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[Hugh MacMahon]

Was County Cork betrifft, so setzte der Aufstand der Fenier mit der Aktion ein, die bis heute als »Nolans Beute« bekannt ist und die in der Nacht des 26. Februar stattfand. Und selbst, wenn sie kein anderes Ziel gehabt hätte, als Verzweiflung und Verwirrung zu verbreiten, so würde sie doch als militärischer Triumph gelten, dessen ein Hannibal oder ein Murat sich nicht zu schämen brauchten. Da Ned jedoch Ned war, waren seine Ziele weniger kompliziert: Wir brauchten Waffen, und wir brauchten sie sofort. Am 20. war klar, daß uns Waffen aus Manchester oder Dublin nicht mehr rechtzeitig erreichen würden.

Ned schlug sein Hauptquartier in den Vorhügeln der Boggefaghs auf, in der Hütte, in der Pat Laffan seine Brennerei betrieb. Bob und Vincent und ich waren bei ihm, und es war unsere Aufgabe, die einzelnen Gruppen zu den von uns ausgewählten Häusern zu schicken, aber es war Ned, der die Operation leitete, und in dieser Hinsicht wurde niemand im Zweifel gelassen.

Es war eine bescheidene Wohnstatt: Eine Hütte mit zwei Zimmern, strohgedeckt, natürlich, auf einer leichten Anhöhe, deren Fenster zu beiden Seiten einer Halbtür über das Ödland hinwegschauten. Laffan brannte nicht nur schwarz, er war auch Farmer, und am Stirnende des Hauses befand sich eine Scheune, weniger weit entfernt, als ein anspruchsvoller Geschmack wünschenswert gefunden hätte. Die Luft, sogar in der Hütte selber, war gesättigt vom dicken, schweren Geruch von Tieren, Pisse, Exkrementen, feuchtem Stroh. Gerüche, die ich seit jener Nacht mit Poitin assoziiere, was in diesem Fall ganz unfair ist, denn er produzierte wirklich gute Ware, rein und sanft auf der Zunge, allerdings fast farblos, mit ganz feinem Perlenschimmer, als ob er das Mondlicht selber in Flaschen gefüllt hätte. Nein, die Aversion, die in jener Nacht in mir aufbrach, hatte etwas Ursprüngliches, Erschreckendes, als ob wir, nach einer Generation in der Stadt, in die düsteren Abgründe zurückgekehrt wären, in denen unsere Großeltern und die Generationen vor ihnen gehaust hatten.

Laffan war ein Mann von trägen Bewegungen, mit schweren Schultern und einem Buckel, und so schweigsam, daß er mißmutig wirkte. Allerdings hatte er auch nur wenig, mit dem er sich beschäftigen oder worüber er reden konnte. Er wußte, was wir vorhatten, und er hatte uns bereitwillig seine Hütte überlassen, und damit war für ihn die Sache erledigt. Er stand da und beobachtete uns, eine Minute nach der anderen, die Arme verschränkt und die bulligen Schultern an die Mauer aus Steinen und Lehm gelehnt. Dann ging er nach draußen, in eine Nacht, die dunkler wurde, als wir unsere Arbeit aufnahmen, und die, als die Operation in vollem Gange war, pechschwarz und nur von einem schwachen, hinter Wolken verborgenen Mond erhellt war. Ein-oder zweimal ging ich zu ihm hinaus, und wir standen in einem Schweigen nebeneinander, das vertrauensvoll, aber durchaus nicht gesellig war.

An der kurvenreichen Boreen, die zur Straße hinunterführte, hatten wir drei Männer mit Laternen aufgestellt, einerseits als Wachtposten, vor allem aber, um den anderen, die mit ihren beladenen Karren zu uns heraufkamen, den Weg zu zeigen. Wir hatten sechs Abteilungen mit je fünf oder sechs Mann losgeschickt. Von unserem Standpunkt vor der Hütte aus gesehen wirkten die Laternen wie herabgefallene Sterne, einsam und ohne Verbindung zueinander. Aber die Wachtposten befanden sich untereinander und mit uns in Rufweite. Wenn einer einen Ruf ausstieß, dann antwortete ihm ein anderer, junge Burschen, wie wir gefangen zwischen Aufregung und Angst.

Peg Laffan, die Ehefrau, war so düster wie er – ihre gemeinsamen Abende müssen muntere Schweigepartien gewesen sein –, aber sie hatte immerhin die Aufgabe des Teekochens, mit der sie sich beschäftigen konnte. Der Kessel über dem Feuer wurde ununterbrochen am Kochen gehalten, der Tee selber war so stark, daß eine Maus darüber hätte spazieren können, im Licht der Laternen wies er Mahagonifarbe auf. Es gab nicht genug Tassen für alle, aber sie behielt die vorhandenen im Auge und goß, wenn eine leer war, die Reste ins Feuer und wischte sie kurz mit ihrer Schürze aus. Mehr als einmal wünschte ich mir, ich wäre in meiner eigenen Küche in Sicherheit, während Mary für uns mit dem blau-weißen Porzellan deckte und der Kessel aus christlichem Erbe auf dem Kaminvorsprung sang.

Es gab auch kleine Laffans, hinter dem Vorhang aus grobem Wollstoff, der die Zimmer trennte, und bei dem vielen Hin und Her kamen die Armen in dieser Nacht bestimmt nicht zum Schlafen. Es war immer wieder eine Weile ruhig, dann fing eines an zu weinen, und dann legten auch die anderen los. Sofort ging ihre Mutter dann zu ihnen und mahnte sie auf irgendeine Weise, die wenig erreichte, bis schließlich Laffan selber eingriff und eine Art Gebrüll losdonnern ließ, in dem Wörter keine Rolle spielten, und sofort war für eine Weile Ruhe, während die armen Geschöpfe verängstigt und unruhig dalagen.

»Gnädiger Gott«, murmelte Vincent mir einmal zu, als wir zusammen an der Tür standen. »Vielleicht ist es gar keine gute Idee, diese Leute zu befreien!«

»Es sind die besten Bauern der Welt, wie Daniel O’Connell immer zu sagen pflegte.«

»Abgesehen von Sizilien«, meinte Vincent.

Aber wir schämten uns beide unserer Krämerskrupel, das verrieten uns die verlegenen Blicke, die wir dann tauschten. Wir waren in der endlosen schwarzen Nacht ebenso einsam wie die Wachtposten auf der Straße. Und unsere Angst war absolut begründet, denn durch die Arbeit dieser einen Nacht führte Ned uns weit darüber hinaus, einen Eid zu schwören, wie umstürzlerisch auch immer, einem anderen den Eid abzunehmen oder sogar nachts bewaffnet zu exerzieren. Für Vincent und mich zumindest, und sicher auch für Bob, wirkten die weit von allem anderen Farmland gelegene stinkende Hütte, die Frau und der Mann, die selten das Bedürfnis nach Worten zu verspüren schienen, die engstehenden, groben Mauern des schäbigen Zimmers, der Lehmboden wie Schauplatz und Embleme einer unbekannten Welt, über deren Grenzen wir uns verirrt hatten.

Bob ging es bestimmt auch so. Aber während der ersten Hälfte der Nacht war Bob zu sehr auf seine Aufgabe konzentriert, um sich über solche Fragen Gedanken zu machen. Er und Ned saßen nebeneinander auf einer an den groben Holztisch herangezogenen Sitzbank und hatten die Viertel-Zoll-Generalstabskarte vor sich ausgebreitet, eine Seite wurde von einem Holzklotz festgehalten, die andere von einem irdenen Krug. Bob hatte die Güter und Farmen angekreuzt, von denen wir wußten, daß dort Waffen zu holen waren – Schrotflinten, Gewehre, Pistolen oder was auch immer –, und er hatte für jede Gruppe eine Route ausgearbeitet und sogar berechnet, wieviel Zeit ihnen für jeden ihrer »Besuche« zur Verfügung stand, ein Wort, das er weniger aus Taktgefühl verwendete, als weil ihm kein passenderes einfiel.

Es war eine Aufgabe, die Ned, der sich in der Baronie nicht auskannte, ihm übertragen hatte, und er führte sie auf eine Weise durch, die mir beeindruckend fachmännisch vorkam. Er hätte genausogut in Tullys Laden stehen können, mit aufgekrempelten Ärmeln und einer um die Taille gebundenen Schürze, und Fässer voller Nägel und Säcke mit Zucker auflisten können. Ein-oder zweimal beugte ich mich vor, blickte zwischen ihnen hindurch und sah zu, wie sein Bleistift über die Karte wanderte, zuerst dieses, dann jenes x antippte und die blauen Linien der Bäche und die roten der Straßen übersprang. Unsere Welt befand sich auf diesem riesigen viereckigen Stück Papier, kodiert zu Karos und Kreisen und länglichen Kreuzschraffierungen. Die ganze Karte war mit einem blassen, gelblichen Braun eingefärbt, dem kalkigen Braun regennassen Lehms.

Aber die Burschen, die wir ausgesandt hatten, hatten fast alle noch nie eine Landkarte gesehen, und Bob hätte genausogut okkulte und sinistere Hieroglyphen befragen können. Er übersetzte für sie die Zeichen auf dem Papier in Straßen, Bäche, einen buckligen Hügel, einen zerfallenden Bergfried auf einer Weide, eine hochgewölbte Brücke. Er hatte sich da keine leichte Aufgabe gestellt, denn wenn es möglich war, dann schickten wir sie in Dörfer, in denen es weniger wahrscheinlich war, daß man sie erkennen würde, und damit über Straßen, die ihnen weniger vertraut waren als die ihrer eigenen Gemeinde. Ein-oder zweimal konnte er gerade noch in letzter Minute einen Fehler vermeiden.

Ein Mann namens Brendan Casey sollte seine Männer zu einem Gut namens Thatchford führen, Eigentum eines gewissen Major Singleton, eines indischen Offiziers im Ruhestand, dessen Waffenraum sehr gut ausgerüstet war, wie einer seiner Stallburschen uns verraten hatte.

»Nimm dich bei dem in acht«, riet Bob. »Ich habe im Laden mit ihm zu tun gehabt; er ist ein heißblütiger Bastard. In Gedanken ist er immer noch in Indien und tritt den armen Hindus in den Hintern.«

»Ach, ich werd mich vor Major Singleton schon gut genug in acht nehmen«, meinte Casey grinsend. Er war ein hagerer Mann um die dreißig, der die meisten seiner Vorderzähne eingebüßt hatte.

»Ja, mach das unbedingt«, sägte Bob.

»Weißt du, ich hab den Singleton schon seit zwei Jahren auf dem Kieker, seit er die Polizei geholt hat, weil ich meine Viecher auf seiner Weide neben meinem Haus stehen hatte. Da saß das Luder in seinem Gig, mit seinem hohen gestärkten Kragen, und Constable Belton von der Wache neben ihm, um seinem Gerede Macht zu geben. Der Mann vor ihm hat mir nie Ärger gemacht, ein anständiger alter Knabe, der in Cavan lebte.«

Ned hob den Kopf und sah Casey an, aber Bob rollte eine Weile seinen Bleistift auf der Karte hin und her, dann sagte er: »Ein Soldat aus Indien, Brendan. Er könnte sogar gegen euch fünf, kräftige Burschen mit geschwärzten Gesichtern, Widerstand leisten.«

»Das wäre aber sein letzter, bei Gott. Darauf kannst du dich verlassen, Bob.«

»Ja«, sagte Bob. »Aber das wird nicht nötig sein. Eine von den anderen Gruppen kann sich um Major Singleton kümmern.«

»Casey ist dein Name?« fragte Ned. »Hast du zugehört, Casey, als ich vor weniger als zwei Stunden zu euch allen gesprochen habe? Kein Haar soll diesen Leuten gekrümmt werden, keinem einzigen von ihnen. Wenn es Ärger gibt, dann zieht euch zurück. Benutzt eure Waffen nur, um euren Rückzug zu erkämpfen, wenn das sein muß. Weißt du noch, daß ich das gesagt habe?«

Es war klar, daß Casey das nicht mehr wußte, er war ganz außer sich vor törichter Erregung.

»Du hast eine Abteilung«, fuhr Ned fort, »weil Bob Delaney dich mir als vernünftigen Mann empfohlen hat, den die anderen respektieren. Beweise mir das.«

»Du kannst dich auf Brendan verlassen«, sagte Bob und lächelte Casey rasch und beruhigend zu. »Ich würde mein Leben dafür verwetten.« Was ein wenig zu weit ging, aber Casey waren diese Worte willkommen, er nickte und schluckte, wobei sein Adamsapfel große Aktivität an den Tag legte.

»Dein Leben steht aber nicht auf dem Spiel«, erklärte Ned. »Unsere Arbeit heute nacht ist so ähnlich, als ob wir mit einem Stock in einem Hornissennest herumstocherten. Und ich will nicht hören müssen, die Fenier hätten ihre Aktionen damit begonnen, Iren zum Mord an anderen Iren anzustacheln, andere Iren zu ermorden oder sie in ihren eigenen Herrenhäusern blutig und bewußtlos zu prügeln. Wir requirieren heute nacht Waffen für den bevorstehenden Krieg gegen den gemeinsamen Feind aller Iren, die Truppen der britischen Krone.«

»Kannst du dir das alles merken, Brendan?« fragte Bob trokken, aber mit demselben gelassenen Lächeln. »Wir requirieren Waffen.«

»Bei Gott«, erwiderte Brendan in einem letzten Versuch, seine Würde zu bewahren. »Die Jungs, die letzte Woche in Kerry losgeschlagen haben, hatten weniger feine Manieren. Als denen auf der Straße Polizisten begegnet sind, haben sie einfach losgeschossen.«

»Vergiß die wilden Raufbolde von Kerry«, sagte Ned. »Kilpeder steht unter meinem Befehl, und du kannst dich darauf verlassen, daß dein Major Singleton gegen mich wie ein sabbernder Säugling wirken wird, wenn meine Befehle nicht befolgt werden.«

Bob hatte seinen Bleistift auf seiner Karte von Punkt zu Punkt wandern lassen. »Schau her, Brendan«, sagte er. »Eine Meile hinter Thatchcroft, gleich neben der Brücke. Mrs. Heatherington, eine brave Methodistenwitwe, ein Sohn studiert in Dublin im Trinity Griechisch und Theologie. Und er jagt liebend gern Schnepfen und Kiebitze, wie früher sein Vater. Ich habe sie oft losballern sehen. Mach einen Besuch bei Mrs. Heatherington und vergiß nicht, auch Munition mitzunehmen. Ihre Traktatsammlung kannst du ihr lassen; heute nacht werden wir keine Erlösung brauchen.«

Casey erwiderte sein Grinsen, wobei er seine Sammlung fehlender Zähne zeigte.

Sie waren ein effektives, gut zusammenpassendes Paar, Ned Nolan und Bob Delaney, Ned ganz Metall und scharfe Kanten, Bob lässig und umgänglich bei aller Schroffheit. Ich frage mich, ob Ned unser Wesen je verstanden hat, während Bob es im Blut hatte, er konnte Befehle erteilen, und sie wurden befolgt, weil er sich nie als etwas Besseres aufspielte als die anderen. Sie hätten Plutarchs Entzücken erregt, wenn er töricht genug gewesen wäre, sich nach West Cork zu begeben. Oder vielleicht auch Machiavellis.

Es gab in dieser Nacht in Laffans Hütte oder auf den Straßen niemanden, der nicht vom Aufstand in Kerry gehört hatte, obwohl es nur wilde Gerüchte darüber gab, was wirklich dort geschehen war. Aber es gab unserem eigenen Unternehmen einen feinen, scharfen Beigeschmack, das Gefühl, daß wir endlich begonnen hatten. Als Ned zu Anfang unserer nächtlichen Arbeit zu den Männern sprach, hatte er es erwähnt, und obwohl er sich sehr vorsichtig ausgedrückt hatte, waren die Männer in wilden Jubel ausgebrochen. In Killarney und Cahirciveen wurde gekämpft, nahm man an, und die Halbinsel Iveragh war abgeriegelt. Die Wahrheit jedoch war anders, und sie wurde am Freitag von zwei Männern in die Baronie gebracht, die dabei gewesen waren und die über die Berge gekommen waren, um bei ihrem Vetter in Graney Zuflucht zu suchen, einem Mann namens Phil Larkin. Larkin ließ Bob benachrichtigen, und Bob und Ned suchten ihn auf.

