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KAPITEL 2 Über Fieber und die Eigenarten akuter Erkrankungen

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Gebt mir eine Medizin, die Fieber herbeiführt, und ich kann jede Krankheit heilen.

— HIPPOKRATES.

Im November 1890 amputierte der 28-jährige Chirurg William Coley den Unterarm einer jungen Frau namens Bessie Dashiell, einer engen Freundin von John D. Rockefeller Jr., die einen bösartigen Knochentumor in der Hand hatte. Coley war erst kürzlich in den Dienst am New York City Memorial Hospital eingetreten, wo er von dem bekannten Sarkom-Spezialisten Dr. James Ewing unter die Fittiche genommen wurde. Obwohl das Memorial Hospital als das weltweit beste Behandlungszentrum für Sarkome galt, streute der Knochenkrebs bei der jungen Frau weiter durch den ganzen Körper und kostete sie innerhalb weniger Wochen das Leben.9

Coley war nicht nur von diesem Tod erschüttert, sondern auch von der Tatsache, dass das Memorial Hospital trotz seiner – für die damalige Zeit – fortschrittlichen chirurgischen Techniken zu oft bei der Sarkombehandlung versagte. Deshalb begann er, die Krankenhausakten zu studieren. Er wollte besser verstehen, welche Faktoren im zeitlichen Verlauf den Unterschied zwischen Erfolg und Versagen ausmachten. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Nur bei sehr wenigen der stationären Sarkom-Patienten war es jemals zur Genesung gekommen.

Angesichts der massiven Fehlraten stach der Fall eines deutschen Immigranten und Hafenarbeiters deutlich heraus. Laut Akte wurde der Mann in das Memorial Hospital 1883 mit einem bösartigen Tumor im Nacken aufgenommen. Als er später wieder entlassen wurde, zeigte er, obwohl er keiner Operation unterzogen wurde, keine weiteren Anzeichen eines Tumors. Coley war fasziniert und machte den Mann ausfindig: Er lebte noch und war bei guter Gesundheit und berichtete von seiner Erfahrung. Coley erfuhr, dass sich der Mann während der Wartezeit auf die Operation mit einem ansteckenden Erysipel infiziert hatte, einer tiefgreifenden und schmerzhaften Streptokokken-Infektion der Haut.10

Erysipel gehen normalerweise mit intensiven Schmerzen, Rötungen und hohem Fieber einher. Bevor es Antibiotika gab, war es nicht unüblich, dass Erysipel-Patienten über Wochen hohes Fieber von 40 °C oder mehr hatten. Auch kam es nicht selten vor, dass sie an dem Erysipel starben. Dieser Patient jedoch erholte sich davon und auch sein Sarkom verschwand. Die geplante Operation konnte entfallen und der Mann wurde entlassen.

Solche Fälle werden typischerweise unter der Kategorie „Spontanheilung unbekannter Ursache“ subsumiert, aber Dr. Coley begann sich für die Rolle des Fiebers und des Immunsystems bei der Heilung von Krebs und anderen Krankheiten zu interessieren. In der wissenschaftlichen Literatur entdeckte er, dass sogenannte Spontanheilungen meistens bei Patienten auftraten, die gleichzeitig eine akut-febrile Infektion durchmachten. Er stieß auch auf eine Gruppe von Ärzten, die ihre Patienten mit Fiebertherapie behandelten. Und er erfuhr, dass man Krebspatienten in Europa mitunter bakterielle Gifte injizierte, um Fieber zu induzieren. Im Jahr 1891 begann Coley mit eigenen Experimenten.

Zunächst verabreichte er seinen Patienten Injektionen mit dem Erysipel-Auslöser Streptococcus pyogenes.11 Von den Patienten, die durch diese Exposition tatsächlich ein Erysipel entwickelten, starben zwischen 20 und 40 % an der Infektion. Ungefähr der gleiche Prozentsatz erlebte keinen nennenswerten Einfluss auf den Tumor. Und ungefähr 40 % aller Patienten wurden geheilt.12 Diese Ergebnisse waren von großer Bedeutung und ließen gleichzeitig zu wünschen übrig: Einerseits hatte zum ersten Mal in der modernen Medizingeschichte ein nicht-operativer Eingriff bei einer großen Zahl von Patienten zur dauerhaften Remission von einer ansonsten unheilbaren Krebsart geführt. Andererseits war eine Mortalität von 20 bis 40 % auch trotz guter Therapieerfolge ein deutlich zu hoher Preis. Coley machte sich daher auf die Suche nach einer besseren Lösung.

Nach langjährigen Versuchen war er in der Lage, einen endotoxischen Teil von S. pyogenes zu isolieren – und zwar die Außenmembran der Zellwand, die bei gramnegativen Bakterien eine starke Immunantwort provoziert – und diesen mit dem Endotoxin der Gattung S. marcescens zu kreuzen.

Jedes dieser Endotoxine kann für sich genommen starkes Fieber auslösen. Da Coley aber nur den Teil der Bakterien isolierte, der die Immunantwort hervorruft, stellte er sicher, dass das Risiko einer lebensbedrohlichen Infektion im Vergleich zur Injektion mit lebenden Bakterien deutlich herabgesetzt war. Diese Mischung, die als Coley’s Toxins bekannt wurde, injizierte er seinen Patienten je nach Verträglichkeit in aufsteigenden Dosen und erzeugte so über einen Monat lang ein stabiles Fieber um die 40 °C. Glücklicherweise hatte sich also seine Bereitschaft, das Leben anderer Menschen zu riskieren, ausgezahlt. Die Sterberaten sanken in den Keller und die positiven Wirkungen der Fiebertherapie waren lang anhaltend.

Coley behandelte fast 1000 Patienten, meistens mit inoperablen Sarkomen, und seine Toxin-Mischung (die zuletzt in 13 Zusammensetzungen erhältlich war) wurde über den Pharmahersteller Parke, Davis and Company Ärzten in ganz Europa und Nordamerika zugänglich gemacht.13 Eine Studie von 1945 schätzte die Remissionsrate auf über 60 Prozent von mehr als 300 inoperablen Krebsfällen.14 Das ist ein erstaunlicher Wert und übersteigt bei Weitem sämtliche Aussichten, die die moderne Onkologie Krebspatienten im 4. Stadium machen kann.

Jahrzehntelang wurden Coleys Toxine überall in den USA und Europa zur Behandlung einer breiten Palette von Krebsarten eingesetzt; sie wurden jedoch immer kontrovers diskutiert, was daran lag, dass Coley nie überzeugend erklären konnte, wie die Mischungen wirkten, und dass Resultate schlecht vorhersehbar waren. Bereits 1894 hagelte es die erste heftige Kritik im Journal of the American Medical Association (JAMA). In der Ausgabe hieß es: „Das totale Versagen der Toxin-Therapie zur Behandlung von Sarkomen und bösartigen Tumoren gilt nun als relativ gesichert.“15 Und James Ewing, ein fanatischer Verfechter der Strahlentherapie, untersagte Coley den Einsatz seiner Toxin-Therapie am Memorial Hospital.

1962 sollten die Bakterienmischungen regelrecht verbannt werden, als die Food and Drug Administration (FDA) ihnen die Zulassung als Arzneidroge verwehrte.16 Die Nachkriegsjahre markierten zugleich den Beginn von Strahlen- und Chemotherapie und den Übergang in die „Genetische Revolution“. Etwas so Simples, wie ein Fieber zu induzieren, mutete jetzt fast steinzeitlich an, wenn man seine Patienten doch mit modernster Technik beschießen konnte. Die pharmazeutische Welt hatte mit Aspirin und Acetaminophen (ähnlich zu Paracetamol) zwei fiebersenkende Mittel entdeckt und man begann mit der breitflächigen Verschreibung von Antibiotika. Den menschlichen Körper als einen selbstheilenden Organismus und Fieber als Hauptwerkzeug dieses Prozesses zu betrachten, gehörte nicht länger in den Behandlungskoffer des modernen Doktors.

Ironischerweise betrachtet man Coley heute als den Vater der „Immuntherapie“, die 2016 vom Magazin Atlantic als eine der vielversprechendsten „neuen“ Krebstherapien der letzten Jahrzehnte vorgestellt wurde.17 Medizinische Fakultäten der University of California oder der Stanford University machen in ihrer Krebsbehandlung zunehmend Gebrauch von Immuntherapien. Zwar preist man die Immuntherapie als „neue“ und weniger toxische Alternative an, würdigt dabei jedoch in den seltensten Fällen die Rolle, die das Fieber für die Immunantwort spielt. (Wie das genau abläuft, ist noch ungeklärt; wenn wir uns aber auf den Weg der immunologischen Krebstherapie begeben, sollten wir zunächst zu verstehen versuchen, wie unser Immunsystem überhaupt erst so dysfunktional geworden ist.) Das übliche Vorgehen ist weiterhin, beim kleinsten Anzeichen von Fieber fiebersenkende Mittel (Antipyretika) sowie bei jeder bakteriellen Infektion Antipyretika und Antibiotika zu verschreiben – selbst jenen Krebspatienten, die in dem Moment eine (bzw. mehrere) Immuntherapie(n) durchlaufen.

Was aber hat all das mit Impfungen und ihrem Einfluss auf gängige Kinderkrankheiten zu tun?

Im weitesten Sinne geht es um unsere Definition von Gesundheit und Krankheit. Bis noch vor ungefähr 50 bis 80 Jahren deutete man ein Krankheitsgeschehen, wenn auch von verschiedenen Menschen an verschiedenen Orten, auf Grundlage eines gemeinsamen Nenners. Oft war in den normalen Tagesablauf ein schädlicher Einfluss eingedrungen, sei es kalter Wind, verdorbenes Essen, schlechtes Wasser bis hin zu bösen Geistern und familiären Konflikten. Was es auch war, man musste es aus dem Körper „ausleiten“.

Diese „Ausleitung“ ist genau das, was im akuten Krankheitsfall geschieht. Wir (modernen Ärzte) haben jedoch vergessen (oder nie gelernt), dass eine Akutinfektion – in der Regel selbstlimitierend und von Fieber, Ausschlägen und Eiter begleitet – der bevorzugte Weg des Körpers ist, um sich von unerwünschten Giften und Stoffen zu befreien. Wenn man sich z. B. einen Splitter in den Finger stößt und nicht herauszieht, bildet der Körper Eiter, um ihn abzustoßen. Der Eiter ist ein Werkzeug des Körpers und keine behandlungsbedürftige Krankheit. Die Krankheit ist, wenn man so will, der Splitter. Wenn man hingegen den Eiter als die Krankheit ansieht, weil er ja eine Infektion ist, dann könnte man Antibiotika nehmen, während der Splitter unangetastet bleibt. Diese Fehlbehandlung akuter Erkrankungen legt die Grundlage für spätere chronische Krankheiten. Wenn eine Krankheit chronisch wird, ist ihr also eine toxische Belastung vorausgegangen mit gleichzeitiger Unterdrückung der körpereigenen Fähigkeit zur Entgiftung.

In der modernen Medizin spricht man jedoch kaum noch von „schädlichen Einflüssen“, das Interesse hat sich in Richtung Genetik verlagert. Wie besessen versuchen wir, die spezifischen Mutationen ausfindig zu machen, die in bestimmten Tumorzellen auftreten. Jährlich geben wir Milliarden von Dollar aus, um DNA-Sequenzen dieser entarteten Zellen zu entschlüsseln. Und auch wenn dieses Forschungsfeld seit einem halben Jahrhundert existiert, hat sich die Prognose von Krebspatienten bislang nur minimal verbessert.

In den über 30 Jahren meiner Tätigkeit als Hausarzt stellte ich mir bei einem kranken Kind immer zuerst die Frage, wie ich ihm durch die akute Notlage helfen könne, ohne seine Symptome zu unterdrücken. Meine 12-jährige Teilzeittätigkeit als Notarzt in New York und New Hampshire war hingegen von ständiger Frustration geprägt, da ich fast keinerlei Kontrolle darüber hatte, wie die Patienten in den Rettungsstellen symptomatisch behandelt wurden. Kindern mit knapp 40 °C Fieber gab man sofort Acetaminophen, „um das Fieber runterzubringen“, manchmal gleich im Warteraum, bevor ich sie überhaupt sehen konnte. War das Fieber unterdrückt, wurden die Kinder auf bakterielle Infektionen wie Bronchitis, Sinusitis oder Mittelohrentzündungen untersucht und ggf. mit Antibiotika behandelt, um die Infektion „auszuräumen“. Diese Prozedur findet tagtäglich an Tausenden Orten auf der ganzen Welt statt, meist ohne sich bewusst zu machen, welche Bedeutung Infektionen, Fieber und akuten Erkrankungen bei der Reifung des kindlichen Immunsystems zukommt.

Die Rolle der Infektionen (im Allgemeinen) sowie des Fiebers (im Besonderen) bei der Prävention und Behandlung von Krankheiten zu verstehen, würde wahrscheinlich mehr für die Gesunderhaltung unserer Kinder bedeuten als jede andere Maßnahme oder medizinische Errungenschaft. Die Bedeutung von Fieber und akuten Erkrankungen für die Entwicklung des Immunsystems außer Acht zu lassen – wie es unser Gesundheitswesen momentan tut –, wird auch bei der Behandlung von Krankheiten fundamentale Irrtümer nach sich ziehen, was vom überwiegenden Teil der Ärzteschaft unter Beweis gestellt wird.

Besonders in Bezug auf Impfungen werden schwerwiegende Fehler gemacht, da wir es hier mit dem sich noch entwickelnden Immunsystem sehr junger Menschen zu tun haben.

Impfungen und Autoimmunerkrankungen

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