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[Patrick Prentiss]

Eines Sommernachmittags, als Patrick Prentiss sein Manuskript und die Anhäufung von Notizbüchern und Aufzeichnungen, aus denen er dieses zusammenbaute, für einige Tage beiseite gelegt hatte, schwebte unaufgefordert eine Erinnerung vor sein geistiges Auge.

Er verbrachte eine Woche bei seinem alten Kommilitonen Dick Leese in einem Dorf in North Devon, einige Meilen von Taunton entfernt, einem Dorf, das so zahm und gemütlich war wie ein viktorianischer Bilderbogen: Kirche, Pfarrhaus, Gasthaus, Kolonialwarenladen, Tuchhändler, alles hintereinander an einer sanft geschwungenen Landstraße gelegen. Sein Freund und die meisten der Nachbarn seines Freundes hielten Bienen, und in der schläfrigen Nachmittagssonne verschmolz ihr Summen in seiner Wahrnehmung mit dem Duft von Klee und jungem Gras. Kilpeder, mit seinem schäbigen Marktplatz und seinen schroffen Hügeln, schien so weit entfernt wie die Pole. Leeses Garten endete hinter dichtbelaubten Dornsträuchern an einem Bach, an dem ein sandiger Fußweg entlangführte. Eine Viertelmeile bachabwärts erhob sich eine kleine Brücke, bucklig, aber doch elegant, über dem Wasser. Er ging immer eine Stunde vor dem Tee dorthin, eine Stunde schwer von Klang und Geruch, von der Schwere einer sicheren und gesetzten Welt, und der viereckige Kirchturm war über den breiten Kronen der Ulmen gerade noch zu sehen.

An diesem Tag machte eine Erinnerung ihm zu schaffen, sanft und ohne Grund. Es war Sommer, er war aus der Schule nach Hause gekommen, er stand im Arbeitszimmer seines Vaters in Palmerston Park. Sein Vater saß, mit dem Rücken zum Fenster, hinter seinem riesigen Schreibtisch und machte sich Notizen mit seiner ruhigen Hand, die er regelmäßig hob, um die Feder ins Tintenfaß zu tunken. Seine andere Hand ruhte flach auf dem Schreibtisch, er strich sich jedoch damit von Zeit zu Zeit über den glatten, seidigen, inzwischen graugesprenkelten Bart. Auf der anderen Seite des Zimmers beim kalten Kamin saß Patrick auf dem Boden, mit dem Rücken an einen Stuhl gelehnt. Er war sehr still. Das war ihr Brauch, akzeptiert durch einen ungeschriebenen Vertrag. Er war willkommen in diesem Arbeitszimmer; seinem Vater gefiel es, wenn er dort war, und er blickte Patrick ab und zu an und lächelte. Aber Patrick durfte nichts sagen, erst wenn sein Vater seufzte, sich streckte und die Feder wieder in ihr Gestell setzte. Patrick hatte die Bücher zur Gesellschaft, Reihe um Reihe, die höchsten Regalfächer waren für ihn unerreichbar, während die besten Bücher dicht am Boden standen, hohe Folianten, die Reisen in die Levante, zum Amazonas, nach China schilderten und reich illustriert waren. An dem Nachmittag, an den er sich jetzt erinnerte, hatte er neben sich einen alten, gebundenen Jahrgang der Illustrated London News liegen, ein riesiges, in lila Steifleinen gebundenes Buch, auf dessen Einband, goldgestanzt, die Königin saß, einen langen, blattbewachsenen Zweig in jeder Hand, unter einem Halbkreis aus sieben Kronen. Er nahm jedenfalls an, daß es sich um die Königin handelte. Er traute sich nicht zu fragen.