Die beiden Männer, Brüder mit Namen Egan, Cornelius und Denny, waren nicht die besten Kriegsberichterstatter. Sie waren noch jung, Cornelius kaum älter als 18, sein Bruder noch etwas jünger, und sie waren prahlerisch und verängstigt zugleich. Der Aufstand hatte in Cahirciveen stattgefunden, Hunderte hatten sich daran beteiligt, unter dem Kommando eines Colonels namens O’Connor, eines zurückgekehrten Yanks wie Ned, der noch weitere Amerikaner mitgebracht hatte. O’Connor war offenbar Hector und Odysseus in einer Person, furchtlos und listenreich, mit einer weißen Hahnenfeder an seinem weichen schwarzen Hut. Der junge Dennis war ausgesprochen fasziniert von dieser Feder und von O’Connors Geschicklichkeit im Umgang mit dem Revolver. Aber sie begriffen kaum, was passiert war, oder warum. Sie hatten die Polizeistation in Cahirciveen eingenommen und waren dann über die Straße nach Glenbeigh zur Küstenwache in Keils marschiert, die ebenfalls, zusammen mit einem Vorrat an Waffen, an sie gefallen war. Dann waren sie nach Killarney marschiert und unterwegs einer Abteilung Polizei begegnet, mit der sie sich eine Schlacht geliefert hatten. Ein Triumph hatte den anderen gegeben, und O’Connor hatte sie angeführt, wobei seine Feder wie eine weiße Flamme loderte.

Es war wirklich bewegend, vor allem durch die unzusammenhängende und stürmische Darstellung der Egans. Bob kannte die Straße nach Glenbeigh, und er konnte, während die Brüder uns alles erzählten, die Kolonnen der Männer aus Cahirciveen sehen, wie sie über die staubige Landstraße marschierten, zu ihrer Linken die weite, liebliche Bucht, dahinter, weit weg und von blauem Dunst verschleiert, die Berge von Dingle. Für uns war das keine kleine Angelegenheit – zum erstenmal, seit die armen verdammten Bauern von 1798 in Antrim und Mayo ihre Flaggen gehißt hatten, unternahmen Iren einen Angriff. Aber der Bericht der Egans brach an der Stelle auseinander, als O’Connor nach dem Sieg über die Polizei einige seiner Männer zurück nach Cahirciveen geschickt und die übrigen ins Gebirge geführt hatte.

Die Egans waren mit ihm auf dem Berg gewesen, wo sie die Nacht und den gesamten folgenden Tag verbracht hatten. Dann war der Berg gegen Abend, einem kalten, verregneten Abend, als sie vor Hunger und Durst schon geschwächt waren, von britischen Soldaten umstellt worden, die anfingen, zu ihnen hinaufzuklettern. Es waren Schotten in Kilts und Federmützen, ein Volk, das keiner der Männer aus Kerry je zuvor gesehen hatte, laut Cornelius Egans Beschreibung wütende Kämpfer – ein schrecklicher Anblick –, Nebelschwaden zogen herauf, die Kilts schwangen über kräftigen, knochigen Knien, die Sonne war noch stark genug, um den Stahl der aufgepflanzten Bajonette ein-oder zweimal auffunkeln zu lassen. Und ebenso unheimlich war es, daß die Schotten sich auf Gälisch verständigten, dem groben und barbarischen Gälisch des schottischen Hochlands, das die Männer aus Kerry nur zur Hälfte verstehen konnten.

Mit allerlei Tricks und Kniffen quetschten Ned und Bob aus den Egans eine Erklärung darüber heraus, wie das alles passiert war, aber sie taugte nicht viel. Sie waren anständige, unwissende Bauernburschen, eher Knaben als Männer, und ihre Geschichte zerfiel in zwei Hälften, die einfach nicht zueinander passen wollten. ln einer Minute stürmten sie die Station der Küstenwache, die ich mir sehr gut vorstellen konnte, eine protzige Konstruktion mit falschen, sinnlosen Türmen, spitz wie Minarette. Und in der nächsten hockten sie zwischen Felsen und Ginster im Nebel. Es hatte keinen Sinn. »Der Teufel soll dich holen«, sagte Ned und packte Cornelius am Revers. »O’Connor muß euch doch gesagt haben, warum er gerade jetzt seine Operation gestartet hat.« Aber Cornelius starrte ihn mit den milden, entsetzten Augen eines Berghasen an. Am Ende wurden die Egans in der Obhut ihres Vetters Larkin zurückgelassen, mit dem strengen Befehl, mit niemandem zu reden. Larkin stimmt widerstrebend zu. Er war durchaus bereit, Verwandten Zuflucht zu gewähren, aber er hatte keinen Eid abgelegt, und daß er Bob Bescheid gesagt hatte, war das Äußerste, zu dem er bereit war. »Eid hin, Eid her«, sagte Ned, »die Armee der Republik Irland hat Ihnen einen Befehl erteilt!« Larkin war ein wachsamer, sardonischer Mann, und er warf Bob einen bitteren, belustigten Blick zu und sagte dann zu Ned: »Die Republik Irland. Na, la-di-da!«

Neds Vorsichtsmaßnahme erwies sich als nutzlos, denn andere Männer aus Cahirciveen kamen über die Berge und erzählten ebenso unheilverkündende Geschichten, die sich bei jedem Bericht großartiger anhörten, bis es schließlich ein arges Rätsel war, wie dieses gewaltige Heer zu diesen versprengten Flüchtlingen zusammenschrumpfen konnte. Inzwischen hatte Ned beschlossen, Bob und mich nach Killarney zu schicken, um selber Erkundungen einzuholen. »Ihr solltet versuchen, O’Connor zu finden«, sagte er, »aber ich bezweifle, daß euch das gelingt. Und wenn nicht…«

»Ich kenne mich da aus«, sagte Bob und unterbrach ihn mit seinem lässigen Lächeln, denn Ned hatte vergessen, daß Bob bis zu seinem eigenen Eintreffen unser Ortskommandeur gewesen war und sich mit den Männern in Kerry beraten hatte.

»Ein verdammter Scheißcolonel«, fluchte Ned, »der seine Leute auf einen Berg führt!«

»Wenn das wirklich so passiert ist«, sagte Bob.

Bob war mir ein Rätsel. Ned entzog sich meinem Verständnis, er war ein Exot. Aber Bob, mein Busenfreund, vernünftig und unerschütterlich, konnte es mit ihm aufnehmen.

Wir brachen am nächsten Morgen früh auf, einem klaren, frischen Wintermorgen, der das Gemüt belebte, auf Pferden, die Joe Gaffney, ein eingeschworener Junge, der in Trainors Mietstallung arbeitete, für uns gefunden hatte, wenn ich das so sagen darf. Wir ritten von Kilpeder aus westwärts und folgten einer Landstraße, die durch die Derrynasaggarts führte und dann nach Kerry hinunter abfiel. In der Vergangenheit hatten wir diesen Ausflug ein halbes dutzendmal zum Vergnügen unternommen, und mehr als einmal war Mary mitgekommen, und wir hatten einen Ferientag daraus gemacht, mit Brathähnchen und Schinken in einem Korb und allem, was dazu gehört. Wir hatten jedoch nie einen schöneren Tag als diesen erlebt, und da der Mensch nun einmal ein Mensch ist, verdrängten wir über lange Strecken unseres Rittes dessen Ziel aus unseren Gedanken und freuten uns über den Tag und über unsere Gesellschaft. Mir ging das wenigstens so. Bei Bob konnte man sich nie sicher sein. Er konnte einfach drauflos plaudern, Karten austeilen oder in einer Schenke eine Runde ausgeben, und doch gab es in seinen Gedanken immer eine kühle, saubere Ecke, in der Bob abwägte, berechnete, abschätzte.

Reiche Weideland fiel zu den Vorhügeln hin ab, das Gras war lang und üppig, tiefgrün und noch naß vom Morgentau, hier und da Felsbrocken, in der Ferne Schafe wie weiße Farbtupfer. Und aus den Vorhügeln ritten wir dann ins eigentliche Gebirge, schroff und felsig, hier und da mit Stechginster bewachsen, der gerade erst anfing, sich lila zu färben, ein blasses, rosahaftes Lila. Wir hatten die Berge für uns, kein anderer Reiter war auf der Straße, es gab nicht einmal einen vereinzelten Bauern mit seinem Karren oder seinem Esel, auf dem zu beiden Seiten ein Fischkorb hing.

Es war die absolute Einsamkeit, und von den Kämmen der hohen Hügel aus konnten wir sehr weit sehen, bis zu den Hügeln in der Ferne, die Kerry noch immer unseren Blicken entzogen, oder, wenn wir uns in den Sätteln umdrehten, bis West Cork, wo Kilpeder jetzt nicht mehr zu sehen war, obwohl wir den Knockmany erkennen konnten, der die Stadt überragt. Wir waren jetzt so weit oben, daß Vögel unsere einzige Gesellschaft darstellten, Habichte, einmal sahen wir drei dicht beieinander – ein seltener Anblick, denn der Habicht ist ein einsamer Jäger. Bob zog die Zügel an und beobachtete einen davon, der über uns kreiste, wobei die ausgezackten Ränder seiner Flügel wie Finger ausahen. Der Habicht drehte weite, suchende Kreise und stand dann bewegungslos vor der Wintersonne, dann ließ er sich fallen und war nicht mehr zu sehen.

Auf der anderen Seite ritten wir hinab in die Vorhügel, nach Kerry hinein, und die Erde bewegte sich wieder schneller für uns. Killarney mit seinen Seen ist ein seltsamer Ort, an dem die Geschichte zu leben scheint, eine Geschichte, die die Sommerfrischler, die aus der Ferne herbeiströmen, aus England und vom Kontinent, niemals erraten können. Der Besucher braucht nicht zu wissen, daß die Kriege Elizabeths und Cromwells, die Desmond-Rebellion und ihr entsetzliches Nachspiel und die Tage des großen Hungers diesen Teil Kerrys verheert haben, und die Tage des großen Hungers brachten eine Verzweiflung mit sich, an die sich alle, die noch leben, sehr gut erinnern.

Ich selber bin nur selten nach Killarney hinabgeritten, ohne über all das nachzudenken, feine, wohltönende Überlegungen, Phrasen, die sich in Gedanken zur Hälfte von selber bilden, berührt von der schattenhaften, würzigen Melancholie der Vergangenheit.

Aber die Stadt selber brachte mich wieder in die Gegenwart zurück, das war unvermeidlich, denn nichts, was wir in Kilpeder gehört hatten, hatte uns darauf vorbereitet.

Die Straßen wimmelten nur so von Soldaten, jedenfalls kam es meinen ungeschulten Augen so vor, und egal, wohin man sah, überall fiel der Blick auf ihre scharlachroten Röcke. Sie gingen durch die Straßen, standen in Gruppen vor den Kasernen und dem Gericht, und sie standen sogar auf den Stufen der Kathedrale. Wie wir später erfuhren, hatten sie ihre Zelte in den Feldern auf der anderen Seite der Stadt aufgeschlagen, eine Hälfte von ihnen machte in den jenseits gelegenen Hügeln noch immer Jagd auf O’Connor und seine Männer, die andere Hälfte hatte den Nachmittag frei bekommen, um sich in Killarney zu amüsieren. Während Bob und ich uns noch umschauten, kamen vier von ihnen aus der Schenke gegenüber, sie hatten ihre Käppis zurückgeschoben und ihre Kragen gelockert. Sie wirkten harmlos genug auf uns, angetrunken, aber keinesfalls aggressiv.

Aber für Bob und mich war es ein ungewohnter Anblick, und wir zogen uns von der Straße zurück und lehnten uns an die Fenster eines kleinen Hökerladens. Von der Kathedrale her kam ein ganzes Regiment von ihnen herangeschlendert, so kam es uns wenigstens vor, mit Lärm und Gebrüll, und die vier, die eben aus der Schenke gekommen waren, starrten sie genauso an wie wir selber. »Tom«, rief einer von ihnen einem Kameraden zu, den er erkannt hatte, »bist du mit den Jungs im Abendgottesdienst gewesen? Hier drin hättest du’s aber besser gehabt!« Er machte eine Kopfbewegung zur Kneipe hinter ihm, und seine Mütze reflektierte ein Funkeln der schrägstehenden Sonne. Er hatte kurzgeschorene sandfarbene Haare, er war nicht mehr jung, vielleicht dreißig, und wies die beiden breiten Streifen eines Corporals auf.

»Gnädiger Gott«, sagte ich, »die gesamte britische Armee ist nach Killarney verlegt worden.«

»Die brutal mißhandelte Bevölkerung duckt sich in ihrem Entsetzen«, sagte Bob und nickte zu drei Mädchen hinüber, die an der Ecke gegenüber so dicht beieinander standen, daß ihre von Schals verhüllten Köpfe einander fast berührten. Alle drei kicherten. Die größte war auch die kühnste. Sie hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere berührte die Kante ihres Schals. Als sie den Soldaten entgegenblickte, sagte sie etwas, was die beiden anderen erneut in Gekicher ausbrechen ließ. Sie hatte große, dunkle Augen und hohe Wangenknochen. Ein Streifen Haare, der unter dem Schal hervorlugte, war schwarz.

»Die Eltern dieser Mädels denken wohl kaum an ihre Verantwortung«, sagte ich. Die Kleinste von ihnen tanzte geradezu vor Aufregung, ihre Füße bewegten sich nach einem Muster.

Bob grinste sie an, seine Augen hingen an dem großen, schwarzhaarigen Mädchen. »Die britische Armee wird vielleicht ein oder zwei Andenken hinterlassen, wenn niemand aufpaßt. Diese Mädels sollten von einem Priester von der Kathedrale nach Hause geprügelt werden.« Aber seinee Worte waren härter als sein Blick. Einen Moment lang trafen sich die Blicke der beiden, aber sie wandte ihren Kopf wieder ab. Die jungen Männer Irlands hatten an jenem Tag in den Straßen von Killarney keine Chancen.

Um ehrlich zu sein, war die Keuschheit Kerrys die geringste meiner Sorgen. Die britischen Soldaten, die sich in den Straßen von Killarney drängten oder die sich in meinen Augen dort wenigstens zu drängen schienen, waren für den Moment harmlos genug, und viele unter ihnen waren zweifellos selber auch Iren, aber trotzdem war die Bedeutung ihrer Anwesenheit nicht mißzuverstehen. Das sah ich einem Jungen an, der einen Moment lang allein dastand, vor der Schenke, ganz unbesorgt, der seine Daumen in seinem weißen Gürtel verhakt hatte, der nicht so recht wußte, wohin er nun gehen sollte. Er war ein Gemeiner Soldat, seine Ärmel zeigten keine breiten Pfeile, ein hagerer, hungrig aussehender Bursche mit ausgeprägtem Adamsapfel. Er blickte die Straße hinauf und hinab, sein Blick erfaßte uns beide und ruhte einen Moment auf uns. Er lächelte durchaus nicht, die Winkel seines langen, schmalen Mundes zogen sich nach unten.

»Das sind noch lange nicht alle«, sagte Bob. »Die Eganbrüder haben von Schotten gesprochen, von Hochländern mit roten Schenkeln.«

»Aber wie um Himmels willen sind sie hierher gekommen?« fragte ich. »Wie konnten sie von Cork hierher kommen, ohne die Straße durch Kilpeder zu nehmen?«

»Die britische Armee ist überall und nirgends«, sagte Bob. »Wie der Heilige Geist oder die Peripherie des Kreises, was auch immer. Wir sollten uns erkundigen.«

Wir machten uns auf den Weg durch die Straße voller roter Röcke. In dieser Stadt herrschte fast Ferienstimmung, und wenn die roten Röcke dafür verantwortlich waren, dann konnte auch nicht behauptet werden, daß die Leute vom Lande sie mit bösem Auge musterten. Am Bahnhof öffnete sich der große Platz der Stadt. Es gab einen Markt mit Läden und Schenken und nicht weniger als vier Hotels. Etwas weiter entfernt, so angelegt, daß seine gepflegten Rasenflächen eine Ecke des Bahnhofsgebäudes berührten, lag das große Eisenbahnhotel, zu dem die Sommerfrischler strömten. Auch jetzt schien es überfüllt, obwohl keine Saison war. Broughams, Landauer und Gigs standen auf der geschwungenen Auffahrt, und neben ihnen spazierten Gentlemen und Ladies hin und her und unterhielten sich, wobei die langen Kleider der Damen über den sauber geharkten Kies fegten. Wären wir näher gewesen, so hätten wir ihr swisch-swisch hören können, ein luxuriöses und erotisches Geräusch. Auch hier war die Armee vertreten, allerdings nicht durch Schenken-Corporals und Gemeine. Hinter dem weißen Säulengang standen zwei Ladies und ein Gentleman und beobachteten alles, was vor sich ging, die Ladies trugen weitkrempige, unter dem Kinn mit Schals festgebundene Hüte, der kleine, korpulente Gentleman trug einen Zylinder und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Auf der Treppe standen zwei Offiziere, ziemlich jung und ohne Kopfbedeckung, deren Kaste weniger durch ihre Abzeichen verraten wurde als durch ihre Haltung, und unterhielten sich mit ihnen. Einer von ihnen, ein gutaussehender junger Mann mit einem langen, herabfallenden Schnurrbart, stand in nachlässiger Haltung da, seine Arme waren verschränkt, und ein schwarzer, polierter Stiefel ruhte auf der obersten Treppenstufe. Der andere, der einen Kopf kleiner war, teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Unterhaltung und Blicken, die er über die Schulter zurück auf die Stadt warf. Irgendwer sagte etwas, ich stellte mir vor, es wäre der junge Offizier gewesen, und alle lachten. Das silberhelle Lachen der Frauen wurde über kurzgeschnittenen Rasen, runde Beete mit Wintersträuchern und Pflanzen zu uns getragen.

»Offiziere des Zweiten Blankshire sprechen den beunruhigten Einwohnern von Kerry Mut zu«, sagte Bob. »Ihr adrettes und munteres Aussehen ist für viele ein willkommener Anblick.«

»Du hättest eine große Zukunft bei der Presse«, sagte ich, »wenn du dich bloß von Tully losreißen könntest.«

»Vielleicht hat das Zweite Blankshire andere Pläne für uns«, erwiderte Bob. »Sie scheinen doch herzensgut zu sein.«

Mit solchen Scherzen vertrieben wir uns die Zeit, als ob wir unsere männliche Sorglosigkeit unter Beweis stellen wollten, bis wir merkten, daß der jüngere der beiden Offiziere uns fixierte, und ich kann nicht sagen, warum uns das beunruhigte, schließlich waren wir ein respektabel aussehendes Paar, ein Schulmeister und ein Ladengehilfe, mit der Blässe derer, die selten im Freien sind. Die fünf Menschen da vor uns boten ein hübsches Bild, die beiden Damen und der behäbige Gentleman und die beiden Offiziere, und in der Abendluft stellte ich mir vor, wie ein Walzer aus dem Aufenthaltsraum strömte, Violinen und ein Flügel.

»Vincent gehört eher hierher als wir beide«, sagte Bob. »Machen wir, daß wir fortkommen.«

Auf der anderen Seite des Platzes wurden die Straßen wieder enger. Timoneys Schenke befand sich in der ersten Straße links auf halber Höhe – ein recht großes Haus, das Kneipenfenster mit klarem Glas oben und dunkelrotem Glas unten, und über allem war »Martin Timoney« großartig golden auf purpurrotem Untergrund aufgemalt.

Es war eine ruhige Tageszeit in der Schenke, der frühe Abend. Am Tresen, nahe der Tür, saßen zwei alte Männer, der eine hatte sein Pint vor sich auf dem Eichenholz stehen, der andere hielt es in seiner langen, krallendünnen Hand. Der Barmann, jung und fast schon kahl, stand vor ihnen hinter der Theke. Sonnenlicht, das durch rotes Glas fiel, bildete Muster auf dem Fußboden. Eine Schenke hat um diese Zeit eine befristete Ruhe, nicht einmal die Geister der nächtlichen Zecher sind noch zu spüren. Sie hat einen Hauch von Beichtstuhl, oder auch von den Freuden melancholischer Meditation.

Bob ging an den beiden Alten vorbei ans Ende des Tresens und ließ sich auf einem Barhocker nieder. Wir warteten, bis der Barmann zu uns kam. Bob hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet.

»Ist das Leben derzeit ruhig in Kilpeder?« fragte der Barmann.

»Dennis, nicht wahr?« fragte Bob seinerseits. »In Kilpeder ist es immer ruhig, Dennis, außer an Markttagen und Nächten mit Freudenfeuer. Wir müssen über die Berge nach Killarney, wenn wir Aufregung wollen. Oder natürlich nach Killorglinj

»Killorglin!« wiederholte Dennis verächtlich.

»Mein Freund Hugh MacMahon«, stellte Bob vor. »Der Schulmeister von Kilpeder.«

Dennis hielt mir seine weiche weiße Hand hin, feucht vom Auswischen der Gläser. »Dann sollte ich wohl auf meine Wortwahl und meine Grammatik achten«, meinte er. »In Anwesenheit eines Lehrers.«

»Zwei Kleine, Dennis, bitte«, bestellte Bob. »Und einen Tropfen Wasser, wenn du den entbehren kannst. Für diese Jahreszeit ist im Eisenbahnhotel aber ganz schön viel los.«

Dennis lächelte, sagte aber nichts, bis er unseren Whiskey eingeschenkt und die Gläser vor uns hingestellt hatte.

»Ihr habt also schon sondiert«, sagte er, und dieses elegante Wort hatte er sicher meinetwegen verwendet. »Der halbe Landadel der Baronie hält sich im Moment in der Stadt auf. Einige von ihnen wohnen bei den Kenmares, andere bei Freunden, die Häuser bei den Seen besitzen, und der Rest ist in Zimmer im Hotel gepfercht. Sie sind sofort hergekommen, als sie gehört haben, daß die Polizeistation in Cahirciveen angegriffen worden war. Und nach dem Angriff in Keils sind noch mehr gekommen. Manche hatten hochbeladene Karren bei sich, mit Teeservicen und Portraits in vergoldeten Rahmen, und hohen Leuchtern aus Gold und Silber. Es ist eine Gnade Gottes, daß die Tinker nicht in der Stadt sind.«

»Auf dein Wohl«, sagte Bob und hob sein Glas.

Das Glas Whiskey tat gut nach der Reise, kühl im Geschmack wie der kühle, ruhige Raum.

»Wir haben unsere Pferde in Bricks Stall am anderen Ende der Stadt eingestellt«, erzählte Bob. »Aber Jeremiah war nirgendwo zu sehen. Nur sein kleiner Junge war da.«

»Jeremiah ist schon seit ein paar Tagen nicht in der Stadt«, antwortete Dennis. Er polierte die Eiche vor ihm mit seinem Bartuch. Eine sinnlose Arbeit. Alte Ringe von Porter und Whiskey-Gläsern waren mit der Maserung des Holzes verschmolzen. »Niemand weiß, wann er wiederkommt. Etliche Burschen aus der Stadt halten sich zur Zeit nicht in ihrer üblichen Umgebung auf.«

»Wir hatten einen ruhigen Ritt durch die Derrynasaggarts, Hugh und ich. Keine Seele zu sehen, außer ab und zu einem Habicht.«

»Falls Habichte Seelen haben«, fügte ich hinzu.

Dennis war nicht in spekulativer Stimmung. »Da doch nicht«, sagte er. »Drüben, in Iveragh, in den Hügeln vor Cahirciveen, da soll es viel Aufregung und Bewegung geben.«

»Ist dein Vater da, Dennis?« fragte Bob. »Oder ist er mit Jeremiah Brick in die Ferien gefahren?«

»Nein. Er ist oben. Ihr wollt euch sicher mit ihm unterhalten. Seht ihr die beiden Alten dahinten?« fragte er, wobei er seine Stimme senkte und ihr einen wilden Unterton gab, ein Trick, den Gastwirte erlernen, noch ehe sie gelernt haben, ein anständiges Pint zu zapfen. »Beide kleine Farmer, wohnen jenseits von Gortrelig. Einer von ihnen brauchte Tabak, und da beschlossen sie, sich in Killarney einen schönen Tag zu machen. George O’Riordans Laden liefert eine Sorte Tabak, die ihm gut schmeckt, sagt er. Sie heißt Trafalgar Blue, und auf der Packung ist ein blaukoloriertes Bild von Lord Nelson. Die beiden da, wie sie ihre Pints genießen. Wenn sich vor ihnen die Erde öffnete, würden die beiden sich nicht darum kümmern.«

»Aber genau das ist doch passiert, Dennis, nicht wahr?« Bob hatte seine Lautstärke kein bißchen verändert, und doch wirkte der Raum jetzt noch stiller. Nur das sanfte sss-sss des Tabakliebhabers und seines Kameraden brach die Stille. »Die Erde von Kerry scheint sich doch geöffnet zu haben. Zwei Jungen aus Cahirciveen halten sich jetzt bei einem Vetter in Kilpeder auf, junge Brüder namens Egan, und ich habe mit ihnen gesprochen, ich und ein gewisser Freund von uns.«

Dennis sagte nichts. Seine Hand mit dem Bartuch lag bewegungslos auf dem Eichentresen.

Ich berührte den Rand meines Glases. »Laß uns die andere Hälfte probieren, Dennis«, sagte ich.

Bob blickte zu den beiden Alten hinüber, dann betrachtete er einen Druck, der an einer Wand hing, Robert Emmet vor Gericht, in seiner grün-weißen Uniform, die Hand erhoben, während er seine Rede hielt. Während sein Blick immer noch nachlässig auf dem Druck ruhte, fragte Bob: »In was für einen verdammten Wahnsinn sind die Fenier von Kerry denn da geraten?«

»Dennis«, sagte ich, weniger vom Durst getrieben als von einem menschlichen Wunsch, die Spannung zu verringern. »Die andere Hälfte, und gieß dir auch selber einen ein, wo du schon mal dabei bist.«

Aber das tat er nicht. Er schenkte zwei Whiskey ein und schob den Krug mit dem Wasser dichter an meine Hand. Ich fand unter den Münzen in meiner Tasche einen Schilling und legte ihn neben den Krug, wo er unbeachtet liegen blieb.

»Diese Frage solltest du meinem Vater stellen, nicht mir.«

Sie waren gleich stark gewesen, Martin Timoney und Bob Delaney, die Ortskommandeure für Kilpeder und Killarney, ehe die amerikanischen Offiziere eingetroffen waren.

»Ja«, sagte Bob. Er hob den Krug hoch und goß Wasser in sein Glas, bis das tiefe Braun des Whiskey zu schwachem Gold erweicht worden war.

Er wartete, bis Dennis den Raum verlassen hatte, dann hob er sein Glas.

»Die Timoneys sind nicht unterwegs in den Hügeln von Iveragh«, sagte er. »Was Vorsicht angeht, sind die Gastwirte von Munster doch nicht zu übertreffen.«

»Um Himmels willen, Bob«, widersprach ich. »Martin Timoney ist ein Krüppel, der an zwei Stöcken geht. Und er ist doch mindestens fünfzig.«

»Dennis ist rege genug«, meinte Bob. »Weich, aber flink, wie eine getigerte Katze.« Er erledigte seinen Whiskey in zwei Zügen und stellte sein Glas schwungvoll auf den Tresen.

Ohne mir etwas anmerken zu lassen, das dachte ich wenigstens, musterte ich Bob im sorgfältig geputzten Spiegel hinter der Theke. Ich war im Irrtum gewesen, ihn wegen seiner Ruhe zu beneiden. Sein eckiges, intelligentes Gesicht war ruhig genug, seine Wangen und seine gleichmütigen blauen Augen zeigten keine Nervosität, und sein Benehmen, abgesehen von dem einen Peitschenhieb, wirkte gelassen. Aber er saß sehr gerade da, und die ausgestreckten Finger seiner freien Hand krümmten sich. Ich wandte mich vom Spiegel ab und betrachtete sie, wie sie sich mit weißen Fingerspitzen gegen das Eichenholz preßten.

Dennis war kaum verschwunden, als er auch schon zurückkehrte, erleichtert, zweifellos, seinen Auftrag ausgeführt zu haben, und er nickte Bob zu, der sich erhob und die Tür zum Treppenhaus öffnete. Ich folgte ihm.

Martin Timoney erwartete uns auf einem kleinen Treppenabsatz. Das schwere Gewicht seines Körpers ruhte schwer auf den Stöcken, die er in beiden Händen hielt.

»Du hättest unseretwegen wirklich nicht aufzustehen brauchen, Martin«, sagte Bob.

»Wenn’s weiter nichts ist«, antwortete Timoney. »Jeden Tag geh’ ich ein dutzendmal diese Luder von Treppen rauf und runter. Warum denn auch nicht?« Er war ein großer, bulliger Mann, der im Laufe der Jahre aus der Form geraten war, sein schwerer Bauch drohte, seinen Gürtel zu sprengen.

Er führte uns in eines der beiden vorderen Zimmer über dem Laden, wo ein weiterer Mann saß, hager und drahtig, mit langen, glatten Haaren, fast so schwarz wie Neds, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit.

»Das ist Captain Eugene Reilly«, stellte Timoney vor. »Er ist mit John O’Connor hergekommen.«

Reilly saß an einem runden Tisch aus Schwarzeiche, und Timoney lud uns durch eine Geste seines Stockes ein, uns ebenfalls dorthin zu setzen. Dann ließ er sich selber auf einen der Stühle fallen, legte einen Stock neben seinem Stuhl auf den Boden und saß uns dann gegenüber, wobei seine beiden Hände auf dem Knauf des anderen Stockes ruhten.

»Ned Nolan hat uns von Ihnen und Colonel O’Connor erzählt«, begann Bob höflich. »Ned Nolan ist unser Kommandant in Kilpeder.«

»Das weiß ich«, erwiderte Reilly. »Aber ich kann mich durchaus nicht an Nolan erinnern. Im Moment gibt es hier zu viele von uns. Unter wem hat Nolan gedient? Bei Meagher gab es einen Nolan, aber der hieß Eugene mit Vornamen.« Seine Stimme klang, anders als Neds, nur nach Yankee, mit schwerem Akzent und doch nasal.

Bob schüttelte den Kopf. »Er hat es uns erzählt, aber ich kann mich nicht erinnern. Er hat in Tennessee und Virginia gekämpft.«

»Es war eine Zahl und ein Name«, sagte ich. »Das Siebte New Yorker, oder so.«

»Egal«, meinte Reilly. Er hatte die Hände mit den Handflächen nach unten in seine Hosentaschen geschoben, eine Angewohnheit, die er mit Ned teilte. »Nun ja, Jungs«, sagte er dann, »außer den Hügeln gibt es wenig Ähnlichkeiten zwischen Kerry und Tennessee. Die Schlacht von Kerry wird niemals in die Annalen der Kriegsgeschichte eingehen.«

»Was ist passiert, um Gottes willen?« fragte Bob. »Deshalb hat Ned Hugh und mich doch hergeschickt. Er hat mir den Befehl erteilt, mit Colonel O’Connor zu sprechen.«

Martin Timoney lachte amüsiert und blickte Reilly an. »Colonel O’Connor?« fragte er.

»John O’Connor ist auf der Flucht«, sagte Reilly. »Er ist bei Freunden außerhalb von Sneem so ziemlich in Sicherheit. Aber auf allen Straßen nach Iveragh gibt es Armee- und Polizeipatrouillen. Im Moment habe ich deshalb das Kommando in Killarney. In Kerry ist alles vorbei, Jungs. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.«

»In Kilpeder wissen wir nichts davon, was hier passiert ist«, sagte Bob mit seiner trügerischen Geduld. »Die Eganjungs halten sich dort versteckt. Ihr habt in Cahirciveen losgeschlagen und die Polizeiwache übernommen, und dann die Station in Keils, und dann habt ihr irgendwo zwischen hier und Sneem gegen die Polizei gekämpft. Mehr wissen wir nicht in Kilpeder.«

»Gegen die Polizei gekämpft«, wiederholte Timoney mit angeekelter Stimme. »Bei Gott, das haben sie. Und sie haben die ganze verdammte Armee über uns hereinbrechen lassen. Seid ihr durch Killarneys Straßen gegangen?«

»John O’Connor hat einen Aufstand in Cahirciveen organisiert«, sagte Reilly. »O’Connor. Nicht ich. Und mehr kann ich euch auch nicht sagen. Er hat mir Bescheid gegeben, daß der Aufstand angefangen hätte und daß ich unsere Jungs bereit machen sollte. Am nächsten Tag habe ich dreißig von ihnen unter Jeremiah Brick losgeschickt, und nur sieben von ihnen sind bisher nach Killarney zurückgekehrt.« Und dann zog er eine Hand aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Ich kann euch mehr erzählen als die Egans, aber nicht soviel, wie Nolan sicher wissen möchte.«

»Habt ihr keinen Hunger, Jungs?« fragte Timoney.

»Ob ich Hunger habe, fragst du?« erwiderte Bob. »Kerry rebelliert und wird geschlagen und ist für uns verloren, und du fragst, ob ich Hunger habe!«

»Kerry ist allerdings verloren«, sagte Reilly. »Da hast du wirklich recht.«

Bob schüttelte den Kopf. »Hugh und ich begreifen ja nicht einmal, wieso die verdammte Armee hier sein kann. Über die Straße von Macroom sind keine Truppen bewegt worden.«

»Sie sind bei Limerick Junction nach Süden abgeschwenkt«, erklärte Reilly. »Ein General namens Horsford hat sie hergeschickt. Sir Alfred Horsford, und der ist wirklich ein feiner, tatkräftiger General. Er hat hier eine Inspektion durchgeführt. Ich habe ihm vom Fenster aus zugeschaut, er stand mit seinem Adjutanten auf der Straße. Er ist ein kleiner hitziger Bursche mit gewaltigem Schnurrbart. Er hat alles herbefohlen, was in Limerick Junction aufzutreiben war – Ausflugskarren, Möbelwagen, feine Kutschen. Kerry ist abgeriegelt.«

»Sieht so aus«, meinte Bob.

»Wieso habt ihr denn keinen Hunger?« fragte Reilly. »Ich könnte allerdings keinen Bissen mehr herunterwürgen. Ich bin schon seit drei Tagen in diesem Zimmer, und die Damen Timoney stopfen mich mit Schinken und Brathähnchen und Fleischpasteten voll. Ich glaube, sie wollen mich für den Jahrmarkt mästen.«

Bei Menschen kann man sich nie auskennen. Auf den ersten Blick hatte ich aus irgendeinem Grunde eine Abneigung gegen Reilly gefaßt, aber ich hatte ihn falsch beurteilt. Da saß er, wie Ned in Kilpeder, vom Himmel herunter in ein fremdes Land gefallen, all seine großen Pläne ruiniert, versteckt in einem Zimmer über einer Gastwirtschaft, ohne andere Ablenkungen als die Mahlzeiten und ab und zu den Anblick eines britischen Offizieres mit rotem Rock und kriegerischem Kavallerieschnurrbart. Aber er hatte nicht mehr Nerven als ein Eiszapfen und trotz unserer Grobheit sogar eine gewisse Sympathie für Bob und mich.

Schließlich brachte Dennis’ Frau, eine dünne, kleine Person mit schmalem Gesicht und raschem, nervösem Lächeln, ein großes Tablett mit Schinken und kaltem Huhn. Dick geschnittenes Brot, eine Schüssel Butter und eine Kanne Tee. Ich beschmierte mir zwei Schnitten mit Butter und legte Schinken dazwischen, tat dann dasselbe für Bob, als ich sah, daß er keine Anstalten machte, sich dem Essen zu nähern, und goß Tee für uns beide ein.

»Jetzt stehen auf beiden Seiten von Kilpeder britische Truppen«, sagte er. »In Cork, und jetzt hier in Killarney.« Diese düstere Tatsache war mir noch nicht klar gewesen.

»Stimmt«, erwiderte Reilly. »Und das war schon die ganze Zeit so. Ob westlich von euch in Kerry oder im Norden macht kaum einen Unterschied. Die Männer von Kilpeder glauben doch sicher nicht, den Kampf allein ausfechten zu können. Worauf es ankommt, ist, daß sich alle Zirkel am Sechsten erheben, die Briten können nicht überall zugleich sein. Was hier passiert ist, hat uns in Kerry zurückgeworfen, euch anderen kann es aber nicht schaden.«

Bob und ich sahen einander an, und ich weiß noch, wie er das Schinkenbrot mit beiden Händen hielt.

»Am Sechsten?« fragte ich.

»Natürlich am Sechsten«, antwortete Reilly.»Das große Rätsel für mich ist, warum John O’Connor in Cahirciveen so voreilig gehandelt hat.« Als er uns anblickte, erst den einen und dann den anderen, hatte er ein neues kleines Rätsel zu verdauen, aber dieses löste er gescheit genug. Er hatte einen Fuchskopf, dreieckig und kompakt, mit wachsamen, tiefliegenden Augen. »Nolan weiß Bescheid. Hat er es euch nicht gesagt?«

»Gewissermaßen schon«, antwortete Bob trocken. »Er nennt es den festgesetzten Tag. Captain Nolan neigt nicht sehr zur Konversation.« Nun biß er in sein Schinkenbrot, und ich war seinetwegen verlegen. Er war trotz allem unser Vizekommandant. Aber ich hatte nur wenig Gefühl, das ich für Mitleid hätte verwenden können. Der festgesetzte Tag, wie wir ihn nach Neds Beispiel fromm nannten, war also wirklich nur noch wenige Wochen entfernt. und diese Tatsache hatten wir nicht unter fröhlichen Bedingungen erfahren. Ich tröstete mich mit meinem Schinkenbrot und wünschte, ich säße in meiner eigenen Küche.

Das kleine, kahle Zimmer wurde nun dunkler, und keine Lampe oder Kerze wurde angezündet. Martin Timoney, mit seinem riesigen Bauch, und der kühle, zähe Reilly saßen im Schatten. Unten auf der Straße brüllten Männer einander an, vielleicht Soldaten oder Leute aus der Stadt oder vielleicht Leute vom Land. Bob erhob sich und ging zum Fenster.

»Wir haben dem Adel einen Schrecken eingejagt«, sagte Timoney. »Bei Gott, wenn John O’Connor und seine Burschen auch sonst nichts geschafft haben, das ist ihnen immerhin gelungen. Wißt ihr, wer jetzt mit all den Protestanten im Eisenbahnhotel eingepfercht ist? Die Familie des ›Befreiers‹. Die O’Connells von Derrynane und von Killarney. Und da gehören sie auch hin, bei Gott, diese verdammten Whigs. Endlich sind sie bei ihresgleichen.« In seiner Stimme lag ein kleiner, saurer Triumph, als ob er mit seiner Zunge gegen einen vereiterten Zahn stieße.

»Unten auf der Straße sehe ich drei von O’Connors Männern«, berichtete Bob. »Und eine Garde von General Horsfords Rotrökken, die sie vor sich herstößt.« – »Jesus, Maria und Josef«, sagte ich zu mir selber.

»Ja«, erwiderte Reilly, »so sind sie alle hergebracht worden. Zu zweit und zu dritt.«

»Die Schlacht von Kerry«, sagte Bob und drehte uns weiterhin den Rücken zu.

»Die Schlacht von Kerry«, wiederholte Reilly. »Ich kann euch kurz erzählen, was wir bisher darüber wissen, Martin und ich, und er kann mich korrigieren, wenn ich etwas Falsches sage. Es hat keine Schlacht im eigentlichen Sinne dieses Wortes gegeben. Die Küstenwachstation in Keils war durch Polizei verstärkt worden, aber sie haben sich ergeben, ohne einen einzigen Schuß abzufeuern. O’Connor ließ sie ihr Waffenarsenal herausbringen und sorgfältig aufstapeln, damit die Waffen dann an die Jungs verteilt werden konnten. Dann hißte er irgendeine grüne Flagge an einem der Geschütztürme, und sie marschierten weiter. Er schickte aus Keils den Boten an Martin und mich. Der Bote war völlig außer sich über diesen großen Sieg.«

»Die meisten Leute von der Küstenwache sind Engländer«, sagte Timoney. »Aber die Polizisten sind anständige Iren. Sie haben sich geweigert, das Feuer auf ihre eigenen Leute zu eröffnen.«

»Das haben sie John O’Connor gesagt«, erzählte Reilly. »Für General Horsfords Ohren hatten sie allerdings eine andere Geschichte, da könnt ihr sicher sein. Auf dem Marsch hierher ist O’Connor bei Glenbeigh auf eine berittene Polizeipatrouille gestoßen, und er hat ihnen befohlen, sich zu ergeben. Es kam zu eineme Handgemenge, und der Sergeant, der den Befehl hatte, Duggan, hat versucht, sich den Weg freizukämpfen. Einer von unseren Burschen hat geschossen und ihn vom Pferd geholt. Duggan brachte Meldungen von hier nach Cahirciveen, und als O’Connor diese gelesen hatte, änderte er seine Pläne und führte seine Männer in die Hügel. Das ist alles. Die Schlacht von Kerry, die in Lied und Legende gefeiert werden wird.«

Er hatte keine Ahnung von Kerry. Das Lied von der Schlacht von Kerry wird bis heute jenseits der Berge gesungen, über den Angriff auf die Station in Kells und die Jungs aus Cahirciveen, die vorwärts drängen, geführt von O’Connor. Es gibt dazu auch einen Druck, der uns O’Connor in einer Art Uniform und mit einem großen, breitkrempigen Hut mit Feder zeigt, während er seinen Männern mit gezücktem Schwert einen Befehl erteilt.

»Und wurde der Sergeant verletzt?« fragte ich.

»Eine üble Wunde«, antwortete Reilly. »Er wurde aus nächster Nähe in den Rücken geschossen, und die Kugel hat einen Lungenflügel durchschlagen. Er lag auf der staubigen Straße in seinem Blut, war aber bei Bewußtsein. John O’Connor hat versucht, ihm etwas Schnaps einzuflößen, aber er hat es wieder herausgewürgt. Das hat die Männer völlig aus der Fassung gebracht, unsere Jungs und auch die Polizisten. John stand neben ihm und las die Meldungen, während die anderen sich um den Verletzten kümmerten. Er ist jetzt schon tot, hier im Krankenhaus gestorben, und das ist ja auch kein Wunder, nachdem er in einem Karren durchgerüttelt worden ist.«

Das erste Blut, das während des Aufstandes vergossen wurde. Ich sah ihn vor mir auf der Straße liegen. Die anderen waren schattenhaft und vage: die Polizisten in ihren schwarzen Uniformröcken, und unsere Jungs, was immer sie anhaben mochten, und alle starrten einander und den Verletzten auf der Straße an. Aber den Mann selber sah ich deutlich in meiner Vorstellung. Irgendwer hatte eine Jacke zusammengefaltet und unter seinen Kopf gelegt.

»Er gehörte zu der Verstärkung, die letzten Monat aus Cork geschickt worden ist«, erzählte Timoney. »Er war überhaupt nicht von hier. Aber die anderen Polizisten konnten nicht sagen, welcher von unseren Jungs die Kugel abgefeuert hat, Gott sei Dank.«

»Und wir haben die Bescherung«, sagte Bob. »Ein Polizist erschossen, und Kerry vollgestopft mit Soldaten. Was zum Teufel hat O’Connor in diesen Meldungen entdeckt?«

»Das werde ich erfahren, wenn ich mit John sprechen kann«, sagte Reilly. »Ich nehme an, daß er uns einen Boten hierhergeschickt hat, der jedoch nicht angekommen ist. John muß das Land verlassen. Er ist jetzt ein gezeichneter Mann«

»Auf der Straße unten ist wieder alles ruhig«, berichtete Bob. »Abgesehen von drei jungen Burschen, die auf ein Pint in den Laden kommen. Und so, wie sie aussehen, ist das nicht ihr erstes heute abend.« Er wandte sich vom Fenster ab.

»Trotz notwendig gewordener Veränderungen im Lokal werden die Geschäfte weitergeführt«, sagte Timoney »Dennis wird sich um sie kümmern. Wenn ihr ein ruhiges Leben sucht, dann ist Dennis der richtige für euch.«

»Das ist er wirklich«, stimmte Reilly zu. »Dennis wird nicht traurig sein, wenn ich hier Abschied nehme.«

Bob ging durch das Zimmer zur Anrichte, nahm eine Flasche und Gläser und trug sie zum Tisch.

Er schenkte für uns vier ein und hob sein Glas, ohne zu prosten, an die Lippen. Erst nach dem Trinken setzte er sich wieder zu uns.

»Sie werden selber bald genug ein gezeichneter Mann sein, Captain Reilly. Irgendeiner von den festgenommenen Burschen wird etwas zu erzählen haben, um seine eigene Haut zu retten.«

»Das habe ich mir auch überlegt«, erwiderte Reilly. »Wie Sie sich bestimmt vorstellen können.« Er drehte das Glas in seiner Hand, dann hob er es. »Ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte des Reilly-Clans. Sechs Wochen in Killarney herumgelungert und keinen einzigen Schuß im Zorn abgegeben. Man weiß ja nie, Jungs. Vielleicht tauche ich in Kilpeder auf, wie ein gefälschter Penny.«

»Nein«, sagte Bob. »Gehen Sie dieses Risiko nicht ein!«

»Man hatte uns Waffenlieferungen versprochen«, sagte Reilly. »Das wissen Sie selber. Und wo zum Teufel stecken die? An den Stränden hinter Cahirciveen sollten Waffen an Land gebracht werden. Wir waren bereit, sie in Empfang zu nehmen.«

»In Irland gibt es keinen sichereren Ort«, sagte Timoney. »Und das war immer schon so. Die Küstenwache ist wegen der Schmuggler nach Keils gelegt worden, und sie war hilflos. Mein Vater hat manche Flasche auf den Tresen unten gestellt, die Königin Victoria keine zwei Pence eingebracht hat.«

Wieder schwingt Kerry sein Schwert für die Freiheit, dachte ich. In späteren Jahren habe ich die Behauptung gehört, Reilly und O’Connor hätten in den nächsten Tagen tatsächlich versucht, über die Berge zu uns zu gelangen, die Leute aus Kerry hätten davon jedoch nichts hören wollen. Die beiden wurden einige Wochen in einem sicheren Haus versteckt gehalten und dann zu Schiff vom berühmten Strand von Cahirciveen aus aus dem Land geschmuggelt. Bis vor einigen Jahren bekam ich jedes Jahr zu Weihnachten einen Brief von Captain Reilly, der sich als Eisenwarenhändler in Newark, New Jersey, niedergelassen hatte. In jedem Brief erinnerte er sich an den Abend, als Bob und ich im Zimmer über Timoneys Gastwirtschaft mit ihm geredet hatten, es waren sorgfältig aufgebaute Briefe in flüssiger Handschrift. »Jetzt heißt es«, schrieb er in einem dieser Briefe, »die Briten hätten all unsere Pläne gekannt und wir wären von Denunzianten verkauft worden. Aber Sie und ich wissen, daß nur das Fehlen der Waffen daran schuld war. Kerry war bereit, und West Cork auch.« Wie die Briefe, zweifellos, die die Jakobiten aus ihrem Exil in Paris und Rom in die Highlands schrieben, während sich Prince Charles, ihr schmucker Anführer, in Brandy und Selbstmitleid ertränkte.

An jenem Abend war er ein anderer, noch nicht der gemütlich in Newark lebende Geschäftsmann mit großer Leibesfülle und wachsender Familie der Weihnachts-Daguerreotypien. Wie Ned Nolan war er an jenem Abend ein Mann, bereit zu großen Unternehmungen, wie Bacon sagen würde, und in dieser Hinsicht hatte er keine große Ähnlichkeit mit irgendeinem von uns, abgesehen höchstens von Bob selber.

Um die Wahrheit zu sagen, wäre ich gern in diesem behaglichen dunklen Limbo geblieben. Ich hatte durchaus nicht den Wunsch, mich noch einmal unter die rotröckigen Soldaten zu mischen, die durch die Straßen von Killarney wanderten, und in Gedanken sah ich immer wieder das Bild von Sergeant Duggan vor mir, der die Straße mit seinem Blut färbte. Bob dagegen erhob sich und verabschiedete sich, als er sein Glas und dessen andere Hälfte geleert und festgestellt hatte, daß weder Martin Timoney noch Eugene Reilly uns noch mehr erzählen konnten, und ich folgte ihm.

»Mr. Delaney-Bob, nicht wahr?« fragte Reilly, als wir die Tür bereits erreicht hatten. »Was hier geschehen ist, war nur ein Zwischenfall. Abgeriegelt, wenn Sie so wollen, wie Kerry selber. Es hat keinen Einfluß auf den Aufstand. Es hat keinen Einfluß auf West Cork. Sagen Sie das Nolan.«

»Nein«, erwiderte Bob mit der Hand an der Klinke. »Aber es ist ein verdammt trauriger erster Akt. Kommen Sie gut nach Hause, Captain Reilly.« Seine Stiefel polterten die enge Treppe hinunter, und er überließ es mir, den beiden höflichere Worte zu sagen.

In dieser Nacht teilten wir bei Jeremiah Brick ein Bett, und bei Bricks herrschte eine klägliche Stimmung, da Mrs. Brick nur an Jeremiahs Abwesenheit denken konnte und durch Natur oder Erfahrung nur wenig imstande war, die Ereignisse zu begreifen, die ihn verschlungen hatten. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, uns am Morgen Tee und ein anständiges Frühstück vorzusetzen und uns mit ihrer scharfen Zunge zu beglücken. Ich hatte sie vorher zwei-oder dreimal getroffen und sie für ein harmloses, friedliches Geschöpf gehalten. Darin hatte ich mich restlos getäuscht. Sie war eine Xanthippe.

Als Bob und ich unseren Tee und unser mit Butter bestrichenes Brot zu uns nahmen, stand sie mit in die Hüften gestemmten Händen neben uns, wild entschlossen, unsere Verdauung zu ruinieren. »Der arme Jerry irrt durch die Hügel oder liegt dort tot, oder sie werden ihn an einem Strick durch die Straßen führen, wie diese Burschen gestern. Aber Martin Timoney sitzt bequem in seinem Wirtshaus, da könnt ihr sicher sein, und heute abend werdet ihr beide wohlbehalten in Kilpeder sein. Ich verstehe wirklich nicht, wie ihr es über euch bringen könnt, etwas zu essen, ihr beiden.«

»Es war nett von Ihnen, uns etwas vorzusetzen«, sagte ich.

»Das geschieht nicht euch zuliebe, darauf könnt ihr Gift nehmen«, sagte sie. »Ich dachte bloß, daß irgendeine anständige Frau in den Bergen für den armen Jerry dasselbe tut. Ihr habt euch eingebildet, ihr könntet mit der britischen Armee fertigwerden, was, und Gott möge euch vergeben, ihr unwissenden Kinder. Sie strömen nur so in die Straßen von Killarney, kräftige gutaussehende Burschen, die wissen, wie man mit Kanonen und Gewehren umgeht.«

»Bisher sind noch keine Kanonen eingesetzt worden«, widersprach ich, der ewige Pedant.

»Mein eigener Bruder ist bei den Munster Fusiliers, ein Corporal ist er, und wenn die Munsters hergeschickt werden, dann machen sie mit euch allen kurzen Prozeß.«

»Und zweifellos auch mit Jerry«, sagte ich, und durch diese Kriegslist konnte ich eine kurze Unterbrechung ihrer Tirade erreichen.

»Die Priester haben euch alle vom Altar herunter verurteilt«, sagte sie dann, »und trotzdem bezeichnet ihr euch selber als Iren.«

Bob hatte nichts gesagt, sondern sich mit seinem Frühstück beschäftigt. Nun schob er seinen Teller zurück. »Da haben Sie recht, Mrs. Brick. Ich möchte wirklich wissen, warum Jerry jemals in diese verzweifelte Sache hineingeraten ist, wo er doch zu Hause bleiben und den Frieden an Ihrem Kamin genießen könnte.« Ironie war bei ihr vergeudet.

Aber als wir unsere Pferde gesattelt hatten und aus dem Stall führten, wartete sie in der offenen Tür auf uns. Sie hatte sich einen von Jerrys Mänteln zum Schutz gegen die Kälte des Morgens über die Schultern geworfen.

»Kommt gut durch die Berge«, sagte sie. »Ihr seid brave Burschen, ihr beide.«

»Jerry wird zu Ihnen zurückkommen«, sagte Bob und legte die Hand an seinen Hut. »Haben Sie keine Angst.«

»So Gott will«, sagte sie. »Und Gott möge euch schützen.«

Jerry kam tatsächlich zu ihr zurück, wenn auch nur für eine Woche. Dann wurde er von der Polizei geholt, in Tralee vor Gerieht gestellt und ins Millbank-Gefängnis in England geschickt, wo er zwei Jahre absitzen mußte. Als er entlassen wurde, war sein Mietstall längst bankrott, denn der Landadel von Killarney und die respektablen Geschäftsleute wollten nichts mit einer Fenier-Familie zu tun haben. Die Finger seiner rechten Hand waren verkrümmt und verknotet, manche sagen, von seiner Arbeit im Gefängnis, während andere behaupten, der Knüppel eines Wärters habe sie zerschmettert.

Wir hatten einen stillen Ritt zurück nach Hause, denn wir waren beide nicht in Konversationslaune. Mehrmals fragte ich Bob, was er von dem, was wir gehört und nicht gehört hatten, hielte, aber er wollte nicht antworten. Dann jedoch, als wir an der Flesk entlangritten, zog er die Zügel an und betrachtete den rasch dahinfließenden silbrigen Bach. »Wie Reilly uns so richtig gefragt hat, Hughie, wo zum Henker sind die verdammten Gewehre?«

»Er hat die Falschen gefragt«, antwortete ich.

»Nicht wahr?« meinte Bob zustimmend. »Er sollte diese Frage Dublin und New York und Manchester stellen.«

Er hätte genauso gut Wien oder Timbuktu sagen können, für mich waren all diese Orte weit entfernte Punkte auf der Weltkarte im Klassenzimmer. Doch dort saß Bob, ein Ladengehilfe, rittlings auf einem geliehenen Pferd und teilte die Wörter aus wie Karten aus einem abgegriffenen Spiel.

»6. März«, sagte er, »der festgesetzte Tag, und um das zu erfahren, mußten wir bis nach Kerry reiten. Verdammte Yanks.« Dann berührte er die Flanke des Pferdes mit seiner Ferse.

Diesmal sahen wir patrouillierende Soldaten, insgesamt sechs, zu Pferde. Sie ritten über einen Kamm zu unserer Rechten, etwa eine Meile von uns entfernt, einer hinter dem anderen, während die Mittagssonne ihre scharlachroten Röcke beschien. Wir ritten in unserem gemütlichen Tempo weiter und hatten doch Angst, sie könnten jeden Moment über uns hereinbrechen. Doch obwohl sie uns so gut sehen konnten wie wir sie, kamen sie uns nicht näher, und so ritten wir eine halbe Stunde lang nebeneinander.

»Sie werden zu Tausenden geprägt«, sagte Bob, »wie die winzigen Grenadiere und die Kavallerie, die du in den Schaufenstern der Spielzeugläden von Cork City sehen kannst.«

An diesen Burschen war jedoch nichts Winziges. Die Soldaten, die durch die Straßen von Killarney geschlendert waren, hatten ein beeindruckendes Zeugnis abgelegt vom physischen Standard, der in den Regimentern Ihrer Majestät gepflegt wird, und diese sechs Dragoner hatten etwas Heraldisches, als sie sich als Silhouetten vor dem Bergkamm abhoben.

Aus Killarney zurück in unser eigenes Kilpeder zu kommen war, an diesem Tag zumindest, wie der Übertritt aus einer Welt in eine andere. Die Schläfrigkeit der Stadt, die wir so oft in unserem jugendlichen Temperament und unserer Ungeduld verflucht hatten, erschien uns nun als Segen. Ein Farmer kam uns mit Esel und Karren entgegen und berührte seinen formlosen schwarzen Hut mit der Hand, als er den Schulmeister erkannte, oder vielleicht eine erhabenere Persönlichkeit, Dennis Tullys Gehilfen. Er war alt, hatte ein Gesicht wie ein verschrumpelter Apfel und war im alten Stil angezogen, mit Kniehosen und langen Wollstrümpfen. Wir ritten an Saint Jarlath und dem Pfarrhaus vorbei, dann an meinem Haus und der Schule. Bei der Wache war nichts von Sergeant Honan zu sehen, Constable Belton jedoch stand am Tor und plauderte mit zwei Kollegen, und alle drei wirkten völlig entspannt. Kräftige Bauernburschen in zu engen Uniformen, absolut nicht bedrohlich, anders als die rotröckigen Soldaten auf dem Kamm oberhalb der Flesk.

Als wir die Wache jedoch passiert hatten, beugte Bob sich zu mir herüber und sagte: »Die beiden gehören nicht zu Honans Männern. Sie kommen von draußen.« Ich blickte mich zu ihnen um, so unauffällig, wie es mir überhaupt möglich war, und auch ich konnte keinen der beiden erkennen. »Diese Irren in Kerry!« sagte ich. »Ihretwegen ist die Wache in Kilpeder verstärkt worden.«

»Irgend etwas ist jedenfalls schuld dran«, sagte Bob und rieb sich den Mund mit dem Handrücken.

»Was soll denn sonst der Grund sein?« fragte ich. »Bisher herrschte hier ein angenehmes Gleichgewicht zwischen uns und den Peelern. Jetzt ist es zerstört.«

Bob ließ seine Faust sinken und lächelte mich an, und wir ritten langsam über den Marktplatz zum Stall.

Und ebenso langsam schlenderten wir zurück zu meinem Haus in der Chapel Street. Die Steinfalken der Ardmorschen Tore hatten ihre blicklosen Augen auf uns gerichtet. Die Stadt wirkte jetzt etwas weniger freundlich, und das Schlimmste von allem war mein Gefühl, daß Bob und ich, und nicht die Polizisten, hier das mißtönende Element waren.

Es war ein Gefühl, das immer stärker wurde, als wir das Haus betraten, Ned war in der Küche gewesen, aber unsere Schritte riefen ihn sofort herbei. Einen Moment lang schien er der Hausvater zu sein und Bob und ich die Besucher. Das Feuer im Wohnzimmer war erloschen, und die Luft war kalt. Ned trug den schwarzen Anzug, der ihm fast als Uniform diente, und hatte eins meiner Halstücher umgebunden. Seine glatten Haare waren ungekämmt, und ihretwegen und wegen seiner langen Wangen und hohen Wangenknochen sah er mehr denn je aus wie ein Indianer aus den amerikanischen Ebenen.

»Kilpeder ist sprunghaft angewachsen«, sagte Bob ohne Vorrede. »Hugh und ich können die Stadt offenbar nicht eine Nacht lang unbeaufsichtigt lassen.«

»Fünfzehn«, erwiderte Ned. »Berittene Polizei. Sie sind gestern nachmittag gekommen, in ihren Umhängen, die Karabiner über die Schultern gehängt. Sie haben einen eigenen Sergeant, aber ein Inspektor war auch dabei, um sie Honan zu übergeben.«

»Die Armee selber steht in Kerry«, erzählte Bob. »Sie sind von Limerick Junction aus nach Süden gegangen.«

»Wir haben Glück, daß sie nicht auch hier sind«, sagte Ned. »Sondern nur Peeler.«

»Nur Peeler«, wiederholte Bob mit trügerischer Sanftheit.

»Wir haben wirklich genug zu tun«, sagte Ned. »Von jetzt bis zum festgesetzten Tag.«

»Bis zum Sechsten, meinst du«, sagte Bob in demselben lässigen Tonfall, und Ned starrte ihn einen Moment lang wütend an, dann lächelte er.

»Ja«, erwiderte er. »Bis zum Sechsten. Bis zur Nacht des Fünften, um ganz korrekt zu sein. Aber wir greifen am Sechsten an, nach der Dämmerung. Sie reden wohl sehr gern, da unten in Kerry.«

»Das ist ihnen schon immer nachgesagt worden«, sagte ich.

»Wir haben das Datum nicht von jemandem aus Kerry erfahren«, erklärte Bob, »sondern von einem Yank wie dir. Einem Mann namens Reilly. O’Connor versteckt sich in Iveragh, und seine Männer sind versprengt.«

Ned nickte, lehnte sich dann an den Bücherschrank, umfaßte seine Ellbogen mit den Händen und hörte zu, lauschte Bobs Bericht über alles, was wir in Killarney erfahren hatten. Besser gesagt, was Bob erfahren hatte, denn es überraschte mich, wie aufmerksam er gewesen war; er hatte sich die Abzeichen verschiedener Regimenter gemerkt und wußte noch genau, was wir gesehen und gehört hatten. Die Einrichtung des Zimmers, sicher und behaglich, schien seine Worte zu tadeln, als ob er Soldaten und Pferde durch die enge Tür hereingebeten hätte.

»Aber weder Reilly noch Timoney wissen, warum er seine Leute auseinandergejagt hat«, sagte Bob. »Und die Patrouillen ziehen sich bis hin zu den Derrynasaggarts. Wir sind an einer vorbeigekommen, aber sie haben uns nicht aufgehalten.«

»Gut«, sagte Ned, fast gleichgültig. »Kommt mit in die Küche, ihr beiden.« In der Tür blieb er stehen und fügte hinzu: »Hugh, bring den Examiner mit.«

Die Zeitung war offen über dem Sessel ausgebreitet, in dem ich meine Abende zu verbringen pflegte, beim Feuer, und die Seite, auf die mein Blick fiel, sah irgendwie fremd aus, eine Spalte neben der anderen über ein einziges Ereignis, einige Abschnitte waren in dickeren Buchstaben gesetzt als die übrigen. Ich zog mein Brillenetui aus der Brusttasche und setzte die Brille auf. Einer der kühn hervortretenden Abschnitte schwamm in mein klarer gewordenes Blickfeld, wie ein Fisch, der aus trübem Wasser an die klare Glaswand seines Aquariums schießt.

»Sie waren schmutzig, zerlumpt, geschwächt und zitterten«, las ich, »als ob die Armenfürsorge die Skelette aus ihren Krankenstationen auf die Kais von Dublin geschafft hätte. Sie trugen die seltsamste und buntest zusammengewürfelte Kleidung, und doch hatten die meisten von ihnen Geld, und es wurde auch eine große Anzahl von Revolvern gefunden, die sie auf der Flucht weggeworfen hatten. Der Anblick, den sie boten, war eine seltsame Mischung aus Wildheit und Erbärmlichkeit. Die Menge der rüpelhaften Zuschauer, die das Schauspiel angelockt hatte, stieß vereinzelte Rufe rebellischen Trotzes aus, die diese geschlagene und hoffnungslose Fenier-›Armee‹ jedoch nicht beachtete.«

Gnädiger Gott, dachte ich, was ist das für eine Katastrophe? Und ich faltete die Zeitung wieder zusammen, um die erste Seite lesen zu können. Dort gab es zwei Artikel, jeder mit seiner Schlagzeile in großen, schwarzen Lettern, und keine von beiden sagte mir etwas, und ich konnte auch keinen Zusammenhang zwischen beiden erkennen. Ein Artikel behandelte die Festnahme von über hundert Rebellen in den Docks von Dublin, die soeben von der Fähre aus Liverpool an Land gegangen waren. Der andere Artikel berichtete über den »gewagten« und »verbrecherischen« Versuch der irischen Fenier, Chester Castle zu besetzen. Und das verblüffte mich nun wirklich, denn das einzige Chester, von dem ich je gehört hatte, lag irgendwo in England. Ich vergaß meinen Auftrag, ließ mich in den Sessel fallen und schob mir die Brille höher auf die Nase.

Vage sah ich in meiner Vorstellung eine Burg wie die, die Sage und Lied uns beschert haben, massiv, von Türmen gekrönt, in einsamer Eminenz, während wilde Wogen sich an den Felsen ihrer Fundamente brachen. Was hatte solch eine Zitadelle mit den düsteren Vogelscheuchen auf den Kais von Dublin zu tun?

Freundlicherweise lieferte der Examiner mir eine Erklärung, wie er das schon so oft in der Vergangenheit bei weniger wichtigen Fragen getan hatte. »Hätte die Konspiration ihr kompliziertes Ziel erreicht«, teilte er mir mit, »dann wären die Folgen äußerst schwerwiegend gewesen. Mindestens 10000 Gewehre und ein großer Vorrat an Munition befinden sich im Arsenal der Burg. Die Rebellen, die fast 1000 Mann stark waren, hatten sich in den vergangenen Tagen in Liverpool versammelt, das 15 Meilen nördlich von Chester liegt, und sie hatten den sorgfältig entwikkelten Plan, in Holyhead die Fähre an sich zu bringen und die Eisenbahn und andere Kommunikationsmittel zu zerstören. Drogheda an der irischen Ostküste war ihr geplanter Zielhafen, und in dieser Stadt ist von der Polizei eine große Anzahl Fenier verhaftet worden.«

Stärker noch als meine Erkenntnis einer Katastrophe waren meine Gefühle von Verwirrung und Furcht. Wir hatten natürlich immer gewußt, daß es irgendwo, weit entfernt von den Hügeln von Cork, ein Direktorat oder einen Obersten Rat gab, oder wie immer dieses Gremium sich nun, jeden Monat anders, gerade nennen mochte. Und wir hatten gewußt, daß es uns auf irgendeine Weise, vielleicht durch Zauberei, mit Waffen versorgen würde. Vielleicht hatten wir in unserer Unschuld angenommen, daß sie aus Amerika kommen würden, riesige Dampfer, bis zum Bersten vollgestopft mit glänzenden, geölten Gewehren. Ich machte mich wieder über den Examiner her, konnte aber dem Gelesenen keinen Sinn entnehmen. Dann fiel mir ein, daß ich ihn schließlich nur in die Küche zu bringen brauchte.

Und so geschah es, daß wir, aus den vertrauten Seiten des Examminer, vom fehlgeschlagenen Überfall auf Chester Castle erfuhren, durch den Waffen für den Aufstand besorgt werden sollten. In den folgenden Wochen lieferten die Illustrated News und ähnliche Zeitschriften ihren englischen Lesern die dazugehörigen Bilder, und Chester Castle war keine romantische Bastion mehr, abgesehen von seinem einen erhaltenen Turm, sondern eine düstere Ansammlung von nützlichen Lagerhäusern und ähnlichem, und unsere Fenier wurden als häßliche, verworfene Bande dargestellt, aus deren Arbeiterjacken Revolverläufe hervorlugten. Für den Moment jedoch war meine Phantasie auf ihre eigenen Produkte angewiesen.

Ned und Bob standen nebeneinander in der Küche, sie hatten die Generalstabskarte auf dem Tisch ausgebreitet und hielten Teetassen in den Händen. Bob hatte seinen Mantel aufgeknöpft, ihn jedoch noch nicht ausgezogen. Ich hielt ihnen die Zeitung hin, aber Ned hob seine Augen nicht von der Karte, es war Bob, der mir die Zeitung abnahm. Es war jedoch offensichtlich, daß Ned ihm bereits das Wesentliche erzählt hatte.

»Soldaten« las Bob laut vor, »wurden in den Stunden vor dem geplanten Überfall mit der Bahn nach Chester geschafft und bezogen Stellung, um jegliche feindliche Handlung der Insurgenten zurückzuschlagen.«

»Hervorragende Stellung«, sagte Ned. »Unsere Jungs hatten nur Revolver. Es wäre ein verdammtes Gemetzel gewesen. Irgendwo steht, daß sie fünftausend Soldaten hingeschickt hatten.«

»Der Tee ist frisch aufgegossen, Hugh«, sagte Bob und übernahm Neds Aufgabe, mich in meinem eigenen Haus in Sicherheit zu wiegen.

»Wußtest du von diesen Plänen, Ned?« fragte ich.

»Wir sollten vor dem festgesetzten Tag bewaffnet werden«, antwortete Ned. »Mehr habe ich nicht gewußt.«

Bob legte, wie um sich zu wärmen, beide Hände um seine Tasse. »Das ist verdammter Unsinn, Ned. Mörderischer Unsinn. Und das müßte dir auch klar sein. Wenn diese Gewehre in Drogheda an Land gebracht worden wären, dann wären sie im Osten verteilt worden. Vielleicht wäre an deinem verdammten festgesetzten Tag Dublin eingenommen worden. Aber die Gewehre hätten niemals den Weg in die Midlands gefunden, ganz zu schweigen von Kerry oder Galway. Reilly, unten in Killarney, scheint sich einzubilden, daß Waffen von irgendwoher in Cahirciveen an Land gebracht werden sollten. Das hätte uns geholfen«, fügte er in einem Tonfall von offenem Sarkasmus hinzu.

»Das hätte es wirklich«, sagte Ned, den Sarkasmus ignorierend. »Vielleicht hat O’Connor deshalb die Küstenwache überfallen. Vielleicht hat O’Connor Befehle ausgeführt, über die wir alle nichts wissen. So arbeitet die Organisation nämlich.«

»Jetzt werden keine Waffen in Kerry an Land gebracht werden«, sagte Bob. »Und O’Connor braucht sehr viel Glück, um mit heiler Haut aus Irland herauszukommen.«

Ich hatte kaum Appetit auf Tee, aber ich goß mir eine Tasse ein, um etwas zu tun zu haben. Ned mochte seine Verdienste als Captain haben, als Teekoch war er dagegen ein Fehlschlag. Schwach und blaß war dieses Gebräu.

»Wir haben noch knapp zwei Wochen Zeit«, sagte Bob. »Und ihr wißt, in welcher Lage wir uns befinden. Kleine Bauern und Landarbeiter mit ein paar Entenflinten.«

»Warum sollte ich nicht wissen, in welcher Lage wir uns befinden? Ich habe schließlich das Kommando über Kilpeder, Bob Delaney, das solltest du lieber nicht vergessen.«

»Ich beneide dich nicht um deinen hohen Rang«, erwiderte Bob. »Was schlägst du vor?«

»Seltsame Frage, Bob. Du weißt doch, was wir vorhaben. Früh am Morgen des Sechsten werden wir die Polizeiwache übernehmen und dann nach Norden marschieren. In Millstreet werden wir uns einer weitaus größeren Streitmacht anschließen.«

»Ohne Waffen«, sagte Bob, »und obwohl Honan fünfzehn Mann Verstärkung bekommen hat. Die nicht geschickt, sondern von einem Inspektor hierhergebracht wurden, bei Gott. Dublin Castle hat sich endlich in Bewegung gesetzt.«

»Nicht ohne Waffen«, widersprach Ned. »Als ich euch beim erstenmal in Knockmany versammelt habe, habe ich euch versprochen, daß wir nicht unbewaffnet losschlagen werden. Und das werden wir auch nicht. Wir müssen etwa siebzig Männer versorgen; die Baronie selber wird die Versorgung übernehmen.«

Und so wurde über Teetassen in der Küche eines Schulmeisters die große Waffenaktion von Kilpeder geplant, »Nolans Beute«, wie es in dieser elenden Ballade heißt. Bob und Ned beugten sich wieder über die Karte und gingen sie Zoll für Zoll durch, wobei Bob die Linien und Punkte in Farmer und Güter und Namen von Personen übersetzte. Er kannte sie nicht alle selber, ebensowenig wie ich, aber er kannte recht viele und konnte damit Neds Plan auf die Sprünge helfen. Bald darauf kam Mary von irgendeinem Besuch nach Hause, krempelte die Ärmel auf und fing an, uns eine richtige Mahlzeit zu kochen. Eine Stunde später kam Vincent, gerade rechtzeitig, um mit uns zu essen. Was Mary, die uns ihren Rücken zukehrte, von unserem Gespräch hielt, kann ich nur erraten, aber sicher hörte sie nichts Angenehmes, als unsere räuberischen Taten geplant wurden, egal, wie sehr die Notwendigkeit diese auch rechtfertigen mochte.

Aber Vincent war uns eine große Hilfe. Schon damals, als junger Mann, kannte er sich im Sportleben der Baronie sehr gut aus und wußte, wer unter dem Landadel als guter Schütze bekannt war und wer in der Armee gedient hatte. Die Vorstellung, daß sie uns mit den Mitteln für unseren Krieg versehen sollten, fand er ausgesprochen komisch, und er machte sich an die Aufgabe, als ob es sich dabei selber um einen Sport oder wenigstens ein Spiel handelte. »Saunders also«, sagte er und tippte mit einem langen weißen Zeigefinger auf die Karte, »den habe ich in den Arms prahlen hören, daß seine Gewehrsammlung diesseits von Mallow nicht ihresgleichen hat, seine Waffen sind wunderschöne Geschöpfe, die ein Waffenschmied in London speziell für ihn entworfen hat. Ich wollte sie immer schon mal ausprobieren.« Zu diesem Zeitpunkt seiner Laufbahn wurde er nur in einer Handvoll der Häuser des Adels empfangen, meistens Häuser ausschweifender unverheirateter Krautjunker, wilder, trunkfreudiger Gesellen. In späteren Jahren war das alles ganz anders.

Vom Anfang bis zum Ende hat Ned Vincent wohl niemals riehtig eingeschätzt, glaube ich. Ned hatte eine grobe Art von Humor und lachte manchmal über die komischen oder albernen Seiten menschlicher Angelegenheiten. Aber im Grunde nahm er das Leben ernst und wägte ständig Gewißheiten ab, die schwer waren wie Blei oder Gold. Und zuviel von Vincent erschien ihm als Schaum und Neckerei, silberne Taschenflaschen und geblümte Westen, Gerede über Frauen und Pferde. Darin irrte er, glaube ich, weil er so viele Jahre fern von diesem Land verbracht hatte, denn nach allem, was man über sie hört oder liest, sind die Amerikaner ein nüchternes und fleißiges Volk, die an ihren wichtigen Erfindungen arbeiten und ihre von Indianern bevölkerte Wüste erobern. Die Vincents dieser Welt jedoch sind aus demselben Stoff, aus dem unser Nationalcharakter zugeschnitten ist, und wir kennen sie gut. Man findet sie beim Pferderennen, die Hüte zurückgeschoben und Zigarren zwischen weiße, regelmäßige Zähne geklemmt. Oder sie sitzen am Kamin einer Gastwirtschaft bei einer Schüssel voll dampfendem Punsch gegen die Kälte des Winters zusammen. Vor allem aber sieht man sie an einem rostroten Morgen auf der Jagd, in ihren Tweedanzügen und ihren hohen, mit Kletten besetzten Gamaschen, wenn ihr Geschrei sich mit dem Kläffen der Hunde vermischt. Und wir wissen, daß sich unter Schaumschlägerei und Geplänkel vielleicht nichts befindet, nur eine Menge leerer Luft. Oder aber ein eisenharter Wille und die Gerissenheit eines gehetzten Fuchses.

Auf jeden Fall brach Ned voller Ungeduld alle pikanten Anekdoten ab, die Vincent über die Leute erzählen wollte, die ausgeraubt werden sollten – »eine Abgabe für die nationale Sache«, wie Ned sich taktvoll ausdrückte. Ihn interessierten nur Vincents Überlegungen, was für Waffen wir wohl finden und welche ihrer Besitzer wahrscheinlich Widerstand leisten würden. Vincent nahm ihm das nicht übel. Er genoß Ned, so wie er fast alle neuen Erfahrungen genoß, einen nie vorher gekosteten Sherry oder das Eintreffen einer neugekauften Zuchtstute in der Baronie. Bob machte sich über alles, was wir zusammentragen konnten, Notizen, und als wir damit fertig waren, beugten er und Ned ihre Köpfe wieder über die Karte und arbeiteten unseren Aktionsplan aus.

So einfach lief das alles ab, die Planung von »Nolans Beute«, »der Waffenaktion von Kilpeder« – nennt es, wie ihr wollt. Zwei Stunden Arbeit, und dann das Essen, das Mary während dieser ganzen Zeit vorbereitet hatte, die Karte wurde sorgfältig zusammengefaltet und beiseite gelegt, die schmutzigen Tassen mit kaltem Tee wurden in die Spülküche getragen, und die blauweißen Porzellanteller wurden vor uns hingestellt. Wie weit Gedanken und ihre Folgen voneinander entfernt sind, erstaunt mich immer wieder, und deshalb habe ich zweifellos einen gesetzten häuslichen Beruf gewählt. Für Ned und Bob war alles erledigt, als sie die erfolgversprechenden Häuser ausgesucht und auf der Karte gekennzeichnet und ein wenig darüber gesprochen hatten, wer die einzelnen Gruppen anführen sollte, und sie machten sich über ihr gekochtes Geflügel her. Für sie stand nichts so fest wie die Tatsache, daß ihre Pläne zur Wirklichkeit reifen würden, wie diese japanischen Kügelchen, die man ins Wasser fallen läßt, wo sie sich zu Pflanzen und kleinen mißgestalteten Drachen entfalten.

Und so geschah es natürlich drei Nächte später auch. Dieselbe Karte wurde auf Laffans grobem Tisch ausgebreitet, in der dunklen Nacht, deren Schwärze nur von den Sternschnuppen der Laternen der Wachtposten durchbrochen wurde. Es war eine Aufgabe, die die ganze Nacht in Anspruch nahm und die bis zur Morgendämmerung anhielt. Jede Abteilung hatte ihre Route zugewiesen bekommen, vier oder fünf oder eine halbes Dutzend Häuser, und als sie zurückkehrten, wurden sie, wenn sie ihre Zeit richtig und effektiv ausgenutzt hatten, dadurch belohnt, daß sie noch einmal losgeschickt wurden. Jede Gruppe mußte über einen oder gar zwei Fehlschläge berichten. In Rosalis war, trotz allem Gegenteiligen, das Bob und Vincent angenommen hatten, keine einzige Waffe vorhanden, obwohl eine Woche früher zwei Entenflinten zur Reparatur nach Cork geschickt worden waren. Und Summit’s Eye, die baufällige Farm eines Krautjunkers namens Nagle, war nach Aussage einer Abteilung besser befestigt als ein Oxhoft, gerade so, als ob Nagle schon mit Ärger gerechnet hätte. »Wir hätten mit viel Zeit und Geduld die Tür einschlagen können«, sagte Kennedy, der Anführer dieser Gruppe. Dann fügte er vernünftig hinzu: »Aber zum Teufel damit, haben wir gesagt.«

Unser Erfolg konnte sich jedoch sehen lassen. Zu viert und fünft und sechst wurden alle Arten von Gewehren und Schrotflinten in Laffans Hütte gebracht. Jede wurde zuerst von Ned und dann von Vincent untersucht und auf einen der ordentlichen Stapel in der hintersten Ecke des Zimmers gelegt. Daneben, auf einer umgedrehten Kiste, lagen die kleinen hölzernen Munitionsdosen. Einer fehlte der Deckel, und ich steckte die Finger hinein und betastete die kühlen, öligen Patronen mit ihren schwarzen düsteren Spitzen. Es gab auch etliche Pistolen und ein paar Revolver, selbstherrlich in ihrem Aussehen, als ob sie mehr als ihre Besitzer über explosive Todesarten wüßten. Und es gab sogar, wunderschön in dunklem Walnußholz untergebracht, oben und unten von verblichenem blauen Samt eingerahmt, ein Paar Duellpistolen, deren lange, breite Läufe graviert waren. Der Boden des Kastens war ihrer Form angepaßt. Diese Pistolen kamen aus dem Haus der Barringtons in Glencairn an der Straße nach Millstreet, deren Vater und Großvater in jenen Tagen auf dem Felde der Ehre berühmt gewesen waren, als niemand gewagt hatte, sich als Gentleman zu bezeichnen, der nicht auf seinen Widersacher gefeuert und seinerseits an einem kühlen, nebligen Morgen im Feuer gestanden hatte, während Sekundanten und der Arzt bereitstanden und Flaschen mit Brandy und Kaffee in der Kutsche warteten.

Ferdy Lynch, der den Kasten von den Barringtons zu uns brachte, setzte ihn geradezu ehrfürchtig auf die auf dem Tisch ausgebreitete Karte, wo er viele Acres bedeckte. Es war klar, daß der arme Junge diese Pistolen für den Hauptfang der Aktion hielt, obwohl sogar mir klar war, daß diese Pistolen für uns sinnlos waren, komplizierte Gegenstände mit Rädchen und geheimnisvollen Vorrichtungen. Mir erschienen sie als hochmütige und bösartige Sendboten aus der Welt, die wir herausfordern wollten, einer Welt, die hundert Pfund für zwei Stück mörderisches Spielzeug vergeuden konnte.

Ned jedoch nickte Lynch mit mehr Takt und guter Laune zu, als ich ihm zugetraut hätte. »Wirklich schöne Waffen«, sagte er. Lynch hatte, wie einige andere auch, für die Arbeit dieser Nacht sein Gesicht geschwärzt, seine Züge waren rußverschmiert, und wenn er lächelte, dann waren seine starken Zähne weiß wie vom Regen saubergespülter Marmor. Seine war eine der letzten Gruppen, die zurückkehrten, und obwohl das Zimmer immer noch dunkel war und nur von der tropfenden Talgkerze beleuchtet wurde, so wurde es vor dem schmutzigen Fenster doch inzwischen bereits hell. Wir waren alle müde und nicht mehr richtig wach, und als Ned leise den Deckel aus dunklem, glattem Holz über den Duellpistolen zugeklappt hatte, rieb er sich mit den Fingerknöcheln die Augen.

Er war offensichtlich mit der Arbeit dieser Nacht zufrieden, und dazu hatte er auch allen Grund. Nach Bobs Buchführung hatten wir die Kolonne von Kilpeder bewaffnet, mit Gewehren, Schrotflinten, Revolvern, und hatten noch ein oder zwei Armvoll Waffen übrig für neue Rekruten, die sich uns vielleicht anschließen würden. Wie sich später herausstellen sollte, war unseres vielleicht das erfolgreichste Unternehmen des Aufstandes von 1867, und zweifellos war das der Grund, warum es so oft in der erbärmlichen Kneipendichtung späterer Jahre auftauchte, zusammen mit Clonbrony Wood und O’Neills Schlacht unten an der Küste und der wilden Schießerei, die Crowley kurze Zeit später in Limerick veranstalten sollte. Damals jedoch, während der ganzen langen Nacht, kam es uns überhaupt nicht wunderbar vor. Vielleicht, weil Ned so gelassen blieb und seine Gruppen losschickte, wie man Straßenarbeiter losschickt, die eine Straße reparieren sollen. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, daß wir anderen alle wirklich keine Ahnung hatten, worauf wir uns eingelassen hatten, und uns blind darauf verließen, daß ein Soldat aus Amerika die Fäden und Zügel großer Strategie in Händen hielt.

Die allerletzte Gruppe, die zurückkehrte, war die von Matty Brennan, eine kleine Abteilung, denn zwei seiner Jungs, zwei Brüder, hatten sich davongemacht, als sie auf dem Rückweg an ihrer eigenen Farm vorbeigekommen waren. »Na, und da kann man ihnen wirklich keinen Vorwurf machen«, sagte Matty entschieden, »wo sie doch den Rauch von ihrem eigenen Herd sehen konnten und wußten, daß ihr alter Vater auf sie wartete.« Bob nickte und lud Matty zu einem Napf von Laffans Brei ein, den Laffan seltsamerweise selber kochte, statt diese Aufgabe seiner Frau anzuvertrauen. Es war sehr guter Brei, heiß und dick, mit dem Geschmack des Morgens. Als er die Näpfe füllte, gab er in jeden eine Eierschale von seinem Whiskey, einen Stich Butter und einen Schluck Milch.

Ich ging mit meinem Napf nach draußen, um der stickigen, stinkenden Hütte zu entkommen. Jetzt befanden sich nur noch wenige von uns auf dem Hügel, die ganze Nacht hindurch waren Gruppen von Männern aus- und eingegangen, schwitzend und fluchend, hatten auf den Boden gespuckt und es kaum für nötig befunden, ihre Spucke mit ihrem Stiefelabsatz zu zertreten. Ihre Anwesenheit war noch zu spüren, und sie besudelte die Luft. Sie mochten zwar Soldaten der Republik Irland sein, aber Laffans Hütte war in dieser Nacht von der Zeit losgelöst gewesen, und wir hätten allesamt Ribbonmen sein können, oder die Whiteboys des vergangenen Jahrhunderts, Viehhirten und Spalpeensk, die düstere, blutige Rache planten. Zumindest für einige, von den Männern war es in dieser Nacht nicht so sehr darum gegangen, die Kolonne von Kilpeder zu bewaffnen, sie hatten den Großgrundbesitzern eins auswischen wollen, zum erstenmal seit vielen Jahren.

Um die Wahrheit zu sagen, hatte ein Teil von mir es ebenso empfunden. In Gedanken hatte ich einen dunklen Salon gesehen, unsichtbar die eleganten Sessel und Sofas auf ihren zierlichen Beinen, die Ofenschirme mit Petit-point-Stickerei; bedrohlich an der Wand die Scherenschnitte und Portraits von Vätern und Großvätern, kalt, steif, herrisch; Silber und Zinn auf der Anrichte. Rufe, Schläge an die Eingangstür, dann eine neugierige Kerze im Treppenhaus, die Türbolzen entfernt, die Tür zuerst einen Spalt breit geöffnet, dann weit aufgestoßen. Und vor der Tür, in der kalten Nachtluft, in der Welt, die immer fremd ist, wenn man ihr um Mitternacht begegnet und gerade aus dem Schlaf gerissen worden ist, Matty Brennan und seine Männer, dunkle Kleider und geschwärzte Gesichter. Ohne ein Wort dringen sie in die Halle ein. Für den Hausbesitzer ist es ein ererbter Alptraum: mordlustige Bauern, die sich aus vom Nebel verhüllten Mooren erhoben haben. Nicht Matty Brennan, der anständigste und sanfteste Mann, den man im Umkreis von hundert Meilen finden kann, sondern eine Moorkreatur, schlimmer noch als die, die sich hinter ihm zusammendrängen. Und Matty Brennan seinerseits sieht nicht Samuel Soundso von Gut Diesunddas, schlicht, sorglos, gutmütig, sondern einen Großgrundbesitzer, der allen Grund zur Angst hat, der um seinen Salon voller Goldbronze-Uhren und Petit point und prahlerischer Erbstücke fürchtet. In all diesen Jahren waren düstere Leidenschaften in uns am Werk, die später in den Tagen des Landkrieges wieder aufbrachen. Ich selber kann mich am wenigsten davon freisprechen.

Die Welt des Morgens vor Laffans Hütte jedoch war über solche Sorgen erhaben. Sie alle lagen irgendwo hinter dem verschlungenen Strang von Boreens, hinter den Weiden, die noch vollgesogen waren vom leichten Regen der Nacht. Keine andere Hütte war zu sehen, und als ich Gewehren und Revolvern meinen Rükken zukehrte, schien ich ganz Irland für mich zu haben. Alle Dunkelheit war weggeblichen worden, und die Landschaft lag in nasses, perlfarbenes Licht gebadet da. Es ließ das harte, rauhe Grün des Grases und die schwarzen, glänzenden Felsen weicher werden. Die Boreen, die von unserer Hütte wegführte, schlängelte sich zwischen Hecken und schlanken Bäumen hindurch, Ebereschen und Brombeeren, blattlos jetzt in diesem Monat vor dem Frühling; Weit weg, zu meiner Linken, lag ein kleines Moor, an das die Nebel sich noch klammerten, hinter dem Moor jedoch traf unerwartetes Licht auf das blasse Silberband eines Baches. Und, am weitesten entfernt, immer noch dunkel, weit im Westen, lagen die Derrynasaggarts, die uns vor dem Meer schützten. Es war eine lautlose Welt – kein Brachvogel schrie, kein schneller Flügelschlag störte den tiefhängenden, wolkenreichen Himmel.

Für kurze Zeit Herr über eine menschenlose Welt, stand ich da, ich weiß nicht, wie lange, sicher einige Minuten, lang genug jedenfalls, um meinen Porridge von der Luft abkühlen zu lassen. Wie oft kommt es vor, daß man das Universum für sich hat, und wie leicht ist es zu erlangen, wenn man lange genug mit dem Zubettgehen wartet oder aufsteht, ehe die anderen sich gerührt haben! An diesem Morgen jedoch, und vielleicht, weil wir die Nacht auf diese Weise verbracht hatten, fühlte ich mich von Geheimnissen bedrängt und war äußerst verwundert über unser einsames Unternehmen. Wer waren wir, fragte ich mich, mit welchem Recht tobten wir durch die Nacht, plünderten wir Häuser aus und brachten wir Gewehre an uns, mit denen wir Polizisten und Rotröcke erschießen wollten? Und wer waren sie, die im Land hin- und hermarschierten und uns für eine Königin und ein Parlament in einem fernen Land unterworfen hielten? Die Antworten lagen irgendwo in dem Anblick, der sich mir hier bot und der Irlands Aussehen und Wesen ausmachte, der die Sinne so beeindruckte wie ein in der Dämmerung über das Tal tönendes gälisches Lied, der Anblick eines Torfstechers, der im Abendlicht nach Hause geht, oder die verwitterten Steine einer zerstörten Abtei, die sich vor dem Horizont abhebt. So gehen wir in der Einsamkeit mit uns selber zu Rate, und was dabei herauskommt, sind abgefeuerte Gewehre und Männer, die mit schrecklichen Wunden zu Boden sinken.

Zum Glück jedoch wurde ich mit diesen Überlegungen nicht allein gelassen, denn nun kamen auch die anderen aus der Hütte, zuerst Bob und Vincent zusammen, redend und lachend. Bob wirkte weder müde noch schläfrig, er freute sich über das, was wir geschafft hatten, wie ein Schneekönig, und er rieb in der beißenden Kälte des Morgens temperamentvoll seine Hände aneinander.

»Bei Gott, Hughie«, sagte er zu mir, »du siehst ja aus wie Prinz Hamlet, der wie eine schwarze Krähe auf den zerfallenden Wällen Dänemarks hockt.«

»Unten im Queen’s College gibt es einen Professor«, erzählte Vincent, »der glaubt, daß Shakespeare Ire war. Wie hätte er denn sonst so große Poesie schreiben können? Ein interessanter Gedanke. Tommy Moore war ein großer Dichter und ein Ire. Der Professor verfügt da wirklich über mächtige Logik.«

Er hatte seinem Etui aus blutrotem Marokkoleder eine Morgenzigarre entnommen, die er nun mit seinem eleganten kleinen Feuerzeug ansteckte, wobei er die Flamme hin und her bewegte und sanft an der Zigarre zog.

»Er hat aber keine besondere Zuneigung zu den Iren, dieser Shakespeare«, sagte ich, »wenn er überhaupt an uns denkt. Wilde Krieger mit verfilzten Haaren. Hat Queen’s College das auch bedacht?«

»Tarnung«, erwiderte Vincent. »Spuren verwischen. Gibt vor, der Sohn eines Gerbers aus Stratford zu sein.«

»Hör sich einer das an«, sagte Bob. »Ihr beide. Da haltet ihr eine gelehrte Konversation, und hinter euch steht Laffans Hütte, bis zum Dach vollgestopft mit Feuerwaffen.«

Doch während er das sagte, konnte seine Stimme seine Zufriedenheit nicht verhehlen, und Vincent und ich grinsten uns an, als wir das bemerkten. Ich frage mich, ob Vincent damals die Quellen dieser Zufriedenheit erraten hat, die ich erst lange Zeit später durchschaute. Seit unserem Ritt nach Kerry hatte das Problem mit den Waffen ihm zu schaffen gemacht, und es war eine große Erleichterung für ihn zu wissen, daß wir sie jetzt hatten und daß sie bei Laffan in Sicherheit waren. Aber ich glaube, das war noch nicht alles. Unsere Aktion ist als »Nolans Beute« in die Säge eingegangen, aber es war genau so sehr Bobs Verdienst wie Neds. Bob hatte die Gruppen ausgesucht, hatte ihnen mit Gewalt und Schmeichelei klargemacht, worum es überhaupt ging, hatte ihnen bei ihrer Rückkehr schon an der Tür gratuliert und sie zum Kamin geführt, wo sie von der Kälte der Nacht und der Dunkelheit befreit wurden.

Vincent ging zu einem von Laffans Grenzsteinen, einem flachen grauen Quader mit Flecken von verblichener weißer Tünche, und betrachtete ihn geistesabwesend, als ob er versuchte, sich an etwas zu erinnern.

»Jetzt ist der festgesetzte Tag wirklich nahe gerückt.« Dieses eine Mal lag in seinem wohlklingenden Tenor keine Spur von Neckerei.

»Sehr nah«, sagte Bob und blickte zurück zur Hütte. In diesem Moment kamen die letzten, Ned und Pat Dunphy, gefolgt von Laffan, zu uns heraus.

Neds schwerer Mantel hing offen und lose von seinen Schultern, und er hatte wie immer die Hände in den Taschen vergraben. Er muß genauso zufrieden gewesen sein wie Bob, aber seine Züge, sein mageres Gesicht und seine tiefliegenden Augen verrieten das nicht. Laffan, ein unordentlicher Mann mit wenig ausgeprägten Zügen, hielt einen Krug in der Hand. Er hatte uns in der Nacht gute Dienste geleistet und würde das auch in Zukunft tun, aber ich mochte ihn nicht leiden. Er bewegte sich zu einer abgehackten und barbarischen eigenen Musik, die diese einsame Gegend, die Gesellschaft von Hasen und Schnepfen für ihn aufspielten.

»Wir könnten wohl alle einen Schuß davon brauchen«, sagte Ned und nickte zum Krug hinüber, und Laffan zog den Stöpsel heraus und reichte Bob den Whiskey. Bob warf einen überraschten Blick auf Ned, setzte den Krug an den Mund, trank, wischte die Öffnung dann ab und reichte den Krug an Vincent weiter. Als ich an die Reihe kam, nahm ich zuerst einen kleinen, vorsichtigen Schluck, aber es war eins von Laffans besseren Produkten, sanft wie geschmolzene Perlen, und ich gönnte mir einen guten Schluck und dann noch einen, um den ersten herunterzuspülen.

Wir standen in einem ungleichmäßigen Kreis, wir sechs, und der Augenblick hatte etwas Rituelles, als der Whiskey herumgereicht wurde. Wenn eine Schnepfe oder ein Brachvogel über uns gekreist wären, dann hätten sie uns für klein und unbedeutend gehalten, sechs Männer, die neben einer Hütte standen, während sich in alle Richtungen die endlosen Weiden und Moore hinzogen und sich bis zu den Bergen erstreckten. Unsere Stimmen, die so zuversichtlich und stark schienen, als wir einander auf dem Boden gegenüberstanden, würden im Schweigen der höheren Luftschichten untergehen.

Ned trank als letzter, nachdem Dunphy ihm den Krug gereicht hatte, den er dann, nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, Laffan zurückgab. Laffan schob den Stöpsel wieder in den Krug, drehte uns den Rücken zu und ging mit schwerfälligen Schritten zurück in die Hütte.

»Die Männer brauchen zwei lange Durchgänge, um Gefühl für die Waffen zu bekommen«, sagte Ned. »Danach fängt das Exerzieren richtig an. Laß sie kommende Nacht ausruhen, Bob, und bring sie dann in der nächsten Nacht wieder hierher. Danach kann jeder seine Waffe mitnehmen und zu Hause weiter üben, und dann treffen wir uns am Donnerstag in Knockmany wieder. Kannst du dafür sorgen?«

»Kann ich«, antwortete Bob. »Pat Dunphy und ich können dafür sorgen.«

»Die meisten von den Jungs haben in dieser Nacht zum erstenmal ein Gewehr angefaßt«, sagte Dunphy.

»Das war mir durchaus bekannt«, erwiderte Ned. »Ich kann ihnen in einer Stunde alles erzählen, was sie wissen müssen.«

»Ja, Sir«, sagte Dunphy mit argem Zweifel in der Stimme.

»Ich geb euch mein Wort«, erklärte Ned. »Wir brauchen Gewehre und Männer, die damit losballern, keine Scharfschützen.«

Bob, wie ich bemerkte, machte ein ebenso spöttisches Gesicht wie Dunphy, sagte jedoch nichts dazu.

»Was wir in dieser Nacht geschafft haben, wird in Kilpeder für große Aufregung sorgen«, sagte er.

»Die Aufregung hat wahrscheinlich schon eingesetzt«, sagte Ned. »Honan von der Polizei wird in den nächsten Stunden alles erfahren, und dann erfährt es der Distriktsinspektor, und diese Herren werden es nach Cork und Dublin drahten. Dann solltet ihr besser zu Hause sein. Du kannst dich schon mal auf Sergeant Honans scharfe Fragen vorbereiten, Hughie.«

Ned schien das Vorlesen eines Buchkapitels zu beenden und zur nächsten Seite weiterzublättern. Seine Augen blinzelten unter den schweren Brauen zu mir herüber. Es war ein Buch, das nicht neu geschrieben werden konnte. Diese Nacht war unwiderruflich.

»Was soll ich ihm denn erzählen, Ned?«

Er zuckte die Schultern. »Er wird dir doch kein Wort glauben. Ich habe gestern abend bei dir gegessen, und dann bin ich weggegangen. Seitdem hast du mich nicht wieder gesehen. Vielleicht verhaftet er dich, vielleicht auch nicht. Ich bezweifle es eigentlich. Bob und Vincent wird nichts passieren. Davon bin ich überzeugt.«

»Angenehme Neuigkeiten«, sagte Vincent mit kläglicher Stimme, und er und ich tauschten einen Blick. Er hielt immer noch seine Zigarre zwischen den Lippen, aber sie brannte nicht mehr.

»Sie werden hier den Ausnahmezustand verhängen«, sagte Bob. »Aber das wird eine Weile dauern. Es muß in Dublin beschlossen werden. Bis dahin muß es Haftbefehle und einen begründeten Verdacht und das alles geben.«

»Sie werden ihn bestimmt verhängen«, sagte Ned. »Das hier kommt zu kurz nach O’Connors Geschichte unten in Kerry, von dem uns nur die Berge trennen. Flicken aus derselben Decke.«

Vincent und ich, ganz zu schweigen vom armen Dunphy, waren wie Schulkinder, die eine Unterhaltung von Lehrern belauschen, bei der Fragen behandelt werden, die unser Verständnis bei weitem überschreiten. Mir ging es jedenfalls so. Vincent, wie ich beobachtete, verbarg hinter seiner erloschenen Zigarre ein leichtes Lächeln.

»Um ganz ehrlich zu sein«, sagte Vincent, »ich würde mich außerhalb der Stadt wesentlich sicherer fühlen.«

Ned zögerte, ehe er antwortete, dann nickte er. »In Ordnung«, sagte er. »Du kannst hier bei mir bleiben, wenn du möchtest. Was Laffan betrifft, kann ich nichts sagen. Aber du nicht, Bob, und Hughie auch nicht. Ich brauche euch an Ort und Stelle, unten in Kilpeder, egal, wie hoch das Risiko für euch auch sein mag.«

»Darauf kannst du dich verlassen«, erwiderte Bob. »Hugh und ich, wir müssen unser tägliches Brot verdienen. Wir sind keine Gentlemen-Abenteurer wie ihr zwei.«

Und damit hatte er allerdings recht. In wenigen Stunden würde ich vor meinen kleinen Schurken stehen, die Fibel in der Hand, die Rute in Reichweite, um jegliche Erhebung der Knechte zu unterdrücken, während Bob sich seine adrette grau-weiß gestreifte Schürze um die Taille binden und sich um die Bedürfnisse von Tullys Kunden kümmern würde. Diese Vorstellung konnte das Gefühl von Unwirklichkeit, das mich gepackt hatte, nicht vertreiben. Ist es wahrscheinlich, fragte ich mich, daß Irland von Schulmeistern und Ladenschwengeln befreit werden wird? Oder von sturen, verwirrten Bauernburschen wie Pat Dunphy, oder von Junkerimitationen wie Vincent? Irgendwann, vielleicht in einem Jahrhundert, mochte der Anblick, den wir im Moment boten, einen hübschen Stahlstich ergeben, die Fenier von Kilpeder versammelt vor einer Hütte in den Bergen, mit Bächen und Hügeln im Hintergrund, ruhige Entschlossenheit prägt unsere Züge. Aber die simple Wahrheit war, daß Vincent nicht die Polizei fürchtete, sondern den Zorn Dennis Tullys, und wer hätte ihm das verdenken können? Ich selber stellte mir voller Verzweiflung vor, wie meine Mary Sergeant Honan die Tür öffnete und wie seine mit Karabinern bewaffneten Männer sich hinter ihm drängten.

Ein Blick auf Ned konnte diese böse Vorahnung jedoch weitgehend zerstreuen. Nicht nur, weil er fähig und entschlossen war, sondern auch, weil er zu uns als Sendbote der Organisation gekommen war, deren Netz sich über das ganze Land gelegt hatte und deren Zentren in Dublin und London und Manchester und New York saßen. Ich glaube, daß Ned in diesen Wochen für uns alle eine überlebensgroße Bedeutung hatte. Er verkörperte für uns das, was damals immer als »die Sache« bezeichnet wurde, ein Terminus, der heute altmodisch klingt, obwohl Politiker ihn immer noch lieben. »Die Sache, für die die Fenier in den Bergen gekämpft haben und gestorben sind«, erzählen sie uns, wenn sie unsere Stimme wollen – O’Brieniten und Redmonditen und Healyiten und all die anderen. Ich habe mich ihrer Werbung immer entzogen, obwohl ich kurze Zeit als einer der Kämpfer aus den Bergen, wie sie uns dann nannten, sehr gefragt war. Damals war alles ganz anders. Vielleicht lag es daran, daß wir jung waren.

»Nun, Captain Nolan«, sagte Bob, als wir uns von ihm und Vincent verabschiedeten. »Du kannst auf eine Nacht guter Arbeit zurückblicken. Wir haben einen guten Anfang gemacht.« Er griff nach Neds Hand. Die beiden standen einen Moment lang in dieser Position und blickten einander in die Augen. Sie hatten Verständigungsmöglichkeiten, die mich einfach ausschlossen.

»Grüß Kilpeder von mir«, trug Vincent mir auf. Er wirkte so munter wie eh und je. Es sah fast aus, als ob er beschlossen hätte, das Wochenende bei einem Freund zu verbringen, in der Hoffnung auf einen Morgen voller Jagdglück.

Als Bob und Pat und ich ein Stück die Boreen hinabgegangen waren, wandte ich den Kopf, um einen letzten Blick auf sie zu werfen. Vincent war nicht zu sehen. Vielleicht war er in die Hütte zurückgegangen, um sein neues Quartier zu inspizieren, Gott sei ihm gnädig. Ned stand halb von uns abgewandt da, eine schlaksige Krähe von einem Mann. Er schaute nach Norden, in Richtung Millstreet, bewegungslos wie eine Statue.

»Ein guter Anfang«, sagte ich zu Bob und zitierte damit seine eigenen Worte, die er zu Ned gesagt hatte.

»Hier«, erwiderte Bob. »Hier hat es gut angefangen. In Kilpeder.« Mehr sagte er nicht.

Bei der Kreuzung nach Killoughter verabschiedete sich Pat, um die fünf oder mehr Meilen zu seiner Farm zu Fuß zurückzulegen. »Wir sind jetzt für den festgesetzten Tag gerüstet, Bob, nicht wahr?« sagte er.

»Das sind wir wirklich«, antwortete Bob, »wenn wir erst einmal gelernt haben, wie wir mit diesen Donnerbüchsen und Pferdepistolen und tragbaren Kanonen umzugehen haben.«

Dunphy lachte, mit weit gespreizten Beinen, und stemmte die Hände auf seine kräftigen Hüftknochen. »Eins steht fest, Bob«, sagte er, »wenn alle Kolonnen solche Kommandanten haben wie Nolan, dann wird unser armes Land frei sein.«

Aber als wir beide dann unter uns waren, fragte ich Bob unverblümt: »Was ist los mit dir?« Jetzt war es klarer Morgen, helle, funkelnde Luft, der blaßblaue Himmel wurde nur von wenigen Wolken durchbrochen, die sehr hoch hingen und flauschig wie Watte waren.

»Gar nichts«, antwortete Bob, wandte seinen Blick von mir ab und ließ ihn über ebene Weiden zu einer Hütte in der Ferne schweifen. »Rein gar nichts, außer panischer Angst und bösen Vorahnungen.« Dann lachte er und drehte sich wieder zu mir um, um sich von der Wirkung seiner Worte zu überzeugen.

»Du zitterst nicht«, sagte ich zu ihm, »jedenfalls nicht so, daß es zu sehen wäre.«

»Das ist auch nicht meine Art«, erwiderte er, und das stimmte. »Er ist nicht so beschaffen wie wir anderen«, sagte er, »wie du und ich und Vincent. Er ist wie einer dieser Revolver, die jetzt bei Laffan liegen.«

Als Bob das sagte, befand ich mich wieder im Hinterzimmer meines Hauses, damals in der ersten Nacht, und Ned, der noch ein Fremder für mich war, hielt in der Hand den amerikanischen Revolver, wuchtig, aus dunklem Metall, mit seiner großen, mörderischen Mündung.

»Das brauchen wir«, sagte ich, und Bob nickte geistesabwesend.

»Aber sicher«, stimmte er zu, und wir wanderten eine Weile in geselligem, besorgtem Schweigen weiter. Aber seine Worte brachten andere Gefühle in mir zum Klingen, und sie versetzten dem hellen Morgen einen Dämpfer.

»Wir haben ein faire Chance«, sagte Bob, eher zu sich selber als zu mir. »Und auf mehr haben wir nie gehofft, eine faire Chance.« In Wahrheit hatten wir jedoch auf sehr viel mehr gehofft. Vor zwei Jahren, an einem milden Nachmittag im März, als wir nach Cork gereist waren, um den Eid abzulegen, war viel von Männern und Gewehren und Gold die Rede gewesen, die aus Amerika zu uns herüberströmen würden, wenn der große Krieg dort drüben erst einmal vorbei war. Und noch letztes Jahr hatten die loyalistischen Zeitungen sich in die Panik hineingesteigert, die Waffen könnten schon in Irland sein, zusammen mit Tausenden von Soldaten, während die Agenten der Fenier die Moral unserer irischen Jungen in den britischen Regimenten zersetzten. Eine der großen illustrierten Zeitungen Londons hatte eine ganze Seite für einen phantasievollen Stich reserviert, auf dem ein Dampfschiff in einer wilden, einsamen Bucht im Westen beidrehte; schwarze Sturmwolken hingen am Horizont, und massive, unheilschwangere Berge drängten bis an den Strand vor. Boote ruderten zum Schiff hinaus, um die geölten und in riesige, sarggroße Kästen verpackten Gewehre zu übernehmen. Und das alles war so sehr geschrumpft, daß es in Laffans Hütte paßte, geschrumpft zu Neds Abteilungen, die eine Armladung von Entenflinten durch die weite, sternlose Nacht trugen, während schwache Laternen ihnen den Weg wiesen.

Nun aber war Tageslicht, der Duft nassen Grases hing in der Luft, und Bob und ich konnten der ganzen Welt als zwei müßige junge Burschen erscheinen, die über die Landstraße nach Kilpeder gingen. Die Straße ist immer noch vorhanden, natürlich, warum auch nicht, und in späteren Jahren bin ich sie oft gegangen und habe mir diesen Morgen in Erinnerung gerufen. Die Straße ist noch vorhanden, die Weiden, die schwarz grauen Zäune und entweder noch dieselben Hütten oder ihre Nachfolgerinnen. Es ist die Vergangenheit, die verschwunden ist, meine eigene Vergangenheit und die des Landes.

Es gibt Menschen, die die Ereignisse, zu denen wir noch kommen werden, als »glorreichen Mißerfolg« bezeichnet haben und sie in die rosagetönten Nebel der Sage hüllen, hinter denen die sich bewegenden Gestalten nur vage erahnt werden können. Und es gibt andere, die sich darüber lustig machen und die uns, die in Limerick und Tipperary und West Cork losgezogen sind, als unwissende und unbesonnene Leute schmähen, betrogen von gefühllosen und halbbetrunkenen Abenteurern, betrogen wie die Dienstmädchen in New York und die Hafenarbeiter von Liverpool, wenn sie ihre verdreckten und zusammengefalteten Dollarscheine spendeten, ihre verschmierten Schillinge, damit die Fenierführer sicher und angenehm im Hotel ihrer Wahl logieren konnten. Gelehrte und vernünftige Historiker werden uns zweifellos eines Tages in einer bis jetzt noch unvorstellbaren Perspektive sehen, schwarze Ameisen allesamt, die durch das Säulengebälk der Geschichte krabbeln – Fenier und Polizisten und Soldaten und Großgrundbesitzer und Landarbeiter.

Nur einmal, und dann nur für einige Wochen, hat mein Leben das Leben der Geschichte gestreift. Für Ned Nolan und Bob Delaney war es anders. Sie waren gezeichnete Männer: Die Geschichte hatte sie in Besitz genommen. Aber ich sollte in die Geschichte hinein- und dann wieder herausgetrieben werden, ein Mann, geschaffen für die Obskurität, so wie andere für große Unternehmungen geschaffen sind. Sind meine unbedeutenden Erinnerungen nicht der Beweis dafür? Ich erinnere mich an Bob und mich auf unserer Morgenwanderung nach Kilpeder, an die Luft, die sich unter der aufgehenden Sonne erwärmte, an den Straßenstaub, an vereinzelte Schlüsselblumen am Straßenrand, an die Türme der Stadt in der Ferne, und an die silberhelle Sullane. Bobs Laune besserte sich, als wir uns der Stadt näherten, obwohl er immer noch besorgt war, und er fing an zu pfeifen, eine Melodie, die ich nicht wiedererkannte. Es konnte jede von den vielen klagenden, quälenden Melodien sein, die wir Städter mit den irischsprachigen abgelegenen Gegenden der Boggeraghs identifizierten, Melodien, die auf der Fiedel gekratzt oder von der unbegleiteten Stimme vorgetragen werden. Solche Melodien, selbst wenn sie munter oder temperamentvoll sind, haben doch immer auch die Einsamkeit von Mooren und farnbewachsenen Hügeln, eine reizvolle und anziehende Melancholie.

Endlich hatten wir die letzte Straßenkreuzung vor der Stadt erreicht, die sich auf einer leichten Anhöhe befindet, und zwischen uns und dem Marktplatz lag nur noch ein Spaziergang von zwanzig Minuten. Wir blieben stehen, Bob wandte sich zu mir um und zitierte Tom Moore falsch, den Favoriten unserer Donnerstagabende, wenn wir um das Klavier standen, Bob und Vincent und ich selber, während Mary vor dem Instrument saß und ihre Hände über die Tasten flogen und Kerzen zu ihren beiden Seiten sanft leuchteten. »The Valley lay smiling before us«, sagte Bob und lächelte mich an, als ob er meine Erinnerung teilte, die Noten der Melodie und das flackernde Kerzenlicht miteinander verflochten, und unsere Stimmen hielten uns in Freundschaft verbunden. Von unserem Standpunkt aus konnte ich unser Haus sehen, warm und lockend, weit weg von Laffans einsamem Berghang und der Arbeit der Nacht, die hinter uns lag. Es war jedoch die Arbeit dieser Nacht, die in der Erinnerung weiterleben sollte, in der Baronie und weit über ihre Grenzen hinaus, da die menschliche Natur nun einmal so ist, wie sie eben ist.

In search of arms he sallied forth, brave Dunphy at his side,

»Rise up, rise up, ye Fenian men, defeat we’ll not abide.

With weighty lead and dauntless steal, we’ll face them as we should.«

Thus Nolan bold, ’neath green and gold, marched towards Clonbrony Wood.

So ist es zweifellos mit den Annalen aller Nationen. Schulmeister und Ladengehilfen und Krautjunker in ihren Westen mit Zweigmuster sind kein Stoff für Balladen, anders als die Revolverhelden, die auftauchen und wieder verschwinden, und die gutherzigen jungen Burschen, die am Ende des Gefechtes auf dem harten Boden liegen und den Schnee mit ihrem Blut beflecken.

Pächter der Zeit

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