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[Hugh MacMahon]

Wenn ich wüßte, wo ich anfangen soll, dann wäre ich vielleicht ein gelehrter Historiker wie der junge Mr. Prentiss, dessen Einspänner ich vom Tor aus nachsah, bis er schließlich außer Sichtweite gerollt war und mich in meiner Welt allein und einsam zurückließ. Und doch muß ich einfach glauben, Logik und Geschichte zum Trotz, daß es für mich an jenem Winterabend Ende Januar 1867 anfing, als zur Teezeit Ned Nolan zum ersten Mal an die Tür unseres Hauses in der Chapel Street klopfte.

Die Straße lag bereits im Dunkeln, so kurz sind für uns im Winter von Munster die Tage, und hinter ihm ragten die beiden Türme von St. Jarlath unten an der Straße in den Himmel. Er war ein dunkler Bursche, an dem nur seine Größe und sein schwerknochiger Körperbau unsere Verwandtschaft andeuteten, und doch wußte ich sofort, wer er war. Wir erwarteten ihn schon seit Wochen, und Fremde kamen selten nach Kilpeder und nie in unser Haus, abgesehen von den jährlichen Besuchen des Schulinspektors. Ich sehe ihn noch vor mir, ein langes Gesicht unter dem weichen schwarzen Hut, ein langes Kinn und hohe, grobe Wangenknochen wie die eines Indianers, tiefliegende Augen, so dunkel wie sein Hut, und lange, dünne Lippen. Er hielt seinen Koffer am Griff, einen riesigen, ausgebeulten Koffer, der aus einem weichen Material hergestellt war. »Ich bin dein Vetter Ned Nolan«, sagte er. »Ich bin aus Amerika zurück.« Als Willkommensgruß packte ich seinen Arm mit meinen beiden Händen und zog ihn ins Haus. Die Straße hinter ihm war wie ausgestorben.

Aber ich bezweifle, daß diese lebhafte Erinnerung wirklich zutrifft, denn wie hätte ich in der Dämmerung und unter seiner breiten Hutkrempe seine Augen so deutlich sehen können? In Wirklichkeit konnte ich ihn erst, als ich ihn ins vordere Zimmer geführt und er seinen Hut abgenommen hatte, um Mary zu begrüßen, klar sehen. Und Mary konnte sich später an nichts Dramatisches an ihm erinnern, sie sah einen großen, schlaksigen jungen Burschen in Kleidern von amerikanischem Schnitt, mit braunen, eckigen Stiefeln, von der Reise mitgenommen und dringend einer Waschgelegenheit und einer Mahlzeit bedürftig. Da haben wir den Unterschied zwischen Mary und mir, und wir sollten uns auf Marys klaren Kopf verlassen.

Und Mary war es, die ihn in die Spülküche führte und ihn mit Wasser, Seife und Handtuch versorgte, während sie sich in der Küche an die Vorbereitungen zum Tee machte. Sie war immer noch damit beschäftigt, als er wieder ins Wohnzimmer kam, und ich hatte inzwischen Flasche und Gläser hervorgeholt, damit er den Reisestaub herunterspülen könnte.

»Bist du aus Cork zu uns gekommen, Ned?« fragte ich ihn.

»Aus Dublin«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Zuerst London, dann Manchester, dann das Boot von Liverpool nach Dublin. Aber ich habe die letzten zwei Nächte in Cork City verbracht«

»Eine schöne Stadt«, sagte ich, »die weite Lee und die Kathedrale und der viele Verkehr auf dem Fluß.« Aber was war Cork schon für jemanden, der in New York gelebt hatte und weit in den Vereinigten Staaten herumgekommen war? Er hatte den größten Teil seines Lebens in New York verbracht, aber in seiner Sprache war nur ein haarfeiner Nachklang von einem Yankee-Akzent, er sprach mit derselben Melodie und demselben Rhythmus wie ich.

»Wir haben dich erwartet«, sagte ich, »und du bist herzlichst willkommen. In deinem eigenen Zuhause könntest du nicht mehr willkommen sein.«

»Das ist mein Zuhause«, erwiderte er. »Kilpeder ist mein Zuhause.« An der Tür hatte er zu mir gesagt: »Ich bin aus Amerika zurück.« Als ob er vor einem Jahr nach drüben gegangen wäre, um sein Glück zu machen, und nun zurückkäme. Aber vielleicht stimmte das auch, überlegte ich mir, wenn er drei Jahre in der Nordstaatenarmee gewesen war, wie es hieß, während sein Vater in New York gestorben war.

»Wir wissen, daß dein armer Vater uns verlassen hat«, sagte ich. »Es tut mir so leid für dich. Mein eigener Onkel, und ich kann mich kaum an ihn erinnern. Ich war so klein wie du, als ihr beide Segel gesetzt habt. Aber meine Mutter hat natürlich oft von ihm erzählt, und viele andere auch.«

»Ja«, sagte er.

»In der Nation war ein wunderschöner Artikel über ihn und die Beerdigung. Ich habe ihn aufbewahrt. Eine Prozession in New York, mit O’Mahoney und Doheny und den anderen, und drei Flaggen, der Trikolore, der US-Flagge und dem Sonnenaufgang. Einer der Unerschütterlichen von 48, so hat O’Mahoney ihn am Grab genannt, jedenfalls hat er etwas in der Art gesagt, einer der Treuen und der Wahren.«

»Das weiß ich«, erwiderte Ned. »Es stand auch in den irischen Zeitungen von New York, und sie sind mir alle zugeschickt worden.«

»Natürlich«, sagte ich, obwohl ich momentan verwirrt war. »Du warst ja im Krieg.«

»Stimmt«, sagte er. »Ich war im Krieg.«

»Das war aber sehr hart von ihnen«, meinte ich. »Daß sie dir keinen Urlaub gegeben haben. O’Mahoney war doch auch in ihrer Armee, oder nicht?«

»Als Colonel«, erklärte Ned. »Als Kommandant eines Regimentes. Er bewachte gefangene Rebellen am Hudson, eine Zugstunde von New York entfernt. Ich war weit weg, in Tennessee.«

Tennessee. Das war eins dieser Wörter, die unsere Vorstellung von Amerika formen. Shenandoah, Susquehanna, indianische Wörter mit dem Geschmack von Kiefernwäldern, Bergbächen, Prairien, die sich endlos zu riesigen, orange leuchtenden Sonnen hinzogen. Und in den letzten paar Jahren war diese Vorstellung geschwärzt vom Kanonenrauch, von Stichen in den Londoner Zeitschriften, die in Flüssen kämpfende Kavallerie zeigten, mit tödlichen, weit ausholenden Säbeln, Brustwehren und schwere Batterien von Artillerie zogen sich zum Horizont hin, Infanterie rückte über verwundete Erde vor, vorbei an Bäumen mit toten Zweigen. Banner und Bajonette und der reiche, würzige Duft indianischer Namen.