Es war, wie er später begreifen sollte, Parnells Sommer, im Oktober würde Parnell tot sein. Aber während des ganzen Sommers kehrte er Woche für Woche nach Irland zurück, in seinem wilden, verzweifelten Kampf um die Wiedereroberung der Sache, die er einst beherrscht hatte, und sprach auf schäbigen Podien, bei tropfendem Fackellicht, geschützt von seiner Leibwache aus schlagkräftigen Feniern, vor feindseligen Zuhörern; Hohngeschrei, Lehmklumpen wurden aufs Podium geschleudert, auf den großen wütenden Redner mit seinem ungekämmten Bart, seiner vom Schreien heiseren Stimme. Das ganze Melodrama, von dem Prentiss später erfuhr. Aber es sickerte, wie der Rauch des im Herbst verbrannten Laubes, in das Haus im Palmerston Park, beim Essen oder bisweilen beim ersten Frühstück, wenn Kollegen seines Vaters vorbeischauten, ehe sie sich alle auf den Weg zum Gericht machten.

»Er ist verrückt geworden«, sagte sein Vater eines Morgens – und in jenem Sommer war mit diesem Pronomen immer Parnell gemeint. »Ich meine das im wahrsten Sinne des Wortes. In seiner Familie hat es immer Irrsinn gegeben. Die Partei zu zerreißen, das Land zu zerreißen. Und wer wird davon profitieren? Die Tories, natürlich. Die Großgrundbesitzer und die Londoner Bankiers. Wir haben ihn gemacht, bei Gott, und wenn es nötig ist, dann können wir ihm beweisen, daß wir ihn auch wieder zerstören können. Unsere eigene Schuld – zehn Jahre lang haben wir ihn wie eine Art ungekrönten König behandelt.«

»Nun ja«, sagte ein Freund eines Morgens und hielt dem Dienstmädchen seine leere Tasse hin. »Jetzt hat er ja eine ungekrönte Königin, die ihn trösten kann.« Aber Patricks Vater hatte, ohne zu lächeln, warnend zu dem lauschenden Jungen hinübergenickt.

Die Welt lag in diesem lila Steifleinen-Folianten vor ihm – ein großes Schiff lief in New York vom Stapel, das italienische Abgeordnetenhaus, die Seychellen, der Kristallpalast in London nach einem heftigen Schneesturm, schwere weite Schneedecken verbargen Glas und Eisen, Kaiser und Kaiserin von Frankreich in den Tuilerien, der Kaiser in Uniform und mit Spitzbart, die Kaiserin in enggeschnürter Krinoline mit einem Diadem im Haar. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, war Frankreich kein Kaiserreich mehr. Napoleon III. war tot, und seine Kaiserin wurde alt, irgendwo in England. Die Seiten drohten sich aufzulösen, als Prentiss eine nach der anderen umblätterte. Plötzlich lag das Vertraute vor ihm, bescheiden und verwirrend.

Eine ganze Seite war einem Dorf gewidmet, das wie jedes Dorf in Irland aussah, bedeutungslos in seiner Vertrautheit. Eine ungepflasterte Straße, daneben eine zerbröckelnde Mauer, hinter der Mauer eine viereckige Kaserne, neben der Kaserne zwanzig Mann in schwarzen Umhängen, Gewehre an die Schultern gelehnt, lässige Haltung. Ein Uniformierter, an dessen Seite ein Schwert baumelte, sprach mit Zivilisten mit Zylinderhüten. Auf der anderen Seite der Straße hatten sich auf einem Feld Bauern versammelt und starrten zur Kaserne herüber, die Frauen barfuß und in ihre Schals gehüllt, die Männer in verschlissenen Hosen, zerbeulten Hüten, einer von ihnen hielt eine Tonpfeife zwischen seinen zusammengekniffenen Lippen. In der Ferne zog sich die Straße an Hausfassaden, einem Kirchturm und, sehr weit weg, einer Zeile elender Hütten vorbei. Vor dem grauen Himmel hier und da ein Vogel – jeder dargestellt mit zwei raschen, doppelt gebogenen Strichen. Das war alles. Neben einer der Hütten die zusammengekauerte Figur einer Frau, undeutlich zu erkennen. »Die Polizeistation von Kilpeder«, stand unter dem Bild. »Schauplatz eines Angriffes der bewaffneten Fenier am 6. März. Die Schlacht, die hier ihren Anfang nahm, endete in derselben Nacht im nahegelegenen Clonbrony Wood.«

Er erinnerte sich plötzlich, daß er seinen Vater gefragt hatte: »Was war die Schlacht von Kilpeder?« Sein Vater hatte gedankenverloren aufgeblickt, sich seine Antwort gut überlegt und dann gesagt: »Kilpeder? In Irland? Es gibt ein Kilpeder in Cork, an der Straße nach Killarney. Einen Marktflecken. Unter den Tudors kann es da eine Schlacht gegeben haben. Vielleicht während der Desmond-Rebellion.«

»Nein«, widersprach Patrick. »Hier ist ein Bild von Kilpeder in den Illustrated News. Kilpeder und Clonbrony Wood.«

Sein Vater legte seine Feder beiseite und sah Prentiss an, zwei weiße Hände ruhten auf dem Schreibtisch. »Gott schütze uns, Junge. Clonbrony Wood. Zeig es mir mal!« Es war gar nicht so leicht, das schwere Buch hinüberzutragen. »Leg es hierhier, Patrick«, sagte sein Vater dann. »Kümmer dich nicht um die Papiere; denen passiert schon nichts.«

Prentiss beugte sich über das vor ihnen geöffnete Buch, und Vater und Sohn betrachteten den Stich. Durch einen perspektivischen Trick schienen sie zusammen auf der Straße zu stehen, wo auch der Künstler gestanden hatte, und zu Kaserne, Polizisten, Bauern hinüberzublicken. Daran erinnerte er sich nun am besten.

»Ich war im Trinity«, sagte sein Vater. »Ich war ein paar Jahre älter als du jetzt. Der Aufstand der Fenier – ich erinnere mich an jene Tage. Ballyknockane, Clonbrony Wood, Tallaght. Der Fenier-Schnee, Schießereien unten in Munster, in unseren eigenen Hügeln – hier, in der Nähe von Dublin. Und dann schien alles einfach zu ersterben. Aber das Jahr war noch nicht vorbei, als alles uns wieder ins Gedächtnis gerufen wurde. In Manchester wurde der Gefängniswagen überfallen und Colonel Kelly gerettet. Allen und Larkin und O’Brien wurden öffentlich aufgehängt, während ein betrunkener englischer Mob sie verspottete. Clonbrony Wood. Ich habe vielleicht genau diesen Stich damals gesehen. Als junger Mann im Trinity.«

Der junge Prentiss konnte sich seinen Vater nicht als Studenten vorstellen. Sein Vater war doch immer in Autorität gekleidet, in elegantes, ebenholzschwarzes Kammgarn, in weichen, dicken Tweed.

»Gott segne sie alle«, sagte sein Vater. »›They rose in dark and evil days.‹ Hast du dieses Lied je gehört?«

Prentiss schüttelte den Kopf.

»Bei Clonbrony Wood waren Jungen dabei, die nicht älter waren als ich«, erzählte sein Vater. »Und wem, um Himmels willen, haben sie gedient? Der Eitelkeit von James Stephens und der Habgier von Yankee-Abenteurern. Ihre erbärmliche Organisation, dürchsetzt mit Denunzianten und Scharlatanen. Diese armen Burschen, die gekämpft haben, mußten den Preis bezahlen. Weißt du, wo der größte Aufmarsch stattgefunden hat, Patrick? Hier, in den Bergen außerhalb Dublins. Tallaght, Glencullen, Stepaside. Tapfere Männer. Irregeleitet, aber tapfer.«

Prentiss konnte diese unzusammenhängende Rede nicht begreifen. Sein Vater hatte etwas von einem Universitätsdozenten, der den Beruf verfehlt hatte. Er hielt gerne Vorlesungen, rollte die Vergangenheit auf, am Mittagstisch oder bei langen sonntäglichen Spaziergängen in den Bergen, wo einst ein großer Aufmarsch stattgefunden hatte. Einmal, während einer Wanderung über Scalp, zwischen hohen, kahlen Felsbrocken und kargen Mooren, hatte sein Vater ihm Napoleons gesamte Karriere dargelegt, vom hageren, hungrigen Leutnant bis zum ruinierten fetten, weinerlichen Verbannten von St. Helena. Aber nun dozierte er nicht, und seine Rede war abgehackt und beschwert von Gefühlen, die Prentiss nicht verstehen konnte.

»Du kennst doch F. X. O’Brien, nicht wahr, Patrick?« fragte sein Vater. »Er ist oft hier gewesen. F. X. war einer von ihnen. Einer von den Feniern von Cork. Er war nicht in Clonbrony Wood, aber er war in Cork, hat dort gekämpft. Für ihn hatten sie sich ein besonderes Schicksal ausgedacht. Gehenkt, gestreckt und gevierteilt, so lautete das Urteil. Er war der letzte, über den das Britische Gesetz jemals dieses Urteil verhängt hat. Das Urteil, das am armen Emmet vollstreckt wurde, hier in unserem Dublin. Aber sie haben sich nicht getraut, es durchzuführen. Ist dir jemals Mr. O’Briens Hand aufgefallen? Daß er nur eine Hand benutzen kann? Die andere ist verkrüppelt, und er kann die Finger nicht voneinander lösen. Das haben sie ihm im Gefängnis angetan.«

Aber Prentiss war O’Briens Hand nie aufgefallen. Er erinnerte sich an einen Mann, der uralt wirkte, mit einem langen, dünnen Bart, der über seine Weste floß, onkelhaft und öde.

»Es gibt noch einen Mann«, sagte sein Vater plötzlich viel lebhafter, »einen Mann, der zweimal in diesem Haus gegessen hat. Nein, vielleicht dreimal. Deine Mutter müßte das noch wissen. Jedenfalls war er dort, genau dort, in Kilpeder und Clonbrony Wood. Wurde vor Gericht gestellt. Bob Delaney.« Sein Vater tippte die brüchige Seite mit dem Zeigefinger an, als ob er wütend darüber sei, daß der Künstler Delaney nicht mitgezeichnet hatte, vielleicht neben dem Offizier und den Herren mit den Zylinderhüten. Aber Delaney konnte bei dieser Szene nicht zugegen gewesen sein, die doch zweifellos das Nachspiel der Schlacht dafstellt, oder wohl eher des Handgemenges, wenn man vom Bild auf die Ereignisse schließen konnte, unverständlich und unrühmlich. Schlachten wurden auf weiten, windigen Ebenen ausgefochten, Kavallerie und Reihen von marschierender Infanterie rückten vor, gestochener Dampf umgab wie ein Kreis die Kanonen.

»Er war dabei«, wiederholte sein Vater. »Einer der Helden von Clonbrony Wood, wie sie später genannt wurden. Hat ihm durchaus nicht geschadet, als er Jahre später fürs Parlament kandidiert hat. Ganz im Gegenteil. Erinnerst du dich an Mr. Delaney, Patrick – ein lebhafter, gutaussehender, glattrasierter Mann?«

Aber Patrick erinnerte sich nicht. Er hätte sich ohne den Weihnachtsmannbart auch nicht an F. X. O’Brien erinnert. Es hatte immer viel zu viel Gäste gegeben, als daß er sich an alle hätte erinnern können – Parlamentsmitglieder, Anwälte, LandLeague-Agenten, Richter, ein paar Mandanten. Sie waren verschwommene Gesichter über weißem Leinen.

In einer denkwürdigen Nacht vor vielen Jahren, lange nach dem Essen, als die Männer über Kaffee und Brandy saßen, war seine Mutter zu ihm herauf auf sein Zimmer gekommen, wo er halbwach im Bett lag. »Zieh Morgenrock und Pantoffeln an, Patrick. Mr. Parnell ist hier, und Vater möchte, daß du ihn begrüßt.« Keine schwarze Wolle, kein schwarzes Leinen, sondern grober Tweed, als ob er gerade von der Jagd zurückkäme, eine gestrickte Weste, kastanienbraune Haare und Bart. »Ein feiner Junge«, sagte er zu Patricks Mutter, zerstreut, mit einem Nicken. »Ein feiner kleiner Mann.« Er nickte wieder, und ein verlegenes Schweigen folgte.

»Ich habe ihn nur für einen Moment heruntergeholt«, erklärte Patricks Mutter. »Er schläft ja schon halb.«

»Und lassen Sie ihn schon Jura studieren, Prentiss?« fragte Parnell seinen Vater. »Ein junger Anwalt?«

»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Patricks Vater. »Nur nichts überstürzen. Er gehört jetzt wohl wieder ins Bett, Ellen. Er wird sich an diese Nacht erinnern, in der er Mr. Parnell begegnet ist.«

In der Tür verrenkte Prentiss seinen Hals, um zurück zum Tisch blicken zu können. Parnell griff nach einem der Äpfel in der ovalen Silberschale.

»Er ist der ungekrönte König«, erklärte ihm seine Mutter oben auf dem Treppenabsatz, ihre Hand ruhte auf der geschnitzten Ananas aus schwarzem Walnußholz. »Es gibt ein Lied, in dem er so genannt wird. Die Mädchen in der Küche kennen es alle. Ein gutaussehender Mann, Patrick, er sieht fast so gut aus wie dein Vater.«

Katey kannte das Lied. Am nächsten Morgen sang sie ihm Bruchstücke daraus vor, als sie den Brotteig knetete, während das Mehl wie Puder ihre aufgekrempelten Ärmel bestäubte. »›For the uncrowned King of Ireland lies in Kilmainham Gaol.‹« Aber was konnte ein Gast am Tisch seines Vaters mit Gefängnissen und Kerkern zu tun haben? Patrick versuchte, sich Parnell in einer Gefängniszelle vorzustellen, ausgestreckt auf dem Stroh, die Zelle in tiefem Schatten liegend, Handfesseln und schwere Ketten an den feuchten Wänden befestigt, Ringe und Bolzen aus dunklem Eisen. »Was kannst du denn sonst von denen erwarten?« fragte Katey und knallte den gekneteten Teig auf den Tisch. »Robert Emmet war ein Gentleman, und Lord Edward Fitzgerald war ein Lord. Kerker und Tod warteten auf sie, und sie warten auch wieder auf Mr. Parnell.« Auf den sonntäglichen Spazierfahrten in den Phoenix Park kamen sie am Kilmainham-Gefängnis vorbei, das gegenüber der Parkeinfahrt lag, graue, massive Steine, hohe abwehrende Mauern, bedeckt von wütenden Glasscherben, bewaffnete Wachtposten an den düsteren Toren.

Aber damals war Prentiss ein Junge gewesen, nicht der junge Gelehrte aus Clongowes Woods, der im Licht der grünen Lampenglocke neben dem Schreibtisch seines Vaters im Arbeitszimmer stand.

»Nein«, sagte er. »Ich kann mich nicht an Mr. Delaney erinnern.«

»Schade«, erwiderte sein Vater trocken. »Er wird so bald wohl nicht mehr bei uns essen. Mr. Delaney hat sich dafür entschieden, Mr. Parnell in die Wüste zu folgen.«

Nun, in der Gegenwart, in der Prentiss und sein Vater sich im Arbeitszimmer unterhielten, hatte sich alles geändert. Parnell war nicht mehr der ungekrönte König. Er war auch im Souterrain nicht mehr Kateys Held, denn in Palmerston Park war die Politik monolithisch. »Da war ein Tropfen schlechtes Blut«, sagte sie rätselhaft. »Irgendwo war da ein Tropfen schlechtes Blut.« In der Dubliner Innenstadt, auf der breiten Sackville Street, hinter der riesigen Statue von Daniel O’Connell, dem Befreier, kam es zu Handgemengen zwischen den beiden Parteien, denen, die trotz allem Parnell unterstützten, und seinen Gegnern. Hüte wurden mit Holzstangen heruntergeschlagen, und die berittene Dubliner Polizei ritt hin und her, brüllte, beugte sich von den Pferden und schwang ihre langen, bleiverstärkten Knüppel, um Ordnung zu halten. Einmal hatten, zur Teezeit, Prentiss und seine Mutter so einem Handgemenge von den hohen Fenstern des Imperial Hotel, gegenüber den weißen Säulen des Hauptpostamtes, zugesehen. Sie und die anderen Gäste hatten entsetzt und fasziniert an den Fenstern gestanden, während die beiden Menschenmengen um Lord Nelson auf seiner hohen Säule wogten, auf die seine großen Siege an den vier Seiten des Sockels eingemeißelt waren, Trafalgar und die anderen. »Da haben Sie’s«, hatte eine der anderen Damen zu seiner Mutter gesagt, »das Land hat sich in das reine Tollhaus verwandelt.« Seine Mutter hatte nicht geantwortet, und als Prentiss sich zu ihr umgedreht hatte, hatte er gesehen, wie sie sich auf ihre vollen Lippen biß und daß ihr die Tränen in den Augen standen.

»Für diese Burschen war es viel einfacher«, sagte sein Vater. Er strich mit der flachen Hand über die Illustrated London News. Er blätterte die großen, breiten Seiten um.

»Da«, meinte er dann, als er eine weitere Seite umgeschlagen hatte, »das war die Schlacht hier bei uns, in Tallaght.« Das Bild der Schlacht bedeckte die ganze Seite. Unter einem Winterhimmel zielte und feuerte eine Reihe von Soldaten, oder vielleicht von Polizisten. Hinter ihnen, schemenhaft und vage, hinter dunklen Gebäuden und blattlosen Bäumen, war ihr Ziel eine undeutliche Masse. Und in der Ferne, tief über einem nahen Horizont, waren die Dublin Mountains zu sehen. »Das war der große Aufmarsch der Fenier«, sagte sein Vater. »In Tallaght.« Tallaght war nicht weit von ihnen entfernt, eine kurze Fahrt von Palmerston Park brachte sie in die sanft abfallenden Vorhügel, in das Dorf mit seinen Vorstadtvillen. »Die Irish Constabulary, so hießen sie damals«, erzählte sein Vater weiter. »Die Königin hat ihnen als Belohnung für ihre Dienste im Kampf gegen die Fenier das königliche Adjektiv verliehen. The Royal Irish Constabulary. Sie haben die Fenier niedergeschlagen, nicht die Armee.« In der nächsten Nummer der Illustrated News gab es noch einen ganzseitigen Stich.

»Gefangene Fenier werden in Dublin auf dem Weg zum Mountjoy-Gefängnis aus dem Lower Castle geführt.« Eine schöne Wiedergabe vom Dublin Castle, von dem alten, zinnenbewehrten Turm und der Kapelle. Der Hof war übersät von Kavallerie und Infanterie; dahinter befand sich eine Menge gaffender Zuschauer mit gereckten Hälsen. In der Mitte, fast nicht zu sehen, und zu beiden Seiten durch Doppelreihen von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett bewacht, stand eine Menge grobgekleideter Männer, die aus Trotz oder Scham ihre Köpfe gesenkt hatten.

»In der Tat«, sagte sein Vater. »So ist das damals gewesen.« Geistesabwesend klappte er das Buch wieder zu. Auf dem lila Hintergrund regierte die siebenfach gekrönte goldene Königin über die Ereignisse der Welt. Die Vergangenheit war wieder in brüchige Seiten eingesperrt, um neben die gebundenen Jahrgänge von Punch zurückgestellt zu werden. Allerdings nicht endgültig. Denn an den Tisch im Palmerston Park war der weißbärtige O’Brien getreten, der zum Hängen, Strecken und Vierteilen verurteilt worden war, und Delaney, an den Prentiss sich nicht erinnern konnte, dem seines Vaters Worte jetzt jedoch einen düsteren Glanz verliehen hatten, ein Anhänger Parnells, dieses gefallenen Luzifers.

»Es war alles hoffnungslos, weißt du, Patrick« sagte sein Vater. »Vereinzelte Aufstände, Schießereien, einige Tote. Wie der Aufstand des armen Emmet ein halbes Jahrhundert zuvor. Als alles vorbei war und die armen Teufel tot waren oder auf ihren Prozeß warteten, kam ein mit Waffen beladenes Schiff aus den USA an. Und das ausgerechnet in Sligo. Das Kriegsschiff der Fenier wurde es genannt. Seltsam, daß die Illustrated News kein Bild davon hatten.« Normalerweise machte sein Vater sich bald wieder an die Arbeit, um Prentiss zu verstehen zu geben, daß das Gespräch beendet war. Nun jedoch wirkte er zerstreut.

Das Sonnenlicht des Sommernachmittags fiel durch einen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen ins Zimmer. Bald würden sie in die Ferien fahren, sein Vater, seine Mutter, er selber und Elizabeth, seine Schwester. Dieses Jahr sollte es nach Italien gehen, ein Land, das außer seiner Mutter niemand von ihnen bisher besucht hatte. Als junges, eben erst aus der Nonnenschule entlassenes Mädchen war sie mit ihren eigenen Eltern dort gewesen und hatte Erinnerungen an enge, steile Straßen, kühle, schattige Kirchen und die unermeßliche Weite des Petersdoms zurückgebracht.

»Sie mußten entsetzlich leiden im Gefängnis«, erzählte sein Vater. »Die Engländer haben sie barbarisch mißhandelt. Als junger Jurist war ich beim Amnestie-Komitee. Ich erinnere mich an die ersten Entlassungen – O’Leary, Luby, Devoy.« Er sah, daß Prentiss ihn scharf musterte und lächelte. »Wir sind ein seltsames Volk, Patrick. Kein Wunder, daß die Engländer uns nicht verstehen können.« Er nahm seine Feder auf, berührte ihre Spitze mit dem Zeigefinger und tauchte sie dann in sein elegantes Tintenfaß aus Messing und Malachit. »Tapfere Männer«, sagte er. »Tapfere, unwissende Männer.« Dann senkte er seinen Löwenkopf wieder über die Arbeit.

Die Hitze des Sommers von Devon war fast greifbar, eine dicke Decke aus unbeweglicher Luft. Kirche, Brücke, Bach, Pfad, die bewegungslosen Farne, wie elegante tiefgrüne Stickereien, das Summen der Bienen, das der schweren Luft eine Stimme zu geben schien, das alles erzählte ihm von einer geordneten Welt, einer geordneten Geschichte. Dieser Anblick mit seiner salbungsvollen Harmonie mißbilligte den zerrissenen Bericht, den er zusammenzüstückeln versucht hatte. Bald würde in Dick Leeses Pfarrhaus der Tee warten, in diskreter Entfernung von der Kirche im Garten aufgetragen, in der Nähe der Beete mit den roten und rosa Rosen, und die Hände der jungen Eleanor Leese würden wie weiße Vögel über die Tassen huschen. Die Fenstertüren, die vom Arbeitszimmer in den Garten führten, würden weit aufgerissen sein, und im dunkler werdenden Zimmer würden die Bücherregale im Schatten liegen. Die Kirchenväter und die neuen Romane aus Paris standen dort nebeneinander. Die Kirche selber stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert, aber Dick konnte ihre Geschichte bereits aus dem Ärmel schütteln: die Namen ihrer Erbauer, der Edwardianischen Reformer, die Statuen und Altarbilder entfernt hatten, Heilige aus Stein und Gips, blau angemalt und vergoldet, die wild durcheinander neben den Gittern gelegen hatten, die lange Schläfrigkeