsen an der Aller verbracht und war durch die Heide gewandert, doch länger hatte er sein Elternhaus noch nie verlassen. Der Pennäler wird in Mayen im Marienhaus untergebracht, einem ehemaligen Krankenhaus, das seit 1907, betreut von den Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus, als Internat dient38, und besucht vom 4. Mai 1916 an das städtische Gymnasium zu Mayen, die 1907 zum humanistischen Gymnasium erweiterte Höhere Stadtschule im Zentrum der rund 14500 Einwohner zählenden Stadt (seit 1988 trägt es den Namen Megina-Gymnasium; der damalige Vorschlag, die Schule nach Gründgens zu benennen, »war schnell vom Tisch«39, so die Schulchronik). Im »Steckrübenwinter«40 1916/17 schreibt er sehnsüchtige Briefe nach Hause und sorgt sich insbesondere um den Gemütszustand der Mutter – wobei unklar bleibt, ob es die Affären ihres Gatten sind, unter denen sie leidet: »Jedenfalls beherrscht mich ganz der Gedanke, daß ich Dir helfen möchte, ganz und gar. Ich will und ich muß Dir Freude machen. […] Sieh mal, wenn ich bei einer Klassenarbeit mal wieder der alte Leichtfuß sein will, dann steht auf jedem Löschblatt versteckt: Denk an Mutter! und das gibt mir dann wieder die Besinnung. Die Mathematikarbeit, die habe ich mit Deiner Hilfe so schon gut gemacht. Ein Fall, der mir in Mathematik noch nie vorgekommen ist. Siehst Du, so hilfst Du mir immer, auch ohne daß Du es weißt.«41 Den Mitschülern erscheint er als »Einzelgänger, ein Träumer zwischen zwei Welten«, allein der Deutschlehrer Kropp erkennt ihn in der Untersekunda »als artverwandte Seele«42 und diskutiert heiß mit ihm über Walter Flex’ im Oktober 1916 erschienene Novelle DER WANDERER ZWISCHEN BEIDEN WELTEN, in der der Autor ein traumatisches Kriegserlebnis verarbeitet hat: den Tod eines Freundes bei einem Patrouillengang im August 1915. Die Darstellung einer starken, homoerotisch getönten Freundschaftserfahrung wird für mindestens zwei Generationen deutscher Jugendlicher zum Kultbuch und in den Zwischenkriegsjahren zu einem der sechs erfolgreichsten deutschen Bücher avancieren. Kropp hat auch darüber berichtet, wie Gründgens, um eine Wette mit dem Mitschüler Amandus Nüchter zu gewinnen, aus Otto Crusius’ Gedichtsammlung DIE HEILIGE NOT vortrug: »Im deutschen Unterricht merkte ich bald seine Begabung, eindrucksvoll vorzulesen und zu deklamieren. Daher bestimmte ich ihn im Jahre 1917 dazu, das übliche Gedicht zu Kaisers Geburtstag vorzutragen. […] Der Untersekundaner trat im Cutaway auf und trug auf schwarzer Weste ein klirrendes und flirrendes Kettengehänge, das auffallen mußte.« Die Sextaner und Quintaner hätten Gründgens ob seines Aufzugs »weidlich ausgelacht […]. Die Deklamation selbst fand Beifall, ja sie wurde allseits gerühmt.«43 Trotz aller Vorsätze glänzt der Schüler Gründgens ansonsten jedoch kaum: Einzig im Fach Deutsch erhält er ein »gut«, die Leistungen in Latein, Französisch, Geschichte, Erdkunde, in den Naturwissenschaften und im Turnen sind »genügend«, ebenso in Mathematik (spezifiziert in ein »genügend« in Algebra und ein »mangelhaft« in Geometrie), seine Leistungen in Griechisch werden mit »mangelhaft« bewertet – »Lektüre besser«, vermerkt das Zeugnis relativierend. Sein »Betragen« wenigstens ist »gut«, Fleiß und Aufmerksamkeit indes nur »genügend«, die Handschrift »im ganzen genügend«. Aber immerhin: »Er wird nach Obersekunda versetzt. […] Er verläßt die Anstalt, um einen praktischen Beruf zu ergreifen.«44
Gründgens beendet seine Schulausbildung in der Karwoche 1917 mit dem »Einjährigen«45, wie man das »Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst« nennt, und tritt eine Woche nach Ostern auf Drängen des Vaters als kaufmännischer Lehrling in die als »kriegswichtig« erklärte Schiess AG46 im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk ein; sein Lehrlingsgehalt beträgt 25 Mark monatlich. Das 1866 gegründete Unternehmen beschäftigt über 1000 Mitarbeiter, gehört zu den wichtigsten Großwerkzeugmaschinenherstellern der Welt und ist ein bedeutender Zulieferer für die deutschen Schiffswerften. Rasch wird Gründgens deutlich, »daß ich nie und nimmer eine innere Befriedigung in dem mir zugedachten Beruf finden könnte«, ja überhaupt »gar keine Beziehung zu den Dingen«47, mit denen er sich nun befassen soll. So läßt er sich nicht selten gleich mehrere Tage lang nicht im Betrieb blicken, sondern studiert auf den Rheinwiesen in Oberkassel Dramen. Als Kind hatte er Klavierstunden erhalten und, angeleitet von der Mutter, Brahms-, Schumann- und Schubert-Lieder gesungen, hatte sich erst eine Karriere als Sänger erträumt, am liebsten als Oratoriensänger, dann Dirigent werden wollen, nun drängt es ihn zum Schauspiel; welche diesen Wunsch möglicherweise prägenden Vorstellungen des Düsseldorfer Stadttheaters oder des Schauspielhauses er bis dahin gesehen hat, ist freilich nicht überliefert. Später wird er erzählen, er habe »nie etwas anderes gewollt«: »Als Kind habe ich Schmierseife abwiegen wollen. Das war der einzige Wunsch, an den ich mich erinnere. Aber als Beruf ist mir nie etwas anderes in den Sinn gekommen, als Schauspieler zu werden.«48 Die unter dem Zwang des Vaters eingeschlagene Laufbahn als Kaufmann endet jedoch aus einem anderen Grund. Im Juli 1917, also nach nur drei Monaten, schließt man die schmale Personalakte des kaufmännischen Lehrlings mit der Bemerkung: »Wurde eingezogen und kam nachher nicht wieder. Mit dem jungen Mann war nicht viel los.«49
Gründgens selbst wird gelegentlich behaupten, er habe sich freiwillig zum Militär gemeldet, dann wieder berichten, er habe es »als wahre Erlösung« empfunden, »als ich eines Tages den Einberufungsbefehl erhielt«50. Wie dem auch sei: Der noch nicht einmal 18jährige (die Wehrpflicht beginnt zu dieser Zeit mit dem vollendeten 17. Lebensjahr) leistet seinen Kriegsdienst in der Maschinengewehrkompanie des Infanterieregiments Nr. 30. Das »Graf Werder« benannte Regiment51 ist seit 1876 in Saarlouis stationiert, das 1815 von Frankreich an Preußen abgetreten werden mußte. Gründgens wird verwundet – nicht etwa im Feld, sondern durch einen achtlosen Kameraden, dessen Gewehrkolben ihn am Kopf trifft – und nach Kreuznach ins Lazarett eingeliefert, wo er zwar seine Verletzung kuriert, sich aber, da er mit an Ruhr erkrankten Soldaten auf einer Station liegt, ansteckt und an der Bakterienruhr erkrankt. Geplagt von Durchfällen, Fieber und Koliken, genest er nur langsam.
Noch im Lazarett liest Gründgens in einem Armeeverordnungsblatt von einem in Saarbrücken domizilierten Fronttheater: Auf Befehl des kommandieren Generals Ernst von Oven war die »Volksbühne des Stellvertretenden Generalkommandos des XXI. Armeekorps, zugleich für das XVI. Armeekorps Saarbrücken« (zu letzterem gehört auch das Infanterieregiment »Graf Werder«, bei dem Gründgens dient) am 2. Oktober 1917 errichtet worden, um »der Bevölkerung, besonders den Rüstungsarbeitern des Saar-, Nahe- und Moselgebietes sowie Elsaß-Lothringens und der Pfalz in Darstellung und Wahl von Stücken hochwertige Vorstellungen zu bringen«52. Zur Eröffnung hatte man am 3. November 1917 Lessings MINNA VON BARNHELM gezeigt, im Frühjahr den Betrieb der Bühne, der durchweg erfahrene Schauspieler angehörten53, jedoch sistiert. Als künstlerischer Leiter der am 10. Juli 1918 auf Befehl des stellvertretenden kommandieren Generals Friedrich Wilhelm von Unger wiedererrichteten, der Abteilung »Vaterländischer Unterricht« unterstellten »Volksbühne« amtiert in der Spielzeit 1918/19 – in Nachfolge von Friedrich Schiffermüller, nunmehr Intendant des Schauspielhauses der Stadt Saarbrücken – der Schauspieler Ernst Matter, bis anhin für kurze Zeit Leiter der »Südwestdeutschen Verbandsbühne«. Der Gefreite Gründgens fängt sofort Feuer und bewirbt sich: »Ich schrieb […] ein flammendes Gesuch, pries meine Fähigkeiten, schwindelte Bühnenerfahrung vor«54, und der Schwindel hat Erfolg. Er wird erst nach Saarbrücken, dann nach Saarlouis in Marsch gesetzt, doch die geplante Aufführung von Shakespeares OTHELLO mit Gründgens als Rodrigo, wird abgesagt, »weil der Darsteller des Mohren sich weigerte, jeden Abend das Gesicht schwarz anzuschmieren«55. So debütiert Gründgens, zu dessen Kollegen der später am Berliner Staatstheater tätige Walter Franck gehört, am 2. Oktober 1918 mit einem angeklebten Vollbart als älterer Gelehrter Philipp in Ludwig Fuldas harmlosem Lustspiel JUGENDFREUNDE. Aufgeführt wird es in einem Gasthof im rund 14000 Einwohner zählenden, 15 Kilometer nordöstlich von Saarbrücken gelegenen Städtchen Friedrichsthal, dessen Bürger weniger unter kulturellem, sondern fast schon seit Kriegsbeginn unter tatsächlichem Hunger leiden: Um wenigstens Säuglinge, Kranke und Alte versorgen zu können, hat die Gemeinde einen Kuhstall mit 18 Milchkühen eingerichtet, außerdem unterhält man ein kommunales Lager mit Grundnahrungsmitteln, in der Hauptsache Kartoffeln. Bald darauf tritt Gründgens im Städtischen Saalbau am Saarbrücker Neumarkt erstmals in Goethes FAUST auf – noch nicht als Mephistopheles, sondern in der Rolle des Schülers. Daneben nimmt er einige Stunden Schauspielunterricht bei Karl Zistig, der als jugendlicher Held und Charakterspieler am Schauspielhaus der Stadt Saarbrücken verpflichtet ist; mit ihm wird Gründgens wenige Jahre später an den Hamburger Kammerspielen spielen und ihn 1935 als Gastregisseur ans Berliner Staatstheater holen.
Als nach der Revolution das Fronttheater aufgelöst und Gründgens’ Truppenteil nach Thale im Harz verlegt wird, wird er dort zunächst mit der Vorbereitung und Leitung einer Weihnachtsfeier, dann sogenannter Volks- und Unterhaltungsabende betraut, die vorwiegend im Gasthaus Zur Forelle56 stattfinden, genauer gesagt in einem im Rückgebäude gelegenen Saalbau. Man zeigt vor allem »kleine Einakter, die man im Repertoire von Dilettantenbühnen zu finden pflegt«57, so Gründgens. Ob man tatsächlich auch das Harzer Bergtheater58, eine 1903 errichtete, 1350 Zuschauer fassende Freilichtbühne auf dem Hexentanzplatz hoch über dem Bodetal, bespielt hat, wie stets behauptet wird, dürfte angesichts der Temperaturen zu dieser Jahreszeit fraglich sein. Gründgens, der in einer Pension an der Kronprinzenstraße unterkommt, organisiert in dem 15000 Einwohner großen Thale aber nicht nur Theateraufführungen, sondern auch Vortragsabende und Tanzvergnügen, bei denen er, elegant im Cutaway gekleidet, während der einzelnen Tänze mit dem Teller abkassiert und zur Kontrolle farbige Bänder an diejenigen Tänzer verteilt, die ihren Obolus entrichtet haben. Mit Akribie erledigt er die Verwaltungsarbeiten und führt das Buch dieser »Theatergesellschaft«, leitet zudem sämtliche Proben und tritt auch weiterhin selbst auf, mit besonderem Erfolg als Karl-Heinz in Wilhelm Meyer-Försters populärem Rührstück ALT-HEIDELBERG – übt also schon 1919 jene drei Tätigkeiten aus, die sein künstlerisches Leben bestimmen werden, ist Darsteller, Regisseur und Intendant. Und es begegnet ihm erstmals jene Rolle, die ihn weltberühmt machen wird: Am 18. Februar 1919 rezitiert er, annonciert als Mitglied der Volksbühne Saarbrücken, im Saal des Hotels Ritter Bodo an der Thaler Hubertusstraße »im Rahmen eines etwas hochgestapelten Vortragsabends«59 »unter Mitwirkung von Herrn Kapellmeister G. Klette (Geige)«60 die drei ersten Szenen des Mephisto aus FAUST, zudem den Orest-Monolog aus Goethes IPHIGENIE AUF TAURIS, die Szene des Riccaut de la Marlinière aus Lessings MINNA VON BARNHELM sowie einige Gedichte. Als das Theater aufgelöst wird, signiert er zum Abschied am 14. März 1919 ein Photo, das ihn »mit dem Profil ihm griech’schen Stil« zeigt, und versieht es mit der Bemerkung: »zum Aufbewahren bis ich berühmt bin«61.
Widmungsphoto mit eigenhändiger Unterschrift vom 14. März 1919
© Theatermuseum Düsseldorf