»Als wir nach New York zurückkamen«, sagte er, »nach Kriegsende, bin ich als erstes zu seinem Grab gegangen. In einer der Zeitungen hatte gestanden, es gäbe eine Subskription für einen Grabstein, aber es gab nur den mit Gras bewachsenen Erdhügel und eine Karte, die an einem Metallstab befestigt war, und auf der Jahr und Geburtsjahr und Geburtsort standen. Auf dem Erdhügel lag ein Kranz, schwarzgefärbtes Weinlaub mit einem grünen Band.«

»Nun ja«, sagte ich und reichte ihm sein Whiskeyglas. »Seine Freunde haben ihre Dollars wohl für einen anderen Zweck gegeben, wenn du weißt, was ich meine. Er wäre damit einverstanden gewesen.«

»Das wäre er allerdings«, erwiderte Ned und lächelte zum erstenmal, und ich sah ihn so, wie er war – kein Fremder in schwarzem Mantel vor dem Abendhimmel, sondern ein junger Mann, nicht älter als ich selber, verlegen in einem ihm fremden Land, auch wenn er es als seine Heimat bezeichnete. Er prostete mir zu.

»Vor ein paar Jahren war in der Nation ein Lied von ihm«, sagte ich. »Das habe ich auch aufbewahrt. ›Our new Ireland beyond the waves‹, hat er es genannt. Kilpeder ist immer stolz auf Thomas Justin Nolan gewesen. Ein Getreuer von 48, wie der Mann gesagt hat.«

»Sie haben ihm eine Arbeit beim Wasserwerk von New York besorgt«, erzählte Ned. »Er mußte Rechnungen überprüfen, danach bekam er eine bessere, bei der Gesellschaft, die die Flußfähre nach Jersey betreibt. Er hat elf Dollar die Woche verdient, und wir hatten ein Zimmer bei den Kais.«

Ich schwöre bei Gott, ich war nie auf die Idee gekommen, daß er wie jeder andere seinen Lebensunterhalt hatte verdienen müssen. In meiner Vorstellung hatte ich ihn immer als Redner auf einer mit grünem und orangem Fahnentuch dekorierten Tribüne gesehen, oder an einem Schreibtisch, an dem er »Our new Ireland beyond the waves« verfaßte.

Ned schien meine Gedanken gelesen zu haben. Er lächelte immer noch. »Das war nicht sein wahres Leben«, sagte er. »Sein wahres Leben begann um sechs, wenn er sich mit seinen Freunden in ihrer Stammkneipe treffen konnte, und in den letzten beiden Jahren vor dem Krieg war ich alt genug, um mitzugehen. Und es gab dauernd Komitees und Veranstaltungen und so etwas. Für ihn stand immer ein Stuhl auf der Tribüne, aber er wurde nur selten gebeten zu sprechen. Ich weiß noch, wie er einmal, als ich noch klein war, Thomas Francis Meagher vorgestellt hat, und Meagher beschrieb, wie er und die anderen aus der Strafkolonie in Van Diemens Land entkommen waren.«

Thomas Francis Meagher, das war nun wirklich ein Name, der Wunder wirkte, und sofort vergaß ich Neds armen Vater. Meagher vom Schwert, so wurde er in der Nation immer genannt, und sie brachten Stiche von ihm, ein gutaussehender Mann mit Uniform und Schnurrbart.

»Und John Mitchel«, sagte ich. »Ob dein Vater wohl John Mitchel gekannt hat?«

»In den letzten Jahren nicht mehr«, antwortete Ned. »Mitchel hat für die Südstaaten gekämpft.« Er zuckte die Schultern.

Er leerte sein Glas, als ob es mit Wasser gefüllt wäre, und ebensowenig Wirkung zeigte sich bei ihm, und ich schenkte ihm abermals ein. Beim Reden schweiften seine Augen durch das Zimmer, und ich überlegte mir, daß er zwar nach Hause gekommen sein mochte, daß er sich aber trotzdem in einem fremden Land befand. Er musterte die schweren Vorhänge, die vorgezogen waren, um den Abend auszuschließen, den Bücherschrank, das glühende Torffeuer, die braune Matte vor dem Kamin, den rot-blau gemusterten Teppich, die Drucke und Stiche an den Wänden und eines der beiden Ölgemälde, mit denen wir prunken konnten, der Zusammenfluß des oberen und des unteren Sees in Killarney, blaues Wasser, umrahmt von Eiche und Myrte, im Hintergrund die schöne Brücke mit den drei Bögen, Ich glaube jetzt, daß einem Fremden von Übersee das, was uns als am meisten vertraut und tröstlich erscheint, besonders fremd vorkommen muß, unsere Art, uns in unseren kleinen Zimmern gegen den Winter zu schützen, mit rotem Feuer und vorgezogenen Vorhängen und dicht zusammengeschobenen Sesseln.

Aber dann sagte er unvermittelt: »Als ich ankam, bin ich an Tullys Laden vorbeigegangen. Da arbeitet doch Robert Delaney, oder?«

»Stimmt«, antwortete ich. »Und da lebt er auch, in einem Zimmer über dem Laden, Tully überläßt ihm das als Teil seines Lohns.« Ich war nicht überrascht über sein Wissen, denn Bob war der Leiter unseres Zirkels in Kilpeder und war deshalb der Mann, zu dem Ned Kontakt aufnehmen mußte.

»Ich muß mit ihm reden, sobald sich das machen läßt«, sagte Ned. Und bei diesen Worten, oder eher durch ihren Tonfall, spürte ich im Zimmer die aufdringliche Anwesenheit von etwas, das hart und kalt war wie Metall.

Jetzt war ich mit Lächeln an der Reihe. »Das ist alles schon abgesprochen. Bob kommt heute abend her zum Tee. Der Laden hat jetzt Feierabend, aber er hat noch zu tun, und dann kommt er her.«

»Ihr beide seid also befreundet?«

»Stimmt, und Bob ist oft zum Tee hier. Wir sind eng befreundet, er und ich und Vincent Tully.«

»Tully vom Laden?«

»Der Sohn«, antwortete ich. »Der alte Dennis hat nichts mit der Organisation zu tun, und wenn er über Vincent Bescheid wüßte, dann würde er ihm bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Aber er hat sicher seinen Verdacht. Es ist eine kleine Stadt.«

»Das habe ich bemerkt«, sagte Ned.

»Wir drei haben gemeinsam den Eid abgelegt«, erklärte ich. »Vor zwei Jahren, wir waren in Cork, und den Eid abgenommen hat uns…«

»Ich weiß, wer euch den Eid abgenommen hat«, fiel Ned mir ins Wort.

