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[Patrick Prentiss]

An einem schönen Abend im lindgrünen Juni von Munster durchquerte Patrick Prentiss zum erstenmal die von Kugeln gekrönten und von Falken bewachten Tore von Ardmor Castle und ließ dabei die Stadt Kilpeder so vollständig hinter sich zurück, als ob er von einem Planeten auf einen anderen übergestiegen wäre. Vor einer Minute hatte er noch auf dem Marktplatz gestanden und zerstreut die Arms, Tully und Sohn, Henefys Metzgerladen, Conefrys Schenke betrachtet, eine Minute darauf wanderte er zwischen Bäumen dahin, Eichen und blaßnadeligen Lärchen.

Zu seiner Rechten passierte er ein Kutscherhaus, das jetzt nicht mehr bewohnt war, winzig und palladianisch, zwei kleine dorische Säulen trugen eine reich verzierte Veranda. Vor ihm führte eine gerade Allee durch den Wald, deren Oberfläche von alten Wagenspuren, Hufspuren zerfurcht war. Junges Gras sproß in den Spuren. Heimkehrende Vögel kreisten über den Bäumen.

Dort, wo der Wald spärlicher wuchs, befand sich von eisernen Zäunen umgebenes Weideland. Dort wartete zwischen zwei Eichen in der Ferne schwarzes Vieh auf seinen Hirten. Hinter dem Weideland gab es noch mehr Wälder und einen Bach, der aus einem seichten See der Sullane entgegenfloß. Eine gewölbte Brücke führte über den Bach, auf der anderen Seite des Sees befand sich ein kleiner Steinpier, fast eine Verzierung, an dem jedoch ein auf dem seichten Wasser dümpelndes Boot vertäut war. Hinter dem See, zwischen den Ulmen, lag ein hölzernes rundes Lusthaus mit kegelförmigem Dach. Dieser Anblick war Prentiss von japanischen Drucken vertraut, und er wußte, daß genau diese Wirkung bei Besuchern, die soeben den Wald verließen, erzielt werden sollte. Erzielt durch etwas Feineres, Künstlerischeres als einfache Sorgfalt. Bach, See, Brücke, Pier, Lusthaus, fast sogar das Vieh selber, das unter seinen weitkronigen Eichen ruhte, waren nach einem ausgefeilten und zugleich zufälligen Plan entworfen worden.

Ardmor Castle selber lag noch ein gutes Stück entfernt, nüchtern und elegant. Auch dieses Schloß war in der Absicht errichtet worden, den Reisenden zu beeindrucken, aber diese Absicht unterschied sich von der, die Brücke, Pier und Lusthaus erdacht hatte, um einen Moment japanischer Verblüffung zu schaffen. Die hohen palladianischen Fenster hielten noch die letzten Abendsonnenstrahlen, als Prentiss sich dem Schloß näherte, weich und kühl, ein Spiel des Lichtes zwischen den gewaltigen Steinquadern. Die Allee endete in einer bogenförmigen, mit Kies bestreuten Auffahrt, über die er auf die Eingangstür zuging. Aus geringerer Entfernung war jedoch zu sehen, daß die weiße Farbe der Fensterläden abblätterte und verwittert war. Die Treppenstufen, über die er die Tür erreichte, waren von vertrocknetem blaßbraunem Schmutz überzogen.

Hugh MacMahon hatte Prentiss an einem Nachmittag, als sie auf einem flachen Hügel standen und das Schloß und die Domäne sehen konnten, vorgeschlagen, einmal mit Lionel Forrester zu sprechen. »Er war 67 hier in Kilpeder, wissen Sie. Der Earl war nicht hier, er studierte damals in Cambridge. Aber Lionel war hier, er besuchte die Mutter des Earl.«

Prentiss lächelte zweifelnd. »Der Vetter eines Earls«, sagte er, »kann mir doch sicher nicht viel über die Geschichte der Fenier erzählen.«

»Aber Sie würden in ihm trotzdem einen sympathischen Mann finden«, meinte MacMahon. »Er ist auch eine Art Historiker, so wie Sie selber. Jedenfalls ein Schriftsteller. Essays und Reisebücher – ein paar Romane. Ich habe die meisten. Eine Frage des Lokalpatriotismus.« Aber Prentiss schüttelte den Kopf.

Als sie weitergingen, behielten sie das Schloß im Blick, und seine Ausmaße wurden zur Größe eines Puppenhauses reduziert, der See zu einem grünsilbernen unregelmäßigen. Spiegel Kein Pfad führte vom Hügel, und sie bahnten ihren Weg durch Nesseln und hohes Gras, auf die MacMahon geistesabwesend mit seinem Schlehenstock einschlug. Die Sullane floß in der Ferne vorbei, durch die Sonne oder den Schatten der Bäume.

»Wir haben hier zwei Welten«, sagte er. »Unsere und ihre. Ihre Welt ist die halbe Geschichte.« Er blieb stehen und wandte sich zu Prentiss um. »Das müssen Sie doch selber wissen. Ihre Geschichte endet in Brierly Lodge.«

Prentiss schüttelte wieder den Kopf. »Ned Nolan hat diesen Mann 1892 umgebracht, ein Vierteljahrhundert nach dem Aufstand.« Dann aber fragte er voller Neugier: »War Forrester an jenem Abend in Brierly Lodge?«

»Nein, das war er nicht. Er war Lord Ardmors Vetter, und inzwischen standen den Ardmors die Häuser des Landadels nicht mehr offen. Die Ardmors waren die edelste von all diesen Familien. Das sind sie immer noch. Es hat eine Zeit gegeben, da gehörte ihnen die Stadt Kilpeder, einfach so, wie jemandem eine Weide oder ein Jagdhaus in Connemara gehören. Aber nach dem Landkrieg waren manche Türen für sie verschlossen. Es war eine bittere Zeit.«

»Sie kennen ihn also«, fragte Prentiss, »diesen Lionel Forrester?«

»Ich sehe ihn vielleicht vier-oder fünfmal pro Jahr. Er kommt im Herbst zur Jagd, und dann erst wieder im Frühling. Wir tauschen Bücher aus. Im Herbst schickt er mir jedesmal Moorhühner oder Fasane, und alle ein bis zwei Jahre legt er ein neues Buch von sich bei. Er hat ein wunderbares Büchlein über die italienischen Hügelstädte veröffentlicht, das er selber illustriert hat. Lord Ardmor lebt jetzt dort, in den Hügeln südlich von Florenz. Er kommt nie her.«

»Nie?«.

»Er hat Kilpeder endgültig 1892 verlassen, in dem Jahr, in dem seine Frau in London gestorben ist. Er war seitdem noch zweimal hier, weil es die Geschäfte des Gutes erforderten, und wenn er sich darum gekümmert hatte, reiste er gleich wieder ab. Bis auf eine Handvoll Farmen ist das Ardmor-Land bis hin zu den Domänenmauern verkauft worden. Sie waren einst eine reiche Familie, die Ardmors, und ihre Farmen zogen sich bis zur Grenze von Kerry und im Norden bis Millstreet hin. Sie waren die Gutsherren meiner eigenen Familie, der MacMahons, und auch der Nolans, um genau zu sein. Die Zeiten ändern sich, sogar in diesem elenden Hinterwald.«

Sie hatten sich wieder in Bewegung gesetzt, und jetzt verbarg eine Schonung das halbe Schloß vor ihren Blicken, als ob eine Wolke sich darüber gelegt hätte.

»Aber Sie müssen befreundet sein«, beharrte Prentiss. »Sie und Forrester. Warum sollte er Ihnen denn sonst Bücher und Moorhühner schicken?«

»Ich habe nie gelernt, wie man solche Geschöpfe fertigmacht«, antwortete MacMahon. »Wie sie aufgehängt werden und alles andere. Da liegt das arme Vieh dann auf meinem Küchentisch, und seine Federn verlieren ihren Glanz, und seine offenen Augen sehen aus wie dunkle Glasperlen. Die Bücher sind mir weitaus willkommener, um Ihnen die unhöfliche Wahrheit zu sagen. Er hat ein großes Talent dafür, mit einem oder zwei Sätzen weit entfernte Orte lebendig zu machen – die Sonne, die auf Fischernetze scheint, oder die Frauen auf Sizilien, wenn sie Sonntags aus der Messe kommen, dunkel und schweigsam. Nein, wir sind nicht befreundet. Dort liegt seine Welt, hier meine.«

Sie hatten inzwischen den Hügel verlassen und gingen über ein Feld auf die Straße zu. Der Duft von Klee hing in der Luft, Kleeblüten schmückten das Gras. Sie gingen in geselligem Schweigen dahin, aber Prentiss spürte, daß MacMahon etwas unerwähnt gelassen hatte. Er sagte nichts; sein neugewonnener Freund, denn als den betrachtete er MacMahon inzwischen, sollte mit seiner Vergangenheit allein sein. Dann sagte MacMahon schließlich auf kunstvoll lässige Weise: »Aber Forrester hat Bob Delaney gut gekannt. Wissen Sie, Bob und Ardmor waren befreundet.«

»Lord Ardmor?« fragte Prentiss ungläubig. Ardmor Castle, und ein Hinterzimmer von Tullys Laden, mit dem Geruch der Lebensmittel?

»Nicht zu Ihrer Zeit«, antwortete MacMahon fast barsch. »Nicht zur Zeit von Clonbrony Wood. Das war viel später, in den Tagen der Land League, als Bob die Bauern organisierte. In den Tagen der Boykottaktionen und von Parnells Kampagne.«

Eine trockene Mauer trennte sie von der Straße, die Steine ohne Mörtel sorgfältig aufeinander getürmt. Auf der anderen Straßenseite stieg aus einer Hütte Torfrauch auf, beißend und doch süß, ein Geruch, der in Zukunft, in London, Irland immer wieder in Prentiss’ Gedächtnis rufen und ihm von Straßen, Hütten, dem Schrei eines Brachvogels erzählen sollte. Es war eine elende Hütte, das Strohdach war alt und farblos. Vor der offenen Tür pickten Hühner in einem Misthaufen. Der Boden war jetzt eben, das Schloß und die Domäne unsichtbar. Jetzt gab es nur Felder, die Hütte, eine Straßenbiegung. Die Hütte hatte Lehmwände, mit weißer Tünche beschmiert – die Hütte eines Tagelöhners oder Viehhirten.

»Der Bob Delaney jener Jahre«, sagte MacMahon. »Ich kann nicht sagen, wer ihn besser kannte, ich oder Ardmor. Und doch hat mir außer Mary niemand, vielleicht nicht einmal ganz am Ende, jemals näher gestanden als er. Näher vielleicht als meine eigenen Söhne. Aber wir haben Clonbrony Wood auf verschiedenen Straßen verlassen, Bob und Ned und Vincent und ich.«

»Delaneys Weg hat ihn ins Parlament geführt«, meinte Prentiss.

MacMahon nickte. »Ins Parlament«, sagte er, »und weiter. Es wäre wirklich ein Jammer, Patrick, wenn Sie soviel Zeit in Kilpeder verbrächten, ohne mit Lionel Forrester zu sprechen. Ein großer Jammer.« Seine Hand ruhte auf der Mauer, sein geistesabwesender Blick auf der Hütte. »Ein großer Jammer.«

Und deshalb hatte Prentiss aus dem Gasthaus einen kurzen, steifen und förmlichen Brief zum Schloß hinauf geschickt. Sohn eines Dubliner Anwaltes, Clongowes Woods College, Studium in Oxford. Trotz alledem hatte er das Gefühl, sich nicht weniger als ein Delaney oder ein MacMahon einer Welt zu nähern, die nicht die seine war. Die Antwort jedoch war die Ungezwungenheit selber, Gekritzel auf einem halben Bogen schlichten Papiers. »Wunderban Kommen Sie, wann Sie mögen. Dienstagabend, wenn es Ihnen paßt.«

Der Glockenstrang produzierte irgendwo im Haus einen gedämpften Lärm, und sofort danach öffnete eine Frau mittleren Alters mit hageren Zügen, die ein schwarzes Kleid trug und ihre ergrauenden Haare hinter dem Kopf zu einem Knoten verschlungen hatte. Prentiss reichte ihr Forresters Zettel, und sie sagte, ohne ihn zu lesen: »Guten Abend, Mr. Prentiss. Vielen Dank. Ich bringe Sie zu Mr. Forrester in die Bibliothek. Er hat mir gesagt, daß Sie vielleicht vorbeischauen wollten. Aber Sie hätten nicht zu gehen brauchen, wir hätten Ihnen den Einspänner schicken können.«

Er folgte ihr durch die weite Eingangshalle, die nur durch das Bogenfenster am hinteren Ende von der untergehenden Sonne beleuchtet wurde. »Es war ein angenehmer Spaziergang«, sagte er. »Die Parks um das Schloß sind wunderbar.« Er machte sich über seine eigenen Worte lustig, als er sie hörte, die Sprache einer historischen Romanze. Aber wie hätte er sie denn sonst beschreiben sollen?

»Wirklich wunderbar«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Es gab eine Zeit…« begann sie und unterbrach sich dann. »In ein paar Wochen wird alles noch schöner sein, wenn die Bäume wirklich voll aufgegangen sind.« Sie sprach mit irischem Akzent, aber nicht West Cork, ihr Akzent wies einen scharfen Unterklang auf.

Die Gemälde verwirrten ihn, sie waren durchaus nicht, was er erwartet hatte, soßenfarbene Landschaften, Ahnen in scharlachroten Röcken, Herren und Herrinnen, die steif auf Terrassen sitzen, neben ihnen Kinder, nüchtern in Samt und mit Zweigen gemustertem Musselin, die als Beweis für ihre Kindheit Ball oder Reifen umklammerten. Die Bilder hier waren selbst in diesem trüben Licht lebhaft und von einer schwerelosen Wärme. Er blieb vor einem stehen, das silbrigen Nebel über einem halb verborgenen Fluß zeigte, zwei Gestalten, kaum zu erkennen, geschlechtslos, auf dem anderen Ufer. Dahinter pfirsich-, zitronen-, dattelpflaumenfarbene Gebäude. Fluß, Gebäude und Figuren verschmolzen gleichermaßen mit dem Nebel.

»Das ist ein Bild von Lord Ardmor«, sagte die Frau.

»Französisch«, meinte Prentiss. »Er muß die Franzosen mögen.«

»Er hat es gemalt«, korrigierte sie. »Alle Bilder hier in der Halle stammen von ihm, und auch die im hinteren Salon. Im rosa Salon, wie Lady Ardmor ihn immer nannte. Es ist sehr schade, daß die Bilder hier kein besseres Licht haben.«

Sie öffnete eine Tür und trat dann zurück. Ein Mann, der neben einem Lesepult gestanden hatte, kam auf Prentiss zu. »Mr. Prentiss?« fragte Forrester. »Sie sind mir herzlich willkommen.«

Die Bibliothek war, anders als die Eingangshalle, so, wie Prentiss es von Ardmor Castle erwartet hatte. Dunkel, mit hohen Wänden, hohe Fenster, die auf die Terrasse hinausgingen, die anderen Wände in tiefem Schatten, verdeckt von Bücherregalen, nur ein riesiger steinerner Kamin ließ seinen Marmor hell in der Dunkelheit leuchten. Flammen tanzten in seinen höhlenhaften Winkeln.

»Es ist sehr zuvorkommend von Ihnen, mich zu empfangen«, sagte Prentiss.

»Durchaus nicht zuvorkommend«, wehrte Forrester ab. »Eher Neugier als Höflichkeit. Historiker sind eine Seltenheit in Kilpeder. Sie sind vielleicht unser erster. Abgesehen, natürlich, von Hugh MacMahon. MacMahon geht es gut? Immer noch in seiner Einsiedelei?«

Ein hageres Gesicht, mit einem Hauch von Rot in den Wangen, blaßblaue Augen, reichlich Grau in den braunen Haaren, eine dünne und stark gebogene Nase. Er trug groben Tweed und eine locker verknotete Krawatte. Er lächelte beim Reden, sein Lächeln war, wie sein Brief, lässig und zurückhaltend.

Sie saßen einander am Feuer in tiefen Sesseln gegenüber. Forrester bot eine Zigarette aus einer Dose aus Ebenholz und Sandelholz an, Basarware für Touristen.

»Sie müssen wissen, MacMahon hat mir über Sie geschrieben. Sie sind ein Mann von phantastischem Wissen, meint er, trotz Ihrer Jugend. Oxford.«

»New College«, erklärte Prentiss ein wenig steif.

»Als ich im Magdalen war, war Ihr Laden nicht gerade wegen seines phantastischen Wissens berühmt. Die Zeiten ändern sich. Waren Sie lange dort?«

»Drei Jahre«, antwortete Prentiss. »Vier.« Er rutschte in seinem Sessel herum. »Hugh MacMahon ist ein Mann der Ironie, wie ich festgestellt habe.«

»Nicht bei diesem Thema. Er hat großen Respekt vor dem Wissen. Tom Ardmor seinerseits war in Cambridge, 67 war er in Cambridge. Ich aber war hier. Fast aus purem Zufall. Das ist Ihr…«, er suchte nach einem Wort, »Ihr Thema, nicht wahr, der Aufstand und Clonbrony Wood und alles andere?«

»Mein Thema ist die Bewegung der Fenier«, erwiderte Prentiss. »Aber es ist schwer, diesem Thema eine Form zu geben. Es gibt keine richtigen Aufzeichnungen darüber. Ich habe das Gefühl, wenn ich Clonbrony Wood verstehen könnte…«

»Ja«, stimmte Forrester sofort mit einer Art Eifer zu.

»Sie finden das auch?« fragte Prentiss überrascht.

Forrester bewegte die Hand und zerteilte den flaumleichten Rauch. »Was Clonbrony Wood angeht? Ich weiß sehr wenig über Clonbrony Wood. Wie sollte ich das?« Die Gesten seiner Hand sprachen für ihn. Wie konnte dieses Zimmer, sagte die Hand, die Welt hinter der Domäne, die Konspirationen von Tagelöhnern und Ladengehilfen kennen?

»Die Ewigkeit in einem Sandkorn«, sagte Forrester. »Lesen junge Männer heute noch Blake? Als ich jung war, gab es einen Blake-Kult. Rossettis Bruder hatte ihn in einem Karren gefunden, so geht die Sage. Sein Buch gefunden, meine ich. Yeats behauptet, er sei Ire gewesen, wie jeder andere. Aber wenn man wirklich einen Augenblick der Geschichte, eine Woche, einen Monat nehmen und ihn wirklich begreifen könnte, ihn zwischen den Fingern drehen, bis alles Licht auf seiner Oberfläche gespielt hätte… Das meinen Sie doch, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Prentiss, verblüfft von dieser Begegnung mit Metaphysik in Kilpeder. »Nicht wirklich. Sie trauen mir zuviel Originalität zu.«

»Vielleicht«, erwiderte Forrester. »Vielleicht tun Sie sich auch selber Unrecht.«

Das Zimmer war zur Hälfte Licht, zur Hälfte Schatten, die hohen Bücher lagen im Schatten, kühles Sonnenlicht jedoch fiel durch die Terrassenfenster in den Raum. In der Ferne, hinter den Fenstern, ein Horizont von Bergen.

»Sie waren äußerst seltsam für uns, diese Februarwochen«, sagte Forrester. »Erschreckend, aber vielleicht nicht so erschrekkend, wie sie hätten sein können. Wir zweifelten nie daran, daß der Aufstand, wenn er denn überhaupt stattfinden sollte, niedergeschlagen werden würde. Vor allem, nachdem die Armee gekommen war. Unsere Häuser, die Häuser des Landadels, lagen verstreut, wissen Sie. Die Armee konnte uns keinen wirklichen Schutz bieten, und die Polizei auch nicht. Isabel – Lady Ardmor, Toms Mutter, meinte in der einen Minute, die Dienerschaft sollte bewaffnet werden, und in der nächsten, daß auf sie alle kein Verlaß sei.«

»Und wäre Verlaß auf sie gewesen?« fragte Prentiss.

»Ach, ich glaube schon«, antwortete Forrester. »Jedenfalls sind nur zwei von ihnen mit den Rebellen losgezogen. Einer der Untergärtner und der Sohn des Obergärtners. Dinny – ich glaube, so hieß der Junge – mußte sechs Monate im Gefängnis von Richmond absitzen und kam dann nach Hause. Isabel hat ihn wieder bei seinem Vater arbeiten lassen. Die Zeiten waren eben so.«

Er war ein großer Mann, hager gebaut, seine langen Beine streckte er zum Feuer hin aus. Die wettergegerbten Stiefel waren wunderbar poliert.

»Die Zeiten waren eben so«, wiederholte Prentiss.

Er konnte Dinny fast vor sich sehen, ein geschlagener Held, nervöse Finger drehten die Mütze hin und her, ein dummes, unsicheres Lächeln.

»Hier jedenfalls«, fuhr Forrester fort. »In Ardmor. Nicht überall. Nach dem Aufstand wurden einige von den Beteiligten von ihrem Pachtland vertrieben. Die kleineren Grundbesitzer waren außer sich vor Wut. Nolan hatte ihnen ihre Waffen gestohlen, deshalb war Nolan eine Zielscheibe für ihren Zorn. Agitator aus den USA, der die loyalen Bauern aufwiegelt. Und im nächsten Atemzug verfluchten sie jeden irischen Katholiken als Verräter. Ein temperamentvoller Haufen, der Landadel von Cork. Kennen Sie sie überhaupt?«

Prentiss schüttelte den Kopf. Aber er konnte sie sich vorstellen, wie er sich vor wenigen Minuten Dinny vorgestellt hatte. Rote Wangen und cholerische Stimme.

»Eines Nachts«, erzählte Forrester, »nach dem Waffenraub, aber vor dem Aufstand, gab es eine Versammlung bei Christopher Pierson, bei Gott, nein, es war bei Johnny Boyle, in Brierly Lodge. Das heißt, 1867 gehörte Brierly Lodge noch Johnny Boyle. Als Nolan ein Vierteljahrhundert später zurückkehrte, um seinen Mord zu begehen, war Johnny längst nicht mehr hier. Hatte alles verkauft und war lange tot, zweifellos, oder lebte irgendwo in London in einer Mietwohnung. Das war aber alles nur Zufall.« Er beugte sich vor und warf seine Zigarette ins Feuer.

»Als Ned Nolan zurückkehrte.« Erst MacMahon und jetzt Forrester. Als ob der Aufstand nicht an dem Winterabend in Clonbrony Wood geendet hätte!

»Ich war in jener Nacht da«, sagte Forrester. »Ich vertrat gewissermaßen die Familie, in Toms Abwesenheit. In den alten Zeiten, als Toms Vater noch lebte, hätte die Versammlung hier im Schloß stattgefunden. Aber während Johnny in Brierly Lodge wohnte, war es eher ein Club als ein Jagdhaus. Johnny war Witwer, seine beiden Söhne dienten in der Armee. Er war ein anständiger Bursche, selber früher in der Armee gewesen. Er konnte nicht begreifen, warum die Regierung alles so weit hatte kommen lassen, warum sie die Fenierzirkel nicht zerschlagen und die Anführer ins Gefängnis gesteckt hatte. Das begriff aber auch sonst niemand von uns. Und der Waffenraub hatte uns allen einen Schrecken versetzt. Auch Brierly Lodge war ausgeplündert worden, und Johnny war mit der Pistole bedroht worden. Sie hatten seine Gewehre und Schrotflinten und sogar seinen Armeerevolver genommen.«

Über dem Kamin hing ein Portrait: Eine Frau, schlank, in einem schwarzen Kleid. Prentiss saß zu dicht beim Feuer, um es richtig sehen zu können. Es war perspektivisch gezeichnet und fast eine Abstraktion; schwarz, elfenbein, ein paar Tupfer Zinnoberrot, der helle Hintergrund vage in warmen Pfirsichtönen. Während Forrester sprach, ließ Prentiss seine Augen auf diesem Bild ruhen.

»Das gehört doch sicher zu den Dingen, die Sie wissen müssen?« fragte Forrester höflich, mit leicht trockenem Unterton. »Der Aufstand vom Standpunkt des Großgrundbesitzers aus gesehen?«

»Das stimmt«, antwortete Prentiss rasch, als ob Forrester ihn bei irgendeiner Art schlechten Benehmens ertappt hätte.

»Mehr kann ich Ihnen auch nicht erzählen, fürchte ich. Als die Unruhen kamen, die Schlacht von Kilpeder, wie das jetzt heißt – in späteren Jahren war ich sicher, daß wir alles hier im Schloß gehört hätten; die Schüsse, den Angriff auf die Polizeiwache. Ich habe es immer sehr lebhaft beschrieben. Isabel und ich standen dort draußen auf der Terrasse, blickten voller Besorgnis auf die Stadt, die Dienerschaft war außer sich vor Entsetzen. Und vielleicht war es wirklich so. Die Schüsse müssen wir auf jeden Fall gehört haben. Es war ein wütendes Gefecht. Aber es ist alles so lange her.«

In Prentiss’ Vorstellung standen sie nebeneinander auf der winterlichen Terrasse; eine Frau mittleren Alters und ihr Neffe. Vor ihnen abgestufte Rasenflächen, ein von blattlosen Weiden eingerahmter See, schimmerndes Eis. Hinter den Domänenmauern, vielleicht außer Sichtweite, obwohl das Schloß auf einer leichten Anhöhe stand, marschierten Gruppen von Männern durch die Straße auf die Polizeiwache zu. Schüsse und vielleicht Rufen, ein Schrei. Aber die beobachtenden Gestalten brauchten nur wieder ins Morgenzimmer zurück zu gehen, und vor dem Kamin erwarteten sie Tee und ein Teller mit gebuttertem Toast.

Aber etwas machte Prentiss zu schaffen, störte das Bild, das er in seiner Vorstellung sah, und plötzlich ging ihm auf, was es war.

»Es hat geschneit«, sagte er. »Das Wetter war bitterkalt, und es schneite heftig.«

»Ja«, antwortete Forrester. »Der Schnee der Fenier, wie die Landbevölkerung es später genannt hat.« Und dann lächelte er, als ihm die Bedeutung von Prentiss’ Worten aufging. Es war ein entzücktes Lächeln, und es hellte sein Gesicht auf. Er nickte Prentiss zu, und endlich schienen sie die Höflichkeit zu überwinden und einander zu berühren. »Ein überaus heftiger Schneefall. Es hatte schon am Vorabend angefangen, und während der Nacht und bis weit in den Tag hinein schneite es weiter. Dieser Schnee hat den Aufstand zum Mißerfolg werden lassen, überall im Süden, sagten die Leute, in Munster wie in Leinster. Außerdem wehte ein ziemlich scharfer Wind, und später verdichtete sich der Schneefall noch beträchtlich, und die Gebirgspässe waren abgeriegelt.«

Prentiss wartete.

»Auf der Terrasse muß Schnee gelegen haben, und wir konnten nur bis zum nächstgelegenen Rasen sehen. Ich erinnere mich sehr gut an den Schnee. Ich erinnere mich, ich glaube mich zu erinnern, daß ich an diesem Fenster dort stand, genau an diesem, und ins Schneetreiben hinausblickte. Aber in meiner anderen Erinnerung, wo Isabel und ich auf der Terrasse stehen und in Richtung der Schüsse, der Schlacht von Kilpeder blicken, gibt es keinen Schnee. In dieser Erinnerung liegen auf den Steinplatten einige trockene Platanenblätter. Isabel trägt eine kurze Jacke, braun oder schwarz, mit Pelzkragen. Ihre Hand ruht auf meinem Unterarm. Durch klare Luft sehe ich auf Wälder, nackte Zweige, den See.«

Eine große Begabung, mit einem oder zwei Strichen Szenen lebendig werden zu lassen, hatte MacMahon über Forrester gesagt.

»Nun, Mr. Prentiss«, sagte Forrester. »Nun ja, Geschichte.«

»Wie Sie gesagt haben«, erwiderte Prentiss. »Es ist sehr lange her.« Er zögerte. »Vielleicht gibt es einen Grund dafür, daß Ihre Erinnerung so aussieht, wie Sie erzählt haben.«

»Irgendeinene Grund«, wiederholte Forrester.

Die Frau, die Prentiss die Tür geöffnet hatte, brachte Tee und deckte den niedrigen Tisch zwischen ihren Sesseln, ein Service aus kunstvoll bearbeitetem Silber, trübe, stellenweise angelaufen. Die gerillten Tassen waren chinesisch, ein rotbraunes Muster.

»Soll ich eingießen?« fragte sie.

»Nicht nötig, Emily«, antwortete Forrester. »Danke. Wir kommen schon zurecht.«

»Toast«, sagte sie, »und ich habe das Mädchen ein paar Rosinenbrötchen aufbacken lassen. Reicht das wohl?« Sie lächelte Forrester an.

»Reicht uns das, Mr. Prentiss? Ich glaube schon, Emily. Ja.«

»Sie ist nicht von hier?« fragte Prentiss, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte.

»Emily?« fragte Forrester und griff nach der Teekanne. »Sie kommt aus Westmeath, aus der Nähe von Mullingar. Aber sie hat lange außerhalb Irlands gelebt. Und sie ist nicht meine Haushälterin, Mr. Prentiss. Emily ist meine Lebensgefährtin, seit vielen Jahren schon. Wir sind gute Freunde, Emily und ich. Gelegentliche Besucher in Kilpeder.«

Geschickt goß er Tee und heißes Wasser in die Tassen.

»Emily und ich reisen mit leichtem Gepäck«, fuhr Forrester fort, »aber für unseren Tee haben wir immer alles bei uns. Wenn wir hier sind, schickt Evans, Toms Verwalter, ein Mädchen aus der Stadt, das sich um den Haushalt kümmert.« Er rührte seinen Tee um. »Irgendeinen Grund«, wiederholte er. »Welchen Grund? Nun, dieses Treffen der Großgrundbesitzer in Brierly Lodge. Da können Sie jedenfalls sicher sein, notieren Sie das als Geschichte. Ich fand seltsam, wie sie über die Iren sprachen, seltsam und ein wenig beängstigend. Sie waren doch selber fast alle Iren. ›AngloIren‹ ist ja jetzt die moderne Bezeichnung, eine törichte Bezeichnung. Ich bin selber auch Ire, natürlich. Mein Vater hatte ein kleines Gut in der Nähe von Mallow. Ich bin wirklich der arme Vetter, jüngerer Sohn eines jüngeren Sohnes. Aber ich bin in England zur Schule gegangen, und danach war ich in Oxford. Das entspricht vielleicht auch Ihren eigenen Erfahrungen?«

Aber Prentiss hatte Clongowes Woods besucht, in Kildare, dicht bewachsen mit Ulmen, eine Lindenallee führte zum neogotischen Schulhaus mit seinen Türmen, und drinnen herrschte in den weißgetünchten Korridoren mit ihren Bildern von Ignatius und Franz Xaver jesuitische Disziplin. Eine Schule für die Söhne ehrgeiziger Katholiken – Verwalter, Rechtsanwälte, Richter.

»Beängstigend?« fragte er.

»Als ob sie sich vor ihren eigenen Pächtern fürchteten. Ein tiefer, unüberbrückbarer Abgrund zwischen ihrer Welt und unserer. Haben Sie je so ein Gefühl gehabt? Ich muß zugeben, daß es mir eine Zeitlang so gegangen ist. Nicht damals, später, in den 80er Jahren, während des Landkrieges und der Boykottaktionen. Im schlimmsten Jahr verließ keiner von uns unbewaffnet das Haus. Ich hatte immer einen kurzläufigen kleinen amerikanischen Revolver, nicht gefährlicher als eine Knallbüchse, nehme ich an. Eines Tages ritt ich durch die Berge nach Kerry. Am späten Nachmittag kam ich zu einer dicht am Straßenrand liegenden Hütte. Die Tür war geschlossen, und innen war kein Lebenszeichen zu sehen, kein Rauch kam aus dem Schornstein. Zwei Fenster blickten wie blinde, glotzende Augen auf die Straße. Aber vier Männer standen an der Stirnseite – ein alter Mann, vielleicht sechzig, und drei jüngere. Zwei hielten Gewehre in ihrer Armbeuge, als ob sie gerade von der Jagd zurückkämen. Und das taten sie auch zweifellos. Aber so kam es mir nicht vor. Es war… unheilverkündend. Sie standen bewegungslos da und sahen mich an, alle vier. Ich hob die Hand an meine Mütze, aber sie rührten keinen Finger. Der Alte trug einen formlosen Hut, die anderen waren barhäuptig – Matten aus dunklem, ungekämmtem Haar hingen bis zu den tiefliegenden Augen hinab. Und alle vier schienen den gleichen Mund zu haben – mit langer, dünner Oberlippe. Ein grausamer Mund. Ich war bald an ihnen vorüber, aber ich drehte mich im Sattel um. Sie sahen mir immer noch nach, Mr. Prentiss, immer noch bewegungslos. Ihre Rasse und unsere, Mr. Prentiss. Und in diesem Moment war ich sicher, daß sie mich haßten, obwohl sie mich noch nie gesehen hatten. Es waren brutale Zeiten, wissen Sie. Verwalter wurden ermordet. Männer wurden ausgezogen und mißhandelt, ihre Leichen in Moorlöcher geworfen.«

Forrester arrangierte die Toastscheiben auf Tellern und reichte Prentiss einen. Hinter den Fenstern kam Nebel auf.

»Jetzt ist es zweifellos anders. Ruhigere Zeiten. Haben Sie nie dieses Gefühl gehabt, Mr. Prentiss, zu einer anderen Rasse zu gehören?«

»Es ist meine eigene Rasse«, erwiderte Prentiss. »So, wie solche Angelegenheiten hierzulande betrachtet werden. Ich komme aus einer katholischen, alteingesessenen Familie. Ich kann unseren Namen nicht erklären, wir haben uns nie für Genealogie interessiert.«

Aber er wußte, was Forrester meinte. Er war der Sohn eines Dubliner Anwaltes, Enkel eines Dubliner Juristen, und vorher hatte es eine Farm in County Meath gegeben, in der Nähe von Bective. An einem heißen Tag im August hatte er mit seinem Vater diese Farm besucht, die Kutsche war von Dublin nordwärts durch üppiges Land mit tiefgrünem Gras gerollt. Sein Vater unter seinem Zylinder, mit Siegeln und einer Uhrkette, die in der Sonne funkelten, war in mitteilsamer Stimmung gewesen. Prentiss hatte als kleiner Junge, ernst und mit aufgerissenen Augen, lauschend neben ihm gesessen. »Die 60 Acres unserer Ahnen«, sagte sein Vater und zeigte, die Hand im grauen Handschuh, mit der Peitsche mit Ebenholzgriff auf das Land, »gut, sich daran zu erinnern, Patrick.« Neben ihrer Kutsche floß die von Bäumen umstandene, ruhige Boyne der See entgegen. Aber hier, im gebirgigen Munster, spürte Prentiss nichts, das ihn mit großknochigen Bauern verbunden hätte, mit ihren trägen Bewegungen und ihrer durch vergessenes Gälisch unverständlich gewordenen Sprache.

»In der Tat«, sagte Forrester höflich und wischte sich die Finger an steifem Leinen ab.

»Aber so empfanden es in jener Nacht in Brierly Lodge die Grundbesitzer?«

»O ja«, bestätigte Forrester. »Von uns war bestimmt ein Dutzend gekommen, und wir redeten über jedes unschuldige Thema unter der Sonne, bis Johnnys Diener die beiden dampfenden Schüsseln Whiskeypunsch brachte, auf den Tisch stellte und dann hinter sich die Tür schloß. Und selbst dann warteten wir noch, bis wir seine Stiefel quietschen hörten, als er durch die Diele ging. ›Galvin ist sicher‹, sagte Johnny. ›Ich würde mein Leben auf ihn setzen. Er war schon bei uns, als mein Vater noch lebte. Ich habe seinem Sohn vor ein paar Jahren aus einer bösen Klemme geholfen, habe ihn nach Amerika geschickt und seine Überfahrt bezahlte.‹ – ›Keiner von denen ist sicher‹, widersprach irgendwer. Ich glaube, es war Sanders, ein Mann namens Sanders, Verwalter der Dennisons. ›Fragt irgendeine von den unglücklichen Familien, die in Killarney Schutz gesucht haben‹, sagte er.«

Draußen wurde es rasch dunkel. Das Zimmer verdüsterte sich, aber das Feuer ließ den Kamin hell bleiben, angelaufenes Silber reflektierte sein Glühen. Das rätselhafte Portrait über dem Kamin lag im Schatten.

»Denn, sehen Sie«, sagte Forrester, »in Kerry waren die Fenier in Aktion getreten und hatten eine Polizeiwache angegriffen.«

»Eine Station der Küstenwache«, korrigierte Prentiss. »Bei Killarney.«

»Ach ja? Der Landadel von Kerry floh nach Killarney, mit Karren voller Silber und Familienportraits. Und das alles hatten wir auch hier, diesseits der Berge, gehört. Aber bei unserem Treffen kam nichts heraus, das ist ja immer so. Wir alle unterschrieben Briefe, die ein Anwalt namens Fortescue für uns aufgesetzt hatte, einen an den Polizeichef und einen an Dublin Castle, in denen wir über die Saumseligkeit klagten, mit der die Regierung ihre Maßnahmen ergriffen hatte, treue Untertanen der Krone wurden schutzlos bewaffneten Mörderbanden preisgegeben. Aber schließlich reagierte die Armee dann ja doch schnell genug, und die Polizei auch. Nein, es war die Stimmung dieser Männer, meiner Mitgrundbesitzer, um sie so zu nennen, die mir Angst machte.«

Die Grundbesitzer von West Cork, einige in den langschößigen Röcken jener Zeit, andere in groben Jagdjoppen. Das Zimmer war gleichermaßen Waffenzimmer und Salon, im Haus eines Witwers, über dem Kamin hing ein Hirschkopf, Reitpeitschen waren in ein Gestell neben der Tür gequetscht, es gab abgenutzte, bequeme Sessel. Vor einer Wand stand der Gewehrschrank, leer, die Glastüren standen offen, und eine war halb aus den Angeln gerissen, Ergebnis von Nolans Waffenaktion. Lange, ehe sie genug geredet und ihre Briefe unterschrieben hatten, waren beide Punschschüsseln leer, Nelken und Zitronenstückchen schwammen in der Neige. Boyle brüllte durch den Flur und ließ die Schüsseln wieder füllen. Sie waren nun in Galvins Anwesenheit nicht mehr so sehr auf ihrer Hut. Forrester führte Prentiss die Szene fast wie ein witziges Jagdbild vor, Fuchsjäger in Hemdsärmeln am Ende des Tages, oder wie ein Kapitel aus einem von Charles Levers Romanen über die Junker von Galway. Aus seinen Worten ging nicht hervor, was ihm in jener Nacht Angst gemacht haben mochte. Er hatte ein paar Romane geschrieben, hatte MacMahon erzählt, und er schien den erzählerischen Stil zu bevorzugen, Geschichten, deren Bedeutung dicht unter der Oberfläche lag.

Ein guter Schauspieler war er also auch. Mitten in seinem Bericht sprang er auf, dieser bewegliche ältere Mann, und ging durch das Zimmer zu den Fenstern.

»Sanders stand hier, wissen Sie, vor Johnnys Fenster, ein großer bulliger Bursche in karierter Weste. Er meinte, wir sollten uns bewaffnen, oder, besser gesagt, wieder bewaffnen. Er hatte einen Korb voller historischer Halbwahrheiten, die er uns nacheinander vorlegte – wir waren eine Garnison, die Irland drei Jahrhunderte lang für die Krone gehalten hatte, immer ohne richtige Unterstützung aus England. Unsere Großväter hatten 1798 gewußt, wie man mit Rebellen umgehen muß – Peitsche, Dreieck und Pechkappe. Im Reden machte er gewaltige Gesten in Richtung Irland, das irgendwo hinter den Fenstern von Johnny Boyles Salon lag, in der schwarzen Nacht. Der Whiskey hatte ihn aufgestachelt. ›Ihr Großvaters sagte er plötzlich und zeigte mit dem Finger auf mich, ›Ihr Großvater hat 98 die Miliz befehligt. Der wußte, wie man mit Rebellen fertig wird.‹ ›Er war vom König eingesetzt‹, teilte ich ihm mit der beleidigenden Oxford-Aussprache mit, die ich damals kultivierte. ›Und er handelte seinen Befugnissen entsprechende«

Ob kultiviert oder nicht, Forrester sprach immer noch so, dachte Prentiss und merkte, daß er den alten Mann mit belustigtem Respekt ansah. Fast ein Dandy in seinem heidefarbenen Tweed, seinem mit sorgfältig eingeübter Nachlässigkeit geknoteten Schlips. Das letzte Licht fiel auf dünnes, sorgfältig gekämmtes Haar und zeigte den langen, schmalen Schädel darunter. Wie er wohl in jener Nacht im Jahre 67 bei Johnny Boyle ausgesehen hatte? Das Gesicht war damals sicher schmal, wie jetzt, die Wangen rosa, die Nase geschwungen und voller Selbstvertrauen. Prentiss sah einen altgewordenen Studenten aus Oxford, dessen lässiges Auftreten wie in Kampfer konserviert worden war. Ob er je verheiratet gewesen war? Prentiss dachte an Emily, schlank, in mittleren Jahren, die neben dem Teeservice stand. »Meine Lebensgefährtin.«

»Die Häuser des Landadels waren nie in Gefahr«, sagte er. »Die Fenier wollten die Polizeiwachen im ganzen Land einnehmen, die Kontrolle über Straßen und Bahnlinien an sich bringen und das Land zum Aufstand bewegen.«

»Das Land zum Aufstand bewegen«, wiederholte Forrester ironisch. »Genauso gut könnte man den See dazu bringen.«

So muß es von diesem Zimmer, dieser Terrasse aus ausgesehen haben, aus dieser Position, die so erhaben war, daß Bauern mit Gewehren und Krautjunker in farbenfroher Jagdkleidung gleichermaßen uninteressant schienen.

Forrester öffnete das Fenster, vor dem er stand, und Prentiss erhob sich, um sich neben ihn zu stellen. Aber zuerst trat er zwei Schritte zurück und betrachtete das Portrait über dem Kamin.

Es war außergewöhnlich. Eine junge Frau, vielleicht Ende zwanzig, stand neben einem kleinen Kamin aus zartem, keuschem Marmor. Über dem Kamin hing ein kleiner Spiegel mit Goldrahmen. Zu ihrer Rechten, auf einem niedrigen Tisch, eine weiße, mit Rosen gefüllte Schale. Die Frau trug ein schwarzes Samtkleid mit tiefem, eckigem Ausschnitt und enggeschnürter Taille. Zu drei Vierteln sah sie den Betrachter an, und der Spiegel gab einen Teil ihres Gesichtes wieder, sonst jedoch nichts. Der Maler schien sie in einer schwebenden Bewegung erfaßt zu haben, als ob sie einen Moment innehielte, ehe sie den Raum verließ, sich ihm zuwandte oder vielleicht den Betrachter anschaute. Es war eine genau geplante, fast bombastische Übung im Arrangieren: schwarze Töne als Kontrast zu Haut und Marmor, Schatten, das tiefe, brennende Rot der Rosen. Aber die Frau selber kämpfte gegen diese kühle Formalität des Entwurfes. Sie war eine Frau von bemerkenswerter Anziehungskraft, obwohl vielleicht zu schlank für die Mode ihrer Zeit, kleine Brüste, kompakte Äpfel. Ihr Zauber lag in ihrem Gesicht – gleichmäßige Lippen, gerade Nase, dunkle, ruhige Augen. Augen, die auf irgendeine Weise den Eindruck von Intelligenz und Geist vermittelten. Ich komme schon wieder zu einer Verabredung zu spät, schien ihr Gesicht zu sagen, ich kann nicht warten, bis ich in Weiß, Schwarz und grauen Schatten arrangiert worden bin. Der Künstler hatte diese spielerische Bosheit erkannt und sie aus Rache in seinem Bild mit verarbeitet. Bild und Subjekt wurden in einer zerbrechlichen, leicht erotischen Spannung gehalten.

»Es ist von verblüffender Ähnlichkeit«, sagte Forrester. »Sylvia Ardmor, Toms Frau.«

»Sie – es – ist wunderschön«, sagte Prentiss.

»Beides«, erwiderte Forrester. »Sylvia war schön, und das Portrait ist auch schön. Es ist von Galantiere, wissen Sie. Es wird oft vergessen, daß er Engländer war, wegen seines Namens und weil er sich in Paris niederließ. Aber dieses Bild wurde in London gemalt, in Toms und Sylvias Haus am Cheyne Walk. Sie hat nur fünfmal kurz für ihn gesessen; darauf hatten sie sich geeinigt. Es war gewissermaßen eine Herausforderung. Sie und Tom und Galantière waren damals eng befreundet, später kam es dann zu einem Zerwürfnis. Ich war einmal dabei, als sie für ihn saß. Im Salon, Tom und Galantière und ich tranken Rheinwein und Soda, und Sylvia gab vor, wegen seiner Umständlichkeit böse auf ihn zu sein. Es war ein nebliger Morgen, gelber Nebel vom Fluß preßte gegen die Fensterscheiben. Sylvia nannte es ›einen Whistlermorgens worüber Galantière gar nicht glücklich war.«

Forrester lachte bei dieser Erinnerung, als ob er sich an eine Szene und eine Zeit erinnerte, in denen er sich mehr zu Hause gefühlt hatte. Mit einiger Mühe wandte Prentiss sich vom Bild ab. Er war verlegen, und er wußte warum: Die Erotik war schwach, diskret, aber sie gehörte zum Wesen des Bildes, und er hatte auf sie angesprochen.

»Ein fesselndes Portrait«, sagte Forrester, als ob er ihn damit freisprechen wollte. »Das finden alle. Sylvia hat immer behauptet, sie könnte es nicht leiden, aber das war nur ein Spiel, das sie spielte, mit Galantiere, oder vielleicht mit Tom. ›Ich sehe billig aus‹, sagte sie einmal. ›Wie ein Malermodell im Kleid der Maitresse von irgendwem.‹ Tom hat auch gemalt. Die Bilder in der Halle sind von ihm.«

»Ja«, sagte Prentiss. Ich weiß. Ihre – es ist mir gesagt worden.«

»Tom hatte Talent«, fuhr Forrester fort. »Ich habe ihn um seine Talente beneidet. Er hat gemalt, Stiche gemacht und Gedichte geschrieben. Einmal haben er und ich zusammen an einem Buch gearbeitet, aber er verlor das Interesse. Ich habe es allein vollendet, aber ein Teil ist von ihm, und der ist ganz besonders gelobt worden. Er war ein begabter Mann.«

Er hörte sich an, als ob Ardmor tot wäre und nicht irgendwo in Italien lebte, in den Hügeln südlich von Florenz.

»Er hat die Allee entworfen«, fuhr Forrester fort. »Die Anfahrt zum Schloß durch die Wälder. Nicht die Gärten natürlich, oder die Terrassen. Sie sind über hundert Jahre alt, und Tom achtete sie sehr, aber er fand sie zu förmlich, kalt. Tom hat gerne das Spontane arrangiert, wenn das kein Widerspruch ist.«

»Lady Ardmor«, fragte Prentiss, »war sie Engländerin oder Irin?«

»Irin natürlich«, antwortete Forrester. »Irin. Sie war eine geborene Challoner aus Westmeath. Wie Emily. Als ich Emily kenrienlernte, stand sie bei den Challoners in Diensten. Sie ist als Sylvias Zofe nach Kilpeder gekommen. Kann das denn möglich sein?«

Prentiss fiel keine Antwort ein. Forrester, schloß er, empfand ein stilles Vergnügen, wenn er ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte.

»Vom Waldrand aus hat man einen schönen Blick«, sagte er. »Auf den See und das Sommerhaus am anderen Ufer.«

»Eine arrangierte Spontaneität«, erklärte Forrester. »Tom hat es entworfen. Aber ganz früher, als ich als Junge hergekommen bin, gab es im Park eine Herde Rotwild. So zahm, daß man ganz nah an sie herangehen konnte. Damals war Kilpeder, das große Objekt Ihrer Forschung, ein Gewimmel von Läden hinter dem Tor. Sonntags überquerten wir den Marktplatz, um den Gottesdienst in der Kirche zu besuchen. Die Jagd versammelte sich immer vor den Arms, Gentlemen in rosa Röcken, kläffende Hunde. Der alte Gilmartin brachte den Reitern Sherry heraus. Toms Vater führte die Jagd natürlich an. Tom tat das auch, einige Jahre lang, nachdem er das Erbe seines Vaters angetreten hatte. Er war ein guter Reiter, rücksichtslos. Aber ein sicherer Schütze. Am Ende ist er dann natürlich nicht mehr mitgeritten. Am Ende gab es in der Baronie nicht mehr als fünf Gentlemen, die noch mit ihm sprachen.«

»Am Ende?« fragte Prentiss.

»Sie müssen den Blick von der Terrasse sehen«, sagte Forrester. »Ehe es zu dunkel wird.«

Dämmerung. Die Rasen waren jetzt dunkelgrün, die Steine von Treppen und Balustraden nahmen schwarze Farbtöne an. Dahinter warfen Ulmen lange Schatten über den See. Bei der Allee stand bewegungslos ein Arbeiter und stützte sich mit beiden Händen auf einen Rechen. Die Wälder waren dunkel. Der Fluß, der in den See mündete, war hinter den Wäldern nur noch zu ahnen. Die Domänenmauer aus behauenem Stein hob sich dagegen ab; hinter den Mauern, in Kilpeder, waren die ersten Lichter angezündet worden. Die Türme der beiden Kirchen durchbrachen den dunkler werdenden Himmel, die protestantische stand links und ziemlich nah, niedrig und prüde, rechts dagegen, weiter entfernt, die hohen selbstbewußten Türme von Saint Jarlath, rund und italienisierend, katholisch.

»Das Objekt meiner Forschung«, sagte Prentiss, als Tribut an Forresters Ironie, und nickte durch die Dunkelheit zur beleuchteten Stadt hinüber.

»Sie könnten ein oder zwei meiner eigenen kleinen Bücher als historisch bezeichnen«, sagte Forrester. »Ich tue das, aber Historiker würden mir da nicht zustimmen. Farbe lenkt mich ab, Gefühl, erhöhtes Gefühl. Ich habe eine fatale Schwäche für Muster.«

»Wie Galantiere«, meinte Prentiss.

Die Aussicht war einladend, kühl. Wie es wohl sein mochte, dachte er, das alles zu besitzen – Schloß, Terrassen, See, eine Herde Rotwild, eine Stadt? Einen Moment lang schien Kilpeder aus dem Maßstab gerissen zu sein, ein plumpes Anhängsel der Mauern, die die Domäne umgaben.

»Wie heißt es noch in der Ballade?« fragte Forrester. »Full sixty men from Kilpeder town, to the hills above did go.« Er zitierte den Text ohne Ironie, denn die Ironie lag in der Szene selber. Die Hügel waren unsichtbar, in Dunkelheit eingehüllt.

Vor vielen Jahren, ein Haus in Chelsea, Nebel über der Themse, träger Verkehr auf dem Fluß, zwei Männer tranken Rheinwein, entspannt, scherzend. Eine junge Frau, zum Ball gekleidet, ließ ihre Hand auf weißem Marmor ruhen und sah sie an. Der Künstler sprach zu ihr, ungeduldig, und sie antwortete. Welche Worte hatte sie verwendet, welchen Klang hatte ihre Stimme? Ardmor hatte Kilpeder 1892 verlassen, hatte MacMahon gesagt, im Todesjahr seiner Frau, im Jahr, in dem seine Frau in London gestorben war. Am Ende haben keine fünf Gentlemen in der Baronie mit ihm geredet. Am Ende wovon?

»Ich komme jeden Herbst her«, sagte Forrester, »und ein paar Wochen im Juni. Die Jagd ist immer noch gut – Rebhühner, Kiebitze, Fasan. Wir schießen unter anderem auch in Clonbrony Wood. Clonbrony Wood gehört immer noch Tom. Seltsam, nicht? And death was waiting in the snows of dark Clonbrony Wood. Jetzt wartet der Tod auf die armen Vögel; zusammen mit älteren Gentlemen in Tweed und Gamaschen.«

Die Terrasse war dunkel, und Prentiss kam es vor, als müsse die Bibliothek hinter ihnen noch dunkler sein, aber als er sich umschaute, sah er, daß Lampen angezündet worden waren und Lichtfelder auf dunkles Holz fielen, auf Teppiche.

»Es war sehr nett von Ihnen, mich zu empfangen, Mr. Forrester.«

Forrester zögerte, ehe er antwortete. Sein Gesicht lag im Schatten, milde Augen und energische, militärische Nase. »Das Gut ist in Pension gegangen, gewissermaßen. Irgendwann wird es verkauft werden. Die Guinness-Familie sammelt doch mit Begeisterung Schlösser und Titel und läßt Parks und Grotten und normannische Bergfriede restaurieren. Sie müssen sich irgendwann einmal unseren Bergfried anschauen. Er war die ursprüngliche Burg, wissen Sie, zu Zeiten der O’Donovans. Diese O’Donovans warten im Schatten schon auf die Forresters. Nichts ist ewig in diesem Land. Es war durchaus nicht nett von mir, Mr. Prentiss. Ein gutes Gespräch gibt es in dieser Gegend nur selten. Ich habe mir fest vorgenommen, daß wir einander besser kennenlernen.«

»Das würde mir gefallen«, erwiderte Prentiss. Forresters Melancholie erschien ihm nicht ganz echt, wie seine kurze Pose als tweedgekleideter Junker auf Jagd in Clonbrony Wood.

»Würden Sie glauben«, fragte Forrester, »daß Ardmor einst für seine Bälle berühmt war? Sie waren das Ereignis der Saison, damals zu Lebzeiten des alten Earls, Toms Vater. Ich erinnere mich an einen, den ich als Junge erlebt habe. Strahlend beleuchtet von Kerzen und Gaslicht, aus Dublin bestellte Musiker. Ich erinnere mich an Gerüche, Parfüm, Kerzenwachs, Eichen aus Clonbrony, die in den Kaminen aufloderten. Der Ardmor Ball fand immer im Frühling statt, wenn das Land sich langsam erwärmte und die Erde weich wurde. Dann lag der Winter hinter uns.«

»Jetzt liegt der Winter auch hinter uns«, sagte Prentiss.

»Ja«, erwiderte Forrester.

Prentiss lehnte das Angebot ab, von einem gewissen Tim in die Arms zurückgefahren zu werden. Emily, »meine Lebensgefährtin«, war nicht zu sehen, und Forrester brachte ihn zur Tür. Die Halle war jetzt jedoch erleuchtet, und im Vorbeigehen ertappte Prentiss sich dabei, wie ein Tourist, der durch ein Museum auf dem Kontinent eilt, hastige Blicke auf die Bilder des abwesenden, begabten Tom Ardmor zu werfen – vage Umrisse, helle Pastellfarben, Mittagssonne.

Pächter der Zeit

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