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2. Leben lernen

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»Ich will jetzt versuchen, leben zu lernen«1, verkündet Gründgens 1963 nach seinem Rücktritt als Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Angebote, an den Städtischen Bühnen Frankfurt oder am Bayerischen Staatsschauspiel in München zu gastieren, lehnt er ebenso ab wie die Offerte, am Wiener Burgtheater den Prospero in Shakespeares STURM zu spielen.2 Erst am 28. Dezember sollen die Proben für eine Tournee mit Hermann Bahrs KONZERT beginnen. Organisiert durch die von Will Quadflieg und Maria Becker gegründete »Schauspieltruppe Zürich«, soll sie nach der Premiere am 31. Dezember 1963 in Düsseldorf bis zum 8. April 1964 durch die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz führen, Gründgens für ein stattliches Honorar von 160000 DM inszenieren und die Hauptrolle übernehmen, neben Marianne Hoppe, Heinz Reincke und Sabine Hahn. Im Herbst 1964 will Gründgens vier Monate lang dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zur Verfügung stehen, nach einer Pause von anderthalb Monaten ist eine Gastinszenierung am Burgtheater vorgesehen, auch ein Gastspiel mit FAUST in Tokio wird schon seit längerem vorbereitet.

Am 10. Mai 1963 fährt Gustaf Gründgens zunächst nach Madeira – seiner bevorzugten Urlaubsdestination seit dem Frühjahr 1958 –, wo er sich bereits im Februar vier Wochen lang erholt hatte und nun weitere drei Monate verbringen will. Mit dem Flugzeug geht es nach Lissabon, von dort erreicht man Madeira per Schiff in knapp zwei Tagen. Gründgens liebt die Insel, ihre »Eukalyptuswälder, Orchideenwälder, Dörfer, wo alle Mädchen vor den Türen sitzen und sticken«, findet sie »an manchen Sommerabenden zum Weinen schön, immer wird ein anderer Heiliger mit [ein] bißchen Feuerwerk gefeiert, und alle Leute sind unfaßlich herzlich, unkompliziert und bereitwillig«3. In den ersten Jahren hatte Gründgens im traditionsreichen Hotel Reid’s in Funchal logiert, seit Januar 1960 besitzt er ein eigenes Domizil in São Gonçalo unweit des Ribeiro Sêco, 250 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, mit einem pittoresken Blick über die Bucht und die Häuser von Funchal – Gründgens mag es, mit seinem Fernglas die Uhrzeit am Turm der Sé Catedral de Nossa Senhora da Assunção abzulesen – und nur zehn Autominuten davon entfernt; er hat sich für seine Inselaufenthalte einen Peugeot 203, Baujahr 1949 zugelegt. Die »Vivenda Maria do Carmo«, wie sein erstmals Ende Juni 1960 bewohntes Zuhause an der Rua do Conde de Carvalhal Nr. 222 heißt, ist ein recht kleines, zweistöckiges Haus mit Wohn- und Eßraum sowie zwei Schlafzimmern, weiß getüncht, mit rot lackierten hölzernen Fensterläden, das Dach mit roten Ziegeln gedeckt, daneben Palmen und Bougainvilleen, zwei Orangen- und ein Zitronenbäumchen – und eine kleine casa de palha, ein strohgedecktes Häuschen, in dem Gründgens im Sommer gerne die Nacht verbringt. Wie das auf der Insel üblich ist, wachsen Unmengen von Orchideen, Rosen und Azaleen in Blumentöpfen, rund 1500 sind es an der Zahl: »Ich bin ganz verrückt damit. Hier blühen die Mimosen und Camelien und viele andere Blumen, deren Namen ich nicht weiß«4, hatte er gleich nach dem Kauf seiner Sekretärin Ursula Stadermann5 berichtet. Um das nahezu spartanisch eingerichtete, aber mit Strom- und Telephonanschluß ausgestattete Anwesen kümmert sich der Gärtner Antonio, »ein stiller netter Junge, der nicht so recht begriff, in was er da hineingeraten war«6, wie ein langjähriger Freund von Gründgens meint. Doch meist versorgt sich Gründgens selbst, er kocht leidenschaftlich gerne und ist stolz auf »seine Rezepte«7. Regelmäßig fährt er ins Reid’s, um dort zu schwimmen: Über Treppen erreicht man vom Hotel eine Plattform knapp über dem Meeresspiegel mit einem Pool und direktem Zugang zum Ozean. Zu Gründgens’ wenigen Bekannten auf Madeira gehören Walter Belmonte8, ein 1933 aus Deutschland emigrierter jüdischer Kinderarzt, und seine Frau Alice, ansonsten genießt Gründgens seine Anonymität und lebt völlig zurückgezogen. Um sich mit den Nachbarn rudimentär verständigen zu können, hat er sich etwas Portugiesisch angeeignet, »aber ich nehme an, daß, wenn ich mit meinem Portugiesisch nach Lissabon käme, das wäre ungefähr so, [wie] wenn ein Oberbayer nach Hamburg käme«9.

Dem Journalisten Günter Gaus gibt ein entspannt wirkender Gründgens am 17. Mai 1963 sein einziges Fernsehinterview, erstmals ausgestrahlt wird es in der Sendereihe »Zur Person« am 10. Juli im ZDF. Er sei »wahrscheinlich […] ein Glückskind gewesen«, erzählt er, denn das sei »die einzige Erklärung […], wieso das so hoch hinauf ging«, doch habe er »kräftig […] zahlen müssen für das Glückskindsein, in den Schoß gefallen« sei ihm nichts. »Ich habe in den letzten 30 Jahren immer zu viel gearbeitet und vergessen zu leben. Wenn ich jetzt diesen Einschnitt gemacht habe, so mache ich ihn, um vor Toresschluß noch rasch zu lernen, wie man lebt. Sehen Sie, mein Leben bestand darin: Das ist der Tag vor FAUST und der Tag nach FAUST oder der Tag vor HAMLET und der Tag nach HAMLET. Irgendeinen entspannten Tag gab es eigentlich ganz selten. Und wenn ich von dem Intendantenberuf sprechen soll: Der hat absolut nie Ferien.«10 In diesem Sommer besucht ihn für fünf Wochen das Schauspielerehepaar Ehmi Bessel und Werner Hinz, dem sich Gründgens besonders verbunden fühlt; die Abende verbringt man meist beim Skat. Dreimal wöchentlich nimmt er bei einer älteren Dame Englischunterricht, um sich auf eine lange geplante Weltreise vorzubereiten.

Acht Tage vor deren Antritt unterzieht sich Gründgens in Hamburg einer größeren zahnärztlichen Behandlung. Er wohnt in der Universitätsklinik Eppendorf – seine Wohnung im Harvestehuder Weg 19 hatte er bereits zum 31. Juli gekündigt. »Er war aufgeschlossen, heiter, voll mit Reiseplänen angefüllt, wirkte so ›unpsychiatrisch‹, daß wir ihm wenig Aufmerksamkeit schenkten«, berichtet der Psychiater Michael Winzenried. »Jetzt bin ich frei … Ist Freiheit Macht, oder werde ich noch einsamer?«, habe ihn Gründgens gefragt. »Ich freue mich unbändig auf die Welt, oder soll ich lieber hierbleiben? Freude gab es so wenig in meinem Leben, und nun fürchte ich, an diesem fetten Bissen zu ersticken …«11 Im Anschluß holt Gründgens in München, wo er im Bayerischen Hof absteigt, beim Herrenausstatter L. H. van Hees in der Brienner Straße die bestellte Reisegarderobe ab, begutachtet den Plakat-Entwurf für die geplante Tournee, verabredet sich unter anderem mit Emmy Göring und Marianne Hoppe, erhält Besuch von Antje Weisgerber und trifft sich in der Lobby des Hotels Vier Jahreszeiten mit Fritz Kortner, unter dessen Regie er in Hamburg den Lear spielen soll.12

Am 13. September 1963 fliegt Gründgens nach London. Begleitet wird er von seinem Geliebten, dem Regieassistenten Jürgen Schleiß13, der auch die KONZERT-Tournee leiten soll. Gründgens hatte den damals 21jährigen gelernten Mechaniker im November 1959 als Beleuchter am Schauspielhaus kennengelernt, bei der Arbeit an Lawrence Durrells SAPPHO. Seither verbringt er mit dem Sohn eines Hamburger Obst- und Gemüsehändlers, der vom Herbst 1960 an die Schauspielklasse von Eduard Marks an der Hamburger Musikhochschule besucht und am Schauspielhaus gelegentlich assistiert hat, regelmäßig die Ferien, obwohl dieser, nicht ganz unanstrengend für Gründgens, oft »vor Vitalität aus dem Anzug fällt«14. Am Abend des 13. September sehen sie im Londoner Cambridge Theatre das Musical HALF A SIXPENCE mit dem britischen Rock-’n’-Roll-Star Tommy Steele und feiern so den 25. Geburtstag von Schleiß. Am 15. September schiffen sie sich in Southampton auf der 1960 vom Stapel gelaufenen SS Canberra ein, dem größten Ocean Liner der Peninsular & Oriental Steam Navigation Company. »Das Schiff: man glaubt es nicht 2300 Passagiere.15 Alles in mißverstandener Sachlichkeit; die Aufenthaltsräume unterscheiden sich nur in ihren Namen, sonst sieht einer wie der andere aus. Das Essen grenzt an Skandal. Die Auswahl beschränkt sich auf je 2 Gerichte. Der Service ist gut und ein Schlager meine Kabine: sicher 40 qm«16, schreibt Gründgens seinem Adoptivsohn Peter Gründgens-Gorski. Die Zeit an Bord vertreibt er sich unter anderem mit der Lektüre von Günter Grass’ soeben erschienenem Roman HUNDEJAHRE; eine zentrale Figur darin ist der opportunistische Schauspieler Walter Matern, der, zunächst Kommunist, dann SA-Mitglied, seine Vergangenheit umdeutet, verdrängt und nur zum Teil eingesteht, bis diese schließlich zum Gegenstand einer öffentlichen Rundfunkdiskussion wird.

Via Gibraltar und Neapel steuert die SS Canberra Port Said an und durchquert dann den Suez-Kanal, »und ich muß sagen, daß das zum Eindrucksvollsten gehört, was ich gesehen habe. Ein imponierendes Werk von Menschenhand. […] Jetzt ist es schon ganz schön heiß. Swimmingpool heute morgen um 7 Uhr 30 80° Fahrenheit.«17 Durch das Rote Meer und den Golf von Aden erreicht das Schiff nach zwei Wochen schließlich das vom Monsun durchnäßte Colombo, die feuchte Hitze ist schier unerträglich, selbst das Bettzeug klamm. Gründgens und Schleiß wohnen im an der Küste gelegenen Mount Lavinia Hotel, der 1806 errichteten, 1877 zum Hotel umgewandelten Residenz des britischen Gouverneurs, zwölf Kilometer südlich der Hauptstadt. Am hoteleigenen Strand geht Gründgens im Meer schwimmen, und obschon »kaum zum Aushalten«, da »nur heiß und feucht«, machen die beiden eine »große Überlandfahrt«18 in die einstige singhalesische Hauptstadt Kandy mit dem berühmten »Zahntempel«. Per Flugzeug reisen sie am 3. Oktober weiter nach Singapur, erst seit einem Monat unabhängig von den Briten, steigen dort im Hotel Inter-Continental an der Orchard Road 585 ab, »das fabelhaft ist; mit Klimaanlage und Swimmingpool«19, und besuchen trotz Regens eine Orchideenschau sowie am Abend die drei nahezu menschenleeren Vergnügungsparks »The Great World« in der Kim Seng Road, der neben seiner Hauptattraktion, einer Geisterbahn, weitere Fahrgeschäfte, vier Kinos, einen Nachtclub und zahlreiche Restaurants bietet, »The Happy World« in der Geylang Road, wo man sich ebenfalls in Kinos, Theatern, Cabarets und Tanzlokalen amüsieren kann, und den ganz ähnlichen Park »The New World« in der Kitchener Road, berühmt für die Auftritte des Wrestlers King Kong und der »Queen of Striptease« Rose Chan. »Bis jetzt seit Suez keine Sonne mehr gesehen. Aber jetzt geht es wieder aufwärts (auf dem Globus)«20, berichtet Gründgens. Von Singapur fliegen die beiden in die philippinische Hauptstadt Manila, wo sie am Sonntag, dem 6. Oktober, eintreffen. Über Hongkong, Tokio, Honolulu, Los Angeles, Mexiko-Stadt, Acapulco, San Juan in Puerto Rico, die jamaikanische Hauptstadt Kingston, Miami und New York soll die Reise rechtzeitig zu den Weihnachtsfeiertagen zurück nach Hamburg führen.

Gründgens und sein Freund checken kurz nach 14 Uhr im Manila Hotel am Rizal-Park ein, dem 1912 eröffneten ersten Haus am Platz. Der übermüdete und aufgrund der Nachricht, er müsse wegen einer für die Weiterreise erforderlichen Cholera-Impfung sechs Tage lang auf den Philippinen bleiben, ungehaltene Gründgens ist unzufrieden mit dem reservierten Zimmer und wartet in der Lobby, während Schleiß in einem Taxi andere Hotels abklappert, um eine bessere Unterkunft aufzutreiben. Schließlich findet sich im Manila Hotel dann doch ein akzeptables Apartment: Room 326, zwei Schlafzimmer, verbunden mit einem Korridor, von dem aus eine Tür ins Bad führt. Beim Abendessen verabredet man für den nächsten Tag eine Fahrt ins Landesinnere, bespricht den zu verschiebenden Weiterflug nach Hongkong. Als sich Gründgens um halb elf schlafen legen will, Schleiß aber noch ausgehen möchte, kommt es, wie dieser später erzählen wird, zu einem »furchtbaren Streit«, so heftig und lautstark, daß die Zimmernachbarn an die Wand klopfen. »Mach, daß du rauskommst, verschwinde«, habe ihn Gründgens angeschrieen.21 Jürgen Schleiß begibt sich um halb zwölf hinunter in die »Jungle Bar« des Hotels, von der er eine Stunde später zurückkehrt. Er zieht seinen Pyjama an und geht zu Bett, findet jedoch wegen der Neonreklame, die in sein nicht zu verdunkelndes Zimmer scheint, keinen Schlaf. So hört er etwa eine halbe Stunde später »irgendetwas bumsen«22. Er sieht Licht in Gründgens’ Schlafzimmer, klopft, bleibt ohne Antwort, macht die Tür auf – das Bett ist leer. Die Badezimmertür läßt sich nur schwer öffnen, Gründgens liegt mit dem Kopf dagegen auf dem Boden. Schleiß hebt den Kopf vorsichtig an: Noch lebt Gründgens, ist aber besinnungslos, seine Atmung sehr flach. Herzschlag und Puls sind kaum spürbar, die Oberlippe weist eine leichte Blaufärbung auf. Über das Haustelephon verlangt Schleiß bei der Rezeption nach einem Arzt, dann legt er ein Kissen unter Gründgens’ Kopf. Zunächst erscheint eine Krankenschwester, nach ihr Dr. Tiongson, der Hausarzt des Hotels, der sogleich eine Koffeinspritze aufzieht, dann aber nochmals Gründgens’ Herz abhorcht und den Tod konstatieren muß. Auf Drängen von Schleiß injiziert die Krankenschwester die Spritze dennoch.


Luftpostumschlag mit der letzten Notiz von Gustaf Gründgens

© Theatermuseum Düsseldorf

Fortunato Angeles, der Security Supervisor des Hotels, ruft um 1.45 Uhr die Polizei. Beamte des vierten Reviers unter Leitung von Detective Avelino Evangelista von der Mordkommission sowie der 55jährige Mariano B. Lara, der erfahrene Chief Medical Examiner des Police Departments, untersuchen die Leiche und deren Fundort. Im Waschbecken entdeckt man ein leeres, zerbrochenes Tablettenröhrchen des Schlafmittels Nembutal23 – an einer Überdosis dieses Barbituratsäure-Derivats war ein Jahr zuvor Marilyn Monroe gestorben. Auf einen Briefumschlag, den man in Gründgens’ Schlafzimmer findet, hatte er geschrieben: »Ich habe glaube ich zu viel Schlafmittel genommen, mir ist ein bißchen komisch. Laß mich ausschlafen.«24 Die 24jährige Stewardeß Hildur Kirchdörfer hatte Gründgens und Schleiß auf dem Herflug mit Pan American Airways begleitet und schläft nun im Zimmer 436. Man weckt sie auf Wunsch von Schleiß, der nur Deutsch spricht, damit sie bei der Vernehmung, die in einem unbelegten Hotelzimmer stattfindet, dolmetscht. Der in Tränen aufgelöste Schleiß, von der Polizei zunächst verdächtigt, er habe seinen Reisegefährten umgebracht, beteuert immer wieder, er sei nicht schuld, sei ja gar nicht auf dem Zimmer gewesen.25 Hildur Kirchdörfer übersetzt auch Gründgens’ letzte Zeilen für die philippinischen Polizisten ins Englische. Ungewöhnlich ist eine solche Notiz für Gründgens indes keineswegs. »Bitte nicht wecken / Kein Telephon / Kein gar nichts / Und wenn es 5 Uhr wird«, heißt es etwa auf einem Zettel aus dem Jahr 1952, der mit den Worten endet: »Ob ich spiele, entscheide ich, wenn ich wach bin.«26 Ein Polizeiphotograph macht Aufnahmen des mit einem Pyjama bekleideten Toten. Der von Mariano B. Lara ausgestellte Totenschein vermerkt: »Asphyxial cardio respiratory failure secondary to an ingested substance causing hemorrhage in stomach and duodenum and congestion of visceral organs, to be verified by toxological analysis.«27 Die Polizisten halten fest, es handle sich entweder um Suizid oder um eine unbeabsichtigte Überdosis, und ordnen eine Autopsie an. Gegen 4.30 Uhr – im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg läuft gerade Gründgens’ wiederaufgenommene Inszenierung von Tirso de Molinas DON GIL VON DEN GRÜNEN HOSEN – wird die Leiche durch einen Ambulanzwagen ins städtische Leichenschauhaus überführt. Als das von Schleiß aufgegebene Telegramm mit der Todesnachricht Peter Gründgens-Gorski in seiner Wohnung in der Enzianstraße 20 erreicht, ist es in Hamburg tief in der Nacht. Am Morgen werden die Mitglieder des Schauspielhaus-Ensembles telephonisch benachrichtigt und ins Theater gerufen, stundenlang sitzen sie im Konversationszimmer beieinander; die Probe zu den LUSTIGEN WEIBERN VON WINDSOR unter Gorskis Regie wird abgesagt.

In Manila hat man den Toten derweilen obduziert. Eine chemische Analyse des Mageninhalts ergibt Spuren von Barbiturat, jedoch keine Zyanide. Man findet weder Magengeschwüre noch Hinweise auf eine Krebserkrankung. Hatten die Schlafmittel im tropischen Klima der Philippinen womöglich eine stärkere Wirkung entfaltet? Hätte Gründgens auch die von ihm ständig benötigten Blutgerinnungshemmer neu dosieren müssen? Hatte er, durch den Streit erregt, eine zu hohe Dosis eingenommen? Oder hatte er geglaubt, nur der Tod könne ihn von der Sehnsucht nach Leben erlösen? Am 9. Oktober 1963 verfaßt in Manila der zuständige Polizeioffizier Enrico C. Quemi einen abschließenden Bericht, der vermerkt, Gustaf Gründgens sei eines natürlichen Todes gestorben. Dennoch veröffentlicht die deutsche Boulevardpresse Photos der halb entblößten Leiche, garniert mit – lange anhaltenden – Spekulationen über die Todesursache. »Polizei in Manila erklärt: Gustaf Gründgens beging Selbstmord«, lautet der Aufmacher der Hamburger Morgenpost am 9. Oktober 1963. 1967 gewinnt Peter Gründgens-Gorski die Klage wegen schwerer Verunglimpfung des Andenkens gegen die Lübecker Nachrichten, die eine angebliche Behauptung von Gründgens’ Mitarbeiter Ulrich Erfurth zitiert hatten, daß Gründgens »im bekanntesten Homosexuellen-Hotel Manilas« gewohnt und »sich in seinem Zimmer umgebracht habe, weil ihn sein ›Bubi‹ […] betrogen habe«28. Noch Jahrzehnte später raunt man, zwei Stricher hätten Gründgens »massakriert«29, und nicht nur der Stern kolportiert 1995 Johann Kresniks Behauptung, Gründgens sei »einem homosexuellen ›Ritualmord‹ zum Opfer gefallen und eilig eingeäschert worden«30.


Zeitungsausschnitte aus »Bild am Sonntag«, 13.10.1963

beide: © Theatermuseum Düsseldorf

An der knapp einstündigen Trauerfeier in der Funeraria Quiogue, einem Bestattungsinstitut an der Calle Azcarraga (der heutigen Claro M. Recto Avenue), nehmen am 8. Oktober um 14 Uhr rund 40 Mitglieder der deutschen Kolonie teil; die Botschaft und das Goethe-Institut haben Kränze geschickt. Der 28jährige, aus Royal Oak im US-Bundesstaat Michigan stammende Pastor David John Schneider von der Trinity Lutheran Church in Quezon City spricht ein kurzes Gebet – Gründgens war 1929 aus Steuergründen aus der katholischen Kirche dissidiert, 1953 wieder ein- und später erneut ausgetreten. Franz Ferring, der Geschäftsträger der deutschen Botschaft, hält die Trauerrede. Von Schallplatten ertönt noch einmal die Stimme Gründgens’ als Hamlet, darauf der zweite Satz aus Beethovens 3. Sinfonie, der sogenannten EROICA, ein Trauermarsch in c-Moll. Danach wird der schlichte braune Sarg kurz geöffnet, um den Anwesenden einen letzten Blick auf den Toten zu gestatten, und anschließend zur Einäscherung ins San-Lazaro-Krematorium gebracht. Schleiß fühlt sich nicht fähig, beim Rückflug die Urne aus Tropenholz mit sich zu führen, so trifft diese erst am 18. Oktober in Hamburg ein; Ursula Stadermann nimmt sie am Flughafen in Empfang. Einige Tage später werden die sterblichen Überreste ohne jedes Zeremoniell in einem Ehrengrab der Stadt auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet, am südlichen Rand des Althamburgischen Gedächtnisfriedhofs, nahe dem Haupteingang; am 4. Dezember 1964 wird die Grabplatte aus hellem Marmor gesetzt.

Bereits am 16. Oktober 1963 hatte das Amtsgericht Hamburg das Testament eröffnet, verfaßt am 29. September 1956 und zwei Tage später mit dem Siegel des Hamburger Notars Günther Grethe versehen. Nur der Adoptivsohn Peter Max Walter Gründgens-Gorski, geboren am 7. September 1921 in Berlin, war zur Testamentseröffnung erschienen. Er ist der Alleinerbe, überläßt indes das Häuschen auf Madeira Jürgen Schleiß. Beide werden beim Versuch, künstlerisch in die Fußstapfen von Gründgens zu treten, scheitern. Schleiß ändert zwar zunächst seinen Namen in Georg Arndt, um nicht mehr mit Gründgens in Verbindung gebracht zu werden, erkennt aber schon bald die Werbewirksamkeit von Attributen wie »GGs Begleiter auf der Weltreise, die so tragisch endete«31 oder »Gründgens’ letzter Assistent«32 – auch Gründgens’ 1941 geborener Neffe Michael Geimer wird versuchen, vom berühmten Namen zu profitieren, und als Michael Geimer-Gründgens die Klamotte KOMM IN DIE WANNE, SCHÄTZCHEN, die 1971 in die Kinos kommt (»Brennende Jungfrauen – tanzende Polizisten – Galopprennen im Ehebett«, verspricht das Filmplakat), und 1976 den Hardcore-Porno SOCK IT TO ME inszenieren: »Wenn mein Onkel das erfahren hätte, wäre er sicherlich zunächst in Ohnmacht gefallen«33, verkündet er werbeträchtig. Jürgen Schleiß, der eine Zeitlang im Nachbarhaus von Peter Gründgens-Gorski an der Hamburger Enzianstraße mit seinem Lebensgefährten, dem Pianisten Christoph Eschenbach, zusammenwohnt, spielt von 1964 an einige kleine Rollen in Köln, Düsseldorf und Bochum, studiert unter anderem das teils umbesetzte Hippiemusical HAIR im Hamburger Besenbinderhof neu ein und inszeniert Fernando Arrabals GARTEN DER LÜSTE an den Düsseldorfer Kammerspielen. Bald jedoch gibt er die Bühnenkarriere auf und übersiedelt im November 1973 mit seinem neuen Lebenspartner Wolfgang Wandert nach Hongkong, wo die beiden als General Manager für ein deutsches Textilunternehmen die dortige Produktion überwachen. Nach zwölf Jahren kehren sie wohlhabend nach Deutschland zurück; Schleiß stirbt 1991 in München an den Folgen von AIDS. Auch Peter Gründgens-Gorski wird künstlerisch eher wenig Erfolg haben. Schon zu Lebzeiten seines Adoptivvaters hatte er nicht nur regelmäßig am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Regie geführt, sondern gelegentlich auch an anderen Bühnen gastiert, nun inszeniert er unter anderem 1964 Gounods Oper FAUST in Pretoria, 1968 in Kopenhagen Goethes FAUST nach Gründgens’ Konzeption. Am 17. Februar 1972 heiratet er in Hamburg seine Lebensgefährtin Ingeborg Bleckwedel34, eine Schulfreundin aus Berlin, die er bereits 1956 beim Tennisturnier am Hamburger Rothenbaum wiedergetroffen hatte, und entzieht sich ein Jahr später einem deutschen Steuerverfahren durch die Flucht nach Ibiza, wo er seit den 60er Jahren eine Finca im typisch ibizenkischen Stil nahe der Cala Vadella besitzt. Am 1. Dezember 1999 wird diese erste Ehe geschieden, und Gorski, inzwischen nach Mallorca übergesiedelt, heiratet dort am 19. Januar 2001 die 1948 geborene Gabriele Hesse. Am 3. März 2007 stirbt er in Manacor an einem Schlaganfall, wenige Wochen darauf, am 12. April 2007, erliegt Gabriele Gründgens-Gorski ihrem Krebsleiden.

Vier Tage nach der Testamentseröffnung findet am Sonntag, dem 20. Oktober 1963, vormittags um 11 Uhr im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg die offizielle Trauerfeier für Gustaf Gründgens statt. Auf der Bühne hat man die Dekoration zum »Vorspiel auf dem Theater« aus Gründgens berühmter FAUST-Inszenierung aufgebaut. Ganz vorne nimmt, ein schwarzes Tuch um den Kopf geschlungen, Elisabeth Flickenschildt Platz, in einer der hinteren Reihen der Dirigent Herbert von Karajan. Marianne Hoppe verbirgt sich hinter einem Logenvorhang. Fritz Kortner und Rolf Liebermann sind gekommen, Pamela Wedekind, Käthe Gold und Lola Müthel. Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters unter Leitung von János Kulka spielen das Adagio aus Mozarts Bläserserenade in Es-Dur KV 375 und das Adagio aus der GRAN PARTITA, der Serenade in B-Dur KV 361. »Du warst immer der leuchtende Stern vor meinem Wagen – ich werde Dir nachstreben bis ans Ende meiner Tage. Gute Nacht – Mein Prinz«35, schließt der Schauspieler Ullrich Haupt seine Rede. »Er war eine hochgefährdete Natur, wir wußten es alle. […] Er war ein Misanthrop, von Einsamkeit umgeben, verletzlich, sogar mißtrauisch, dabei von erstaunlicher Hellsichtigkeit gegenüber den Menschen. […] Im Umgang oft nervös und schwierig, bewies er bei Proben eine unendliche Geduld«, würdigt Senator Hans-Harder Biermann-Ratjen den Verstorbenen. »Unter allen Rollen, die er gespielt hat, war die Rolle des Intendanten nicht die schlechteste.«36

Gustaf Gründgens

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