In diesem Moment brachte Mary einen Teller Butterbrote, gegen den ärgsten Hunger, und unser Gespräch wanderte zu anderen Themen – den hohen Häusern von New York und den Beschwernissen einer Seereise im Winter. Mir war sofort klar, und so blieb es dann auch, daß er Mary gegenüber auftaute, denn es gelang ihr sehr gut, Menschen aus sich herauszulocken und ihnen ihre Spannungen zu nehmen. Bei Ned hatte sie allerdings allerlei zu tun, er saß steif und unbeholfen da, hatte in einer Hand ein Stück Brot, die andere ruhte auf seinem Knie. Aber Mary redete drauflos, sie beugte sich in dem kleinen Sessel, der für sie reserviert war, vor, eine schmucke, adrette Gestalt in ihrem braunen, in der Taille eng anliegenden Kleid, und ihr Lächeln und ihre großen braunen Augen lockten ihn ins Gespräch.

Das gelang ihr, in dem sie ihm das Amerika beschrieb, das in unser aller Vorstellungen existierte, zum Teil geschaffen von Washington Irving und Fenimore Cooper, vor allem aber von den Briefen, die die vielen, die in den Jahren der Hungersnot übers Meer geflohen waren, zu Hunderten in jeden Teil Irlands schickten, bis unsere Vorstellung ein Gewirr von jungfräulichen Wäldern und Rothäuten in Mokassins geworden war, von ankernden Schiffen mit hohen Masten und Straßen, die von allen Rassen der Welt nur so wimmelten – von Portugiesen und Iren, Russen, Chinesen, Schweden. Lebhafte Sprache lag ihr sehr, und ihre Erzählung wäre eines Essays von Elia würdig gewesen und hatte auch dessen drollige Ironie, was Ned aber noch nicht klar war.

Aber dann kam Bob, und ich stellte die beiden einander mit dem Stolz eines Entdeckers vor. So klar, wie ich das Zimmer, in dem ich hier sitze, vor mir sehe, so sehe ich die beiden sich zum erstenmal gegenüberstehen, Ned groß und schwarz gekleidet, Bob mittelgroß, aber kompakt gebaut, kantiges, gleichmäßiges Gesicht unter kurzgeschorenen sandfarbenen Haaren, seine Augen so blau wie Neds Augen dunkel waren. Ihr Handschlag war Geschichte – nicht Patrick Prentiss’ Unversitätsgeschichte aus großartigem glatten Marmor, von Staatsmännern und Statuten und ausgerollten Karten von auf weiten Ebenen ausgefochtenen Schlachten, sondern die Geschichte unserer zukünftigen Leben, ihres, Marys und meines und das einiger Dutzend anderer.

»Wir haben Sie schon lange erwartet«, sagte Bob und bediente sich meiner Formulierung.

»Ich bin so gut wie ein anderer«, sagte Ned und zuckte die Schultern. »Es war vernünftig, mich zu schicken. Hugh MacMahon und ich sind schließlich Vettern. Es wird kaum Aufsehen erregen, wenn ich hier einen Besuch mache.«

Bob schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich mich nicht verlassen, Mr. Nolan. In den letzten Monaten haben die Polizei und die Gerichte großes Interesse an Besuchern aus den Staaten gezeigt. Dieser Bursche unten in Cahirciveen hat sich auch als zurückgekehrter Einheimischer ausgegeben. John O’Connor.«

»Sie sind hier in Kilpeder sehr großzügig, was das Nennen von Namen betrifft«, sagte Ned. »Das ist mir bereits aufgefallen.«

Bob lachte ihm ins Gesicht. »Die Polizei in Cahirciveen weiß wesentlich mehr über John O’Connor als ich. Er steht jetzt in Iveragh unter Aufsicht, damit er nicht verhaftet werden muß. Aber sein Zirkel ist intakt. Bisher ist kein Kriegsrecht verhängt worden, aber das ist nur eine Frage von Wochen.«

»Wenn es noch Wochen dauerte, dann würden die Briten uns damit ein schönes Geschenk machen. Ehe es so weit ist, haben die Bastarde dringendere Probleme als schnödes Kriegsrecht.« Er schien Marys Anwesenheit ganz vergessen zu haben, denn er war ein Mann, der in der Anwesenheit von Frauen seine Zunge hütete.

Ich sah sie lächelnd an, aber sie bemerkte das nicht. Ihre beiden Hände lagen dicht nebeneinander auf der Sessellehne, und sie beobachtete die beiden, die sich da gegenüberstanden, Ned, den wir noch nicht kannten, und Bob mit dem lebhaften, wachsamen Selbstvertrauen, das ihn bis weit über die Lebensmitte hinweg begleiten sollte und fast ein Teil seiner Haltung geworden war, wie bei einem Boxer, die Schultern so breit wie möglich, den Kopf nach hinten geworfen.

»Sie bringen also Neuigkeiten, Mr. Nolan«, sagte er, »und die sind uns so willkommen wie Sie selber.« Und als Ned nichts darauf erwiderte, fügte er hinzu, »Neuigkeiten, die lange unterwegs gewesen sind. Verdammt lange.«

Auch darauf kam von Ned keine Erwiderung, statt dessen zog er ein großes, zusammengefaltetes Papier aus der Brusttasche und reichte es Bob. »Sie müssen mein Beglaubigungsschreiben überprüfen«, sagte er. »Sie hätten schon längst danach fragen müssen.«

Bob las, wobei er das Papier dicht an die grüne Lampenglocke auf dem Tisch hielt. »Captain Nolan«, sagte er und reichte es an mich weiter.

»Irish Republican Brotherhood«, stand oben auf dem Blatt, in elegantem Druck, und darunter befand sich eine Harfe mit dem Motto: »Es wird neue Saiten geben«. Die Handschrift war ausgefeilt und lässig, die Schrift eines Buchhalters, und sie wies Captain Edward Nolan an, sich in die Stadt Kilpeder im County Cork zu begeben und dort das Kommando über alle Zirkel zu übernehmen, die derzeit von Robert Delaney befehligt wurden, der von nun an den Posten des Vizekommandeurs einnehmen sollte. Captain Nolan sollte Stärke und Integrität seines Kommandos beibehalten, sollte mit den Männern exerzieren, die verfügbaren Waffen verteilen und die Männer in deren Bedienung unterweisen. Er sollte sofort und gründlich alle weiteren Befehle ausführen, die durch die entsprechenden Kanäle zu ihm gelangten, und nur diese Befehle. Es stand noch viel mehr da, aber ich machte mir nicht die Mühe, es zu lesen – die Schönschrift füllte die Seite fast bis zum Rand, aber vereinzelte Wörter, auf die mein Auge fiel, machten einen ausgesprochen kriegerischen Eindruck.

Gewohnheitsmäßig reichte ich das Papier an Mary weiter, aber Ned verlangte es zurück. »Sie haben keine Fragen zu diesem Papier, Mr. Delaney?« fragte er, und als Bob den Kopf schüttelte, beugte er sich vor und legte es auf die wütenden roten Torfsoden im Kamin. Einen Moment lang hatte es an diesem grellen, gespenstischen Leben teil, dann wurde es zu brüchiger, schwarzer Asche. So kam es zu uns, und so verließ es uns, Harfe und Schönschrift gleichzeitig, abrupte Eindringlinge, ausgesandt von einem fernen, unsichtbaren Generalissimo in Dublin oder sogar, wie die Ereignisse noch zeigen sollten, in Manchester. Die Integrität des Kommandos, bei Gott. An die hundert Landarbeiter, Bauernsöhne, Säufer, mit denen wir in mondhellen Nächten im Ödland hinter Knockmany exerziert hatten, eher, um die Moral aufrechtzuerhalten, als um militärische Fähigkeiten zu vermitteln, wobei die Hälfte von ihnen gekichert hatte und alles offenbar für eine Art nächtlichen Mummenschanz hielt.

»Keine Fragen zu dem Papier«, sagte Bob, »und es war auch kaum nötig. Wir brauchen dringend einen Soldaten für die Aufgabe, die vor uns liegt, keinen Ladengehilfen wie mich. Ich habe sehr viele Fragen an Sie, aber die beziehen sich nicht auf das Papier.«

Mit der unüberlegten Vertrautheit eines Freundes der Familie griff er zum Whiskeykrug und füllte unsere drei Gläser aufs neue. Seine Erleichterung war wirklich echt, wie ich nur zu gut wußte. Er kommandierte schon damals gern nach eigenem Gutdünken Männer und Dinge herum, angefangen von den Waren auf Tullys Regalen, aber die Aufgabe, die vor uns lag, hatte uns beide, und auch Vincent, überfordert. Wir hatten in einem Buchladen bei den Kais in Cork die Übersetzung eines Waffenhandbuches gefunden, das ein Franzose verfaßt hatte, der behauptete, in Napoleons Grande Armée gedient zu haben, und nachts saß Bob damit fluchend auf seinem Zimmer. Und dazu hatte er auch allen Grund, denn was auf dem weiten Weideland bei Leipzig oder Austerlitz sicher sehr nützlich war, half uns in den Wiesen hinter Knockmany nur sehr wenig. Im Laden hatte es auch die einfacheren englischen Handbücher gegeben, aber Bob wollte mit dem Feind nichts zu tun haben. »Aber alles in allem«, hatte ich einmal ihm gegenüber bemerkt, »scheint Wellington doch gewußt zu haben, was er tat.«

»Wellington war Ire«, sagte Bob.

Die Reinheit unseres Patriotismus, ganz zu schweigen von unserem Fanatismus! Und doch sehe ich es jetzt, im warmen bernsteinfarbenen Licht der Erinnerung, als Unschuld, weil es ein Teil unserer Jugend war. Und Patriotismus und Fanatismus waren durchsetzt von Inkonsequenzen, die wir zu übersehen vorzogen. Schließlich ritt Bob doch immer wieder auf der titanischen Energie der englischen Fabrikanten herum, im Gegensatz zu unseren eigenen schlaffen Handwerkern und Kaufleuten, um sie dann im nächsten Atemzug als seelenlose Materialisten zu brandmarken, mit Höllenfeuersätzen, die er bei Thomas Carlyle gefunden hatte, der nun wiederum ein treuer Gefolgsmann von Königin und Empire gewesen war. Und was mich betraf, galt nicht meine eigene besondere Liebe den Dichtern Englands, Wordsworth und Keats und Tennyson? Und vielleicht sah der Generalissimo in Manchester sich als zweiten Marlborough.

»Ich bin drei Jahre lang Soldat gewesen«, sagte Ned abwertend, um den Ton zwischen uns aufzulockern. »Und das ist wirklich alles, was ich vorweisen kann.« Er hob feierlich sein Glas, erst zu Mary gewandt, dann zu uns beiden anderen. »Nein, das stimmt nicht. Ich habe zwei Jahre bei der Fährgesellschaft gearbeitet, bei der mein Vater angestellt war. Ich habe die Boote vertäut, die nach Weehawken hinüberfuhren.«

Wo immer das liegen mochte. Zweifellos auf der Seite von New Jersey, vor den weiten Wäldern und Prairien, in denen die Roten ohne Sattel herumritten wie die Akrobaten. Aber lockere Unterhaltung fiel ihm nicht leicht; es war allein die Höflichkeit, die ihn zur Geselligkeit zwang. Es war Mary, wie immer, die an diesem Abend das Zimmer lichter machte.

»Wir können jetzt essen«, sagte sie, »und ich hoffe, es ist nur die erste von vielen Mahlzeiten mit uns, Mr. Nolan.«

Ich bin fast sicher, daß es kalten Schinken und Kohl und eine Schüssel gekochte Kartoffeln gab. Ein warmes Zimmer, die Küche mit den warmen verführerischen Kochdüften, die Anrichte, in der Marys bestes Porzellan in drei Fächern lehnte, blau und weiß vor dem polierten gelben Kiefernholz. An der Wand, auf die ich blickte, als ich mich Nolan gegenübersetzte, hing die Anbetung der Heiligen Drei Könige, die wir für zwei Pfund in Milistreet gekauft hatten, als Dr. Sugdens Habe versteigert worden war. Durch Glas vor Rauch und Dampf der Küche geschützt, näherten sich die Könige voller Ehrfurcht und Verwirrung, beladen mit Geschenken, reich und exotisch gekleidet.

Ned war ein herzhafter Esser, aber während er sich mit Messer und Gabel ans Werk machte, wanderten seine Augen rastlos im kleinen Zimmer hin und her, ehe sie endlich am Herd zur Ruhe kamen. Im Wohnzimmer war es genauso gewesen, und, glaube ich, aus demselben Grund. Wenn es keine Heiligenlästerung wäre, dann würde ich eine Verwandtschaft zwischen Ned und den Heiligen Drei Königen andeuten. In all den Jahren seiner Kindheit und Jugend in den Straßen von New York und in seinen Jahren bei der Nordstaatenarmee war Irland eine weit entfernte, unbekannte Heimat gewesen, über der ein Leitstern flammte.

Später, als er mich kennengelernt hatte und mir vertraute, bestätigte vieles, was er sagte, diesen Eindruck. Als er als kleiner Junge Irland mit seinem Vater verlassen hatte, hatte er hinter sich eine tote Mutter, an die er sich nicht erinnern konnte, zurückgelassen, eine Daguerreotypie, die sein Vater ausgeschnitten und auf das Uhrgehäuse aufgeklebt hatte, ein sanftes, verschwommenes Gesicht mit großen Augen. Das Leben seines Vaters hatte nicht nur aus dem Büro der Fährgesellschaft bestanden, wo er die zu bezahlenden Rechnungen in ein Kassenbuch eingetragen hatte. Es hatte die Versammlungen und Demonstrationen und Komitees und die endlosen Pläne der Männer von 48 gegeben. Genau die Pläne, die am Ende zur Fenian Brotherhood und zu dem Plan geführt hatten, der Ned endlich zurück nach Irland gebracht hatte, und der Bob und mich veranlaßte, mit Tolpatschen im Ödland von Knockmany zu exerzieren.

Bob wartete, bis Ned eine gute Portion Schinken und Kohl verzehrt hatte, dann sagte er: »Captain Nolan, einiges in diesem Brief, den wir verbrannt haben, ist mir ein Rätsel. »Die verfügbaren Waffen verteilen‹. Was bedeutet das wohl?«

Ned kaute und schluckte, dann antwortete er mit einer Gegenfrage:

»Was für Waffen haben Sie jetzt?«

»Vielleicht ein Dutzend Schrot- und Vogelflinten. Kein einziges Gewehr. Ich selber habe einen Revolver, und Vincent Tully hat eine elegante Pistole, die er seinem Vater abgeschmeichelt hat. Hugh hat gar nichts.«

»Und wie viele Männer?«

»Zwischen sechzig und siebzig. Einige sind im Laufe der letzten zwölf Monate abgesprungen, andere haben ihre Stelle eingenommen. Es gleicht sich aus.«

»Abgesprungen?« fragte Ned sofort. »Sie haben den Eid abgelegt und sind dann abgesprungen?« Er wollte noch mehr sagen, fragte dann aber statt dessen: »Wie haben Sie mit ihnen exerziert?«

»Mit Piken«, antwortete Bob. »Wir haben Piken hergestellt. Wir sehen aus wie eine Bande von Croppies.«

Das stimmte. Die Geschichte schien die Iren zu einer Ewigkeit von Piken verurteilt zu haben. In manchen Nächten, wenn ich Knockmany Hill den Rücken zukehrte und sie vor dem Horizont sah, hinter ihnen nichts als dornenbesetzte Zweige, dann hatte ich das Gefühl, in den tiefen Brunnen der Geschichte gefallen und auf die Truppen irgendeines Hungerleiders von Clanhäuptling in der Desmond-Rebellion gestoßen zu sein, oder auf die Landbevölkerung, die 1798 in ihr Verderben auf Vinegar Hill marschierte. Owen MacCarthy, der Dichter aus Macroom, beschreibt in einem Gedicht die Piken, die die Männer seiner Zeit trugen, als einen Wald im blattlosen Winter. Und bei uns war es noch immer so, unverändert.

»Haben irgendwelche von ihnen bei der Armee gedient?« fragte Ned.

»Kein einziger. Einer, er ist älter als die anderen, war in seiner Jugend bei der Polizei, ehe sie ihn wegen allgemeiner Unfähigkeit hinausgeworfen haben. Und daran haben sie verdammt recht getan.«

Ned nickte ausdruckslos und schnitt sich eine weitere Scheibe Schinken ab.

»Ich habe mit Piken mit ihnen exerziert«, fuhr Bob fort. »Und mit dem Versprechen, daß die Organisation uns zum festgesetzten Tag Waffen besorgen würde. Aber ich habe keine zu sehen bekommen, ebensowenig wie O’Connor in Cahirciveen oder Timoney in Killarney oder der Mann oben in Millstreet.«

»Dann haben Sie Ihren Leuten gesagt, was ich Ihnen auch sagen werde. Daß die Organisation Pläne hat, vor dem Aufstand allgemein Waffen zu verteilen.«

»Ihre Organisation läßt sich aber durchaus Zeit dabei.«

»Es ist genauso gut Ihre Organisation wie meine. Ich weiß ein bißchen darüber, was sie vorhaben. Das habe ich in Manchester aufgeschnappt.«

»Wissen Sie, Captain Nolan«, sagte Bob, »wie die Dinge in den beiden letzten Jahren überall im Land in Orten wie Kilpeder ausgesehen haben? Vor zwei Jahren sind Hugh und Vincent und ich nach Cork gegangen und haben den Eid abgelegt. Dann sind wir zurückgekommen und haben ihn den Jungs abgehommen. 65 sollte es losgehen. Das Land wußte es, und Dublin Castle und die Engländer wußten es auch. James Stephens hätte es fast noch von Dublins Dächern herunter verkündet, ehe sie ihn gefaßt und ins Gefängnis von Richmond geworfen haben. Und dann hieß es 66, und O’Mahoney rief es in New York aus. Und jetzt 67. Wissen Sie, was es heißt, sechzig oder siebzig Bauernburschen zusammenzuhalten, sie mit in Metall gesteckten Eschenstäben exerzieren zu lassen, zwei Jahre lang, auf Befehl einer Organisation, die sich nicht entscheiden kann?«

»Captain Nolan«, antwortete Ned. »Die Organisation hat mich zwar zum Captain ernannt, aber dieses Wort klingt seltsam für mich. In den drei Jahren bei der Nordstaatenarmee war ich Corporal, bis kurz vorm Ende, in Virginia, als ich zum Sergeant befördert wurde. Bei den anderen Fenier-Soldaten, die aus Amerika herübergekommen sind, sieht es ähnlich aus.«

Bob warf mir einen verärgerten Blick zu, dann wandte er sich wieder an Ned.

»Ihr verdammter Rang ist mir egal, mich interessiert die Frage, die ich Ihnen gestellt habe.«

»Ich habe Ihnen diese Frage nach besten Kräften beantwortet. Ich bin nur Corporal, ein Emporkömmling von einem Corporal, und Leuten wie Ihnen und mir wird gesagt, was sie zu tun haben, nicht, warum sie es tun sollen. Sie haben mit Ihren Männern exerziert, und irgendwann, in weniger als zwei Monaten, werden wir sie in den Kampf führen. Sie und ich.«

Mary war aufgestanden, um abzuräumen, jetzt aber stand sie stocksteif da, mit einer Miene, die ich nicht deuten konnte.

»Bewaffnet oder unbewaffnet«, sagte Bob, aber das war eher eine Frage als eine Feststellung.

»Ich habe die Gegend bisher noch kaum gesehen«, sagte Ned. »Das muß bis morgen warten. ›Captain Nolan‹ ist gut und richtig für die Jungs, aber so lange ich mich erinnern kann, habe ich auf den Namen Ned gehört.«

Und er wurde Ned für uns, in diesem Moment und für alle Zeit, die danach kam. Noch in späteren Jahren, als er berüchtigt geworden war und wir seinen Namen in Verbindung mit Rossa, Lomasney oder den Dynamitmännern in den Zeitungen fanden, kam immer ein kurzer Moment, in dem »Edward Nolan« wie ein fremder Name im Abschnitt stand. Er verbrachte vielleicht einen Monat bei uns, aber wir sollten für immer mit ihm verbunden sein.

Tee und Nachtisch folgten, und auf eine schweigende Abmachung zwischen den beiden sprachen wir über allgemeines. Mein Schulhaus, erzählte ich ihm, war nicht dasselbe, in dem sein Vater unterrichtet hatte, aber die alte Schule war noch vorhanden, hinter der Biegung in der Gasse, die noch immer Schoolhouse Lane genannt wurde, und sie wurde von Dennis Tully als Warenhaus benutzt.

»Vom Vater eures Freundes«, sagte Ned.

»Er ist mehr als nur das«, erwiderte ich. »Er ist ein wohlhabender Kaufmann. Dennis Tullys Glück versetzt die Welt in Erstaunen.«

Bob registrierte einen spöttischen Unterton in meinen Worten und sagte scharf: »Er ist gut zu mir gewesen. Großzügig.«

»Du verdienst deinen Lebensunterhalt, Bob«, erwiderte ich, »und noch ein bißchen darüber hinaus.«

»Aber er ist kein Freund von uns«, meinte Ned.

»Du hast Hugh gehört«, sagte Bob. »Ein wohlhabender Kaufmann. Und ein frommer Mann, er und Pater Cremin stehen sich sehr nahe. Und Cremin hat die Organisation vom Altar herab angeklagt und Gottes Fluch auf sie herabberufen. Nirgendwo in Irland leisten die Priester den Feniern so wütenden Widerstand wie in Munster.«

»Mich wundert«, sagte Ned, in seltsam mildem Tonfall, »daß solche Schurken es wagen, sich selber als Iren zu bezeichnen.«

»Sie sind durchaus Iren«, widersprach ich. »Viel zu sehr.« Unausgesprochen blieb mein Gedanke, daß sie vielleicht irischer waren als die Burschen aus New York, die herübergekommen waren, um uns zu führen, mit ihren viereckigen Stiefeln und ihren prahlerischen Reden über bislang unsichtbare Gewehre. Nicht nur Ned, sondern sie alle, denn die Atmosphäre dieses seltsamsten aller Aufstände war so wunderlich, daß die Luft Irlands von Gerede über die »amerikanischen Offiziere«, wie sie genannt wurden, nur so schwirrte. In den letzten Jahrhunderten sind wir zu einer Herde von Schafen geworden, unterworfen dem Befehl von Spaniern und Niederländern und Franzosen und Amerikanern.

»Wie ist den Jungs denn bei all dem zumute?« fragte Ned. »Es kann doch nicht angenehm sein, wenn du vom Altar herunter mit Gottes Fluch belegt wirst. Dürfen sie zur Kommunion gehen?«

»Natürlich dürfen sie nicht, aber sie tun es trotzdem, jeder einzelne von ihnen. Ich auch«, antwortete Bob.

Neds Lächeln kam immer unerwartet. »Das muß bei dir doch zu einer sehr wendigen Theologie führen?«

»Es gehört nicht zu den Pflichten eines Priesters, sich zwischen meinen Gott und mein Land zu stellen. Der Eid ist allerdings der springende Punkt, das ist das Problem.«

»Der Eid ist geheiligt«, erklärte Ned leidenschaftlich. »Es ist ein Eid, den wir vor Gott abgelegt haben, um dieses Land von der Unterdrückung zu befreien, und er ist bindend fürs ganze Leben.«

»Pater Cremin ist nicht deiner Ansicht«, sagte Bob sanft und leicht amüsiert.

»Zur Hölle mit Pater Cremin«, erwiderte Ned. »Vor einer Minute hast du mir erzählt, daß Männer den Eid abgelegt und mit euch exerziert haben und dann ausgestiegen sind. Es überrascht mich, daß du das zugelassen hast.«

»Zugelassen?« fragte Bob. »Wir können auf Knockmany Hill ja wohl kaum ein Kriegsgericht abhalten.«

»Warum nicht?«

Bob und ich starrten einander an, verwirrt weniger von den Worten als von der lässigen Art, in der sie geäußert worden waren.

»Einen Mann aus seinem Haus zerren und ihn zur Strafe durchwälken«, sagte Bob, »wie die Whiteboys und die Ribbonmen? Ist deine Frage so zu verstehen? Wenn es am nächsten Morgen hell wird, hast du in Kilpeder keinen Fenierzirkel mehr. Laß mich eins klarstellen, Ned, und damit will ich deinem Rang nicht zu nahe treten. Du bist in deine Heimatstadt zurückgekommen, und du trägst einen Namen, der in Ehren gehalten wird, aber du bist an einem dir unbekannten Ort. In solchen Fragen wärest du gut beraten, wenn du dich an Hugh und mich halten würdest.«

»Der Eid gilt für das ganze Leben«, beharrte Ned.

Bei Gott, dachte ich, diese Worte könnte man auf seinen Grabstein schreiben.

»Für das ganze Leben«, sagte Bob. »Aber Worte müssen sich den Umständen anpassen.«

Noch ein Motto für einen Grabstein. Ich habe in späteren Jahren oft gedacht, daß die beiden mit diesen Worten ihre wahre Natur offenbart hatten.

»Und du hast eben gefragt«, fuhr Bob fort, »wie die Jungs sich fühlen, wenn sie vom Altar herab verflucht werden. Sie fühlen sich verdammt mies, ängstlich und verwirrt. Sie sind Kneipengänger und Landarbeiter, schlichte, ungebildete Männer. Und die Sache, der sie sich verschrieben haben, wird von der Kirche verdammt, von jedem Bischof und von fast allen Priestern. Ganz zu schweigen von den Katholiken von höherem Stand, den Kaufleuten und den Gastwirten und den Viehhändlern und den anderen. Ich habe große Achtung vor den Burschen, die mit uns in die Hügel kommen, und sogar eine Art Mitgefühl mit denen, die aussteigen.«

Er sprach die schlichte Wahrheit, und die Ehrlichkeit seiner Worte verfehlte ihre Wirkung auf Ned nicht, der im Grunde als gerechter Fanatiker bezeichnet werden konnte. Aber es war nicht die ganze Wahrheit, die sich nicht leicht in Worte kleiden läßt. Viele Kaufleute und nicht wenige Priester verdammten uns aus voller Kehle und mit gutem Gewissen und hegten doch die heimliche Hoffnung, wir möchten Erfolg haben.

»Sie gehen von eurem Knockmany Hill«, sagte Mary plötzlich, »zurück zu den Hütten von Vätern und Müttern, die so schlicht sind wie sie selber. Ängstliche Männer und Frauen, die sich an den großen Hunger erinnern, die die Macht der Gutsbesitzer und Richter und der Polizei kennen.«

Sie schenkte Tee ein und sprach dabei mit ruhiger Stimme.

»Wir alle kennen ihre Macht«, erwiderte Ned, als sie ihm seine Tasse reichte. »Die Organisation soll ihr ja ein Ende machen.« Aber sein Tonfall war so ruhig wie ihrer, und seine Worte waren die eines Menschen, der eine Streitigkeit beenden will.

Nach dem Essen gingen wir wieder ins Wohnzimmer und gönnten uns ein Glas oder zwei, um den Abend abzurunden, aber es war klar, daß niemand unter uns lange weitermachen wollte. Mit Ned war etwas Neues in unser Leben gekommen. Aber unser Gespräch war angenehm und ohne Spannungen, mit Ausnahme von Neds verlegenem Benehmen, das er niemals verlieren sollte, nicht einmal, als wir uns sehr nahe gekommen waren. In seinen Gedanken schien es für Klatsch und Plaudereien über Wetter und Ernten keinen Platz zu geben. Aber er war auch, wie ich an diesem ersten Abend erst zu entdecken begann, ein Mann, der eine große, aber seltsame Auswahl an Büchern gelesen hatte, auch wenn er kaum zur Schule gegangen war. Seine Lektüre sollte sich im Laufe der Zeit als Ramschbeutel herausstellen, geöffnet in einer hingeworfenen Anspielung oder in einem Gespräch in den Hügeln – Hugos Les Misérables, Marc Aurel, Herodot, die Essays von Montaigne, Onkel Toms Hütte, Patrick Henry, Cooper und Scott, irgendein Amerikaner, der zwei Jahre lang vor dem Mast gesegelt war. Und Shakespeare. Immer wieder las er Shakespeares Stücke.

Über Les Miserables sprach er an diesem Abend in einer Art, die für ihn der Geschwätzigkeit nahekam – nicht über das Buch selber, sondern über die Nächte, in denen er es gelesen hatte, am Lagerfeuer, bei der großen Belagerung von Petersburg. Dabei befand er sich nicht auf dem Boden von Virginia, sagte er, sondern in den labyrinthischen Kloaken von Paris, zusammen mit dem armen gejagten Jean Valjean. Jean Valjean war sein großer Held, sagte er, als er steif vor uns saß und seine knochigen Knie umklammerte.

Ich brachte Bob ans Tor und blieb dort kurz mit ihm stehen.

»Dieser Vetter ist ein angespannter Bursche«, sagte ich. »Kein Mann, den man zum Pferderennen mitnehmen würde.«

»Er ist ein guter Mann«, sagte Bob. »Er ist hier bitter nötig. Morgen kann ich dieses Waffenhandbuch des verdammten Franzmanns ins Feuer schmeißen.«

»Meinst du?« fragte ich überrascht. »Ich finde das auch, aber ich dachte, ihr beide wärt absolut nicht füreinander geschaffen.«

Aber Bob schüttelte den Kopf, klopfte mir auf die Schulter und machte sich auf den Weg zu Tullys Laden.

Bald darauf nahm ich Neds Koffer und führte ihn ins hintere Schlafzimmer, das er benutzen sollte, das Zimmer, das in späteren Jahren den Kindern gehören sollte. Und die jungen Dinger übernahmen unsere Ausdrucksweise so vollständig, daß es nicht ihr Zimmer war, sondern »Neds Zimmer«. Damals in den 70er Jahren war der Aufstand bereits in die vage Vergangenheit zurückgesunken, in die Sage, aber das Zimmer trug immer noch Neds Namen.

Er nahm mir den Koffer ab, hob ihn aufs niedrige Bett und öffnete ihn. Hemden und Hosen legte er auf die Bettdecke, und dann zog er, nach heftigem Wühlen, zwei in Flanell gewickelte Gegenstände hervor. Er wickelte den kleineren der beiden aus.

»Bob hat vorhin gesagt, du hättest keine Waffe, Hugh. Du kannst diese hier gern haben.«

Vorsichtig nahm ich den Revolver, den er mir reichte, und wog ihn in der Hand, wobei mein Zeigefinger nicht auf dem Abzugshahn, sondern am Sicherungsflügel ruhte. Er war schwerer, als ich erwartet hatte, das Metall fühlte sich kalt an. Die Kammern waren kleine, schwarze Münder. Als ich ihn hielt, fühlte ich mich unbeholfen und unwohl.

»Der hier gehört mir«, sagte Ned und wickelte das andere Flanelltuch auseinander. Schußwaffen sind niemals meine Leidenschaft gewesen, weder damals noch später. Sie sind düstere Instrumente des Todes, kompakt und brutal, mit einer düsteren Intelligenz, als ob sie in ihren metallenen Seelen wissen, daß ein haarfeiner Druck, ein Bruchteil von Sekunden Menschen oder Tieren den Tod bringen, Fleisch, Muskeln, Haut, Fell zerfetzen kann. Aber ich konnte sehen, daß Neds Revolver ein Prachtexemplar dieser düsteren Gattung war.

»Es ist ein Colt«, sagte Ned, und das Wort brachte mir das Bild eines jungen Pferdes, das wild über eine Wiese stürmt. »Es ist ihr neuster Entwurf, ein single-action .44.« Er hielt ihn in der rechten Hand und fuhr mit der linken am langen Lauf entlang, das Streicheln eines Liebhabers.

»Ist das die Waffe, die du im Krieg benutzt hast?« fragte ich.

»Der Bursche hier? Dieser Bursche ist niemals an Corporals ausgeteilt worden.« Er trug den Colt hinüber zu der Kerze, die Mary für ihn angezündet hatte. Im sanften, vertrauten Licht glänzte er, glatt und schwer, aber mit der aller feinen Mechanik innewohnenden Eleganz.

»Drei Nächte, ehe ich losgesegelt bin, hat ein Mann namens Rafferty, der bei den Pionieren Major gewesen war, ihn mir gegeben. Er war einmal Mitglied der Organisation. Ich aß an diesem Abend mit zwei von den anderen zusammen, und er kam durch das Restaurant und gab mir dieses Paket, eingeschlagen in braunes Papier und mit einer Schnur umwickelt. ›Ich weiß, wer du bist‹, sagte er. ›Das hier war für Joe MacGuiness bestimmt, aber ich kann ihn nicht finden. Ist er schon abgereist?‹ – ›Wer ist Joe MacGuiness?‹ fragte ich. Und er lachte und klopfte mir auf die Schulter, ein massiger, schwerer Mann, mit rotem Gesicht und dickem braunem Schnurrbart. ›Recht hast du‹, sagte er, ›je weniger gesagt, desto besser.‹«

»Wieso kannte er dich?« fragte ich.

»Die Organisation ist Hauptgesprächsthema in New York. Es ist ein billiges Opfer, einen Revolver zu vergeben, den du nicht mehr brauchst. Das Witzige ist, daß ich noch nie von Joe MacGuiness gehört hatte, aber er kann durchaus losgefahren und jetzt irgendwo hier sein. Des einen Freud…«

Er wog den Revolver noch einmal in der Hand, dann legte er ihn vorsichtig auf den Tisch, neben die Kerze, deren Flamme sich im Metall spiegelte.

»Es ist nicht das weichste Bett auf der Welt«, sagte ich.

»Es fühlt sich hervorragend an«, antwortete er. Er drückte mit der Handfläche auf die Strohmatratze.

Als ich alles für die Nacht bereitet hatte, war Mary schon im Bett, ihre Haare waren gelöst und ihre Hände auf der Bettdecke gefaltet. Ich legte den Revolver, den Ned mir gegeben hatte, auf die Kommode.

»Ein Geschenk von Ned«, sagte ich.

Sie betrachtete ihn wortlos. Ich bezweifle, daß sie jemals mit einem solchen Gegenstand in einem Zimmer gewesen war.

»Das sehe ich«, sagte sie mit kleiner Stimme.

»Na ja«, sagte ich. »Was soll ich machen? Das bereiten wir doch schon seit zwei Jahren vor.«

»Das weiß ich«, erwiderte sie, ihre Augen wichen jedoch nicht von dem Revolver.

»Am festgesetzten Tag«, sagte ich, »gibt es vielleicht wenig Grund, ihn zu benützen. Zwischen uns und der Kontrolle über Kilpeder steht doch nur die Polizei, und Sergeant Honan und seine Burschen sind vernünftige Männer.«

»Du weißt sehr gut, daß das nicht stimmt, Hugh.«

»Nun«, wiederholte ich, »was soll ich machen?«, mit einem Hauch von Gereiztheit in meiner Stimme.

Statt zu antworten wandte sie mir ihr Gesicht zu. »Er ist ein beängstigender Mann«, sagte sie. »Er ist nicht wie irgend jemand von uns, oder? Auch nicht wie Sergeant Honan.«

»Er ist ein sympathischer Bursche«, sagte ich, »ich konnte ihn sofort leiden, und Bob auch.«

»Das ist er wirklich«, erwiderte Mary. »Nicht Ned jagt mir Angst ein, sondern das, was er nach Kilpeder gebracht hat.« Und mehr sagte sie nicht.

Und sie brauchte auch nicht mehr zu sagen. Ich wußte, was sie meinte, und ich empfand genauso. Wir hatten exerziert und geübt, und Bob hatte mir die Verwendung seines eigenen Revolvers erklärt, der zwar ein englisches Fabrikat war, aber zweifellos genauso funktionierte wie der auf der Kommode. Aber die Waffen, die Ned uns gebracht hatte, waren Botschafter und Waffen zugleich.

Ich ging ans Fenster, und Mary sprach zu meinem Rücken.

»Es steht jetzt unmittelbar bevor, nicht wahr?«

»Unmittelbar oder gar nicht«, antwortete ich. Auch 65 hatte es unmittelbar bevorgestanden, aber das Jahr war gekommen und gegangen. »Aber wenn es kommt, dann ist es eine Frage von Wochen.« Ich muß mich wohlinformiert über diese Frage angehört haben, aber in Wirklichkeit wußten wir nichts, und ich bezweifle, daß die Männer in Cork City viel mehr wußten. Es war unwirklich, eine Art Phantasie, anders als Neds Revolver. Sogar die kronentreuen Zeitungen wußten mehr. Von ihnen hatten wir erfahren, daß Stephens und O’Mahoney beiseitegestoßen worden waren, von zum Handeln entschlossenen Männern. Von Männern, die für uns weder Namen noch Gesichter hatten, obwohl wir später natürlich die Namen von Kelly, McCafferty und all den anderen kannten. Doch bis zum Ende waren uns die Namen fremd, sogar als wir in Cork vor Gericht standen und hörten, daß wir auf ihren Befehl hin gegen Königin Victoria, ihr Königreich und ihre Person, bewaffnet rebelliert hatten.

Vage hörte ich – oder vielleicht spürte ich es nur – das Geräusch von Marys Bürste, die sie durch ihre dichten braunen Haare zog, ein vertrautes Geräusch.

»Unwirklich«, sagte sie als Echo meiner Gedanken. »Wenn wir abends darüber gesprochen haben, wir und Bob und Vincent, klang es alles großartig und unklar, wie eine Oper. Und jetzt bedeutet es einen Revolver auf einer Kommode.«

Die Straße unten war pechschwarz, nur die beiden Kirchtürme waren vage wahrzunehmen, als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Damals gab es in Kilpeder keine Straßenlaternen. Die Kneipen waren noch offen, aber sie waren hinter der Biegung oder zu weit entfernt die Straße hinunter, so daß ihr Licht nicht bis zu uns vordrang. Aber man konnte die Existenz der Stadt spüren, Läden und Markthalle, den weiten Marktplatz. Und hinter der Stadt Lord Ardmors Wildpark und die umliegenden Hügel. In der Wache schliefen die Constables oder saßen bei einer letzten Tasse Tee zusammen, und ihre Gewehre, die sogar noch tödlicher waren als Neds Revolver, lehnten an der Wand. In seinem Zimmer über Tullys Laden war Bob aller Wahrscheinlichkeit nach immer noch wach; viereckiges kahles Zimmer, Bett, Tisch, Bücherregal; vielleicht neben dem Bett eine tropfende Kerze. Im Laden unter ihm waren Waren und Lebensmittel in Fülle aufgehäuft, Tee und Kerzen und Handhaken. In einigen Stunden würde das Morgenlicht, frisch und voller Selbstvertrauen, die Dunkelheit davonspülen, und das Vertraute, das immer den Anschein von Dauerhaftigkeit hat, wieder herstellen. Aber jetzt füllte, für meine Augen und Sinne, Dunkelheit unsere Welt mit Erstaunen und bebenden Möglichkeiten.

Pächter der Zeit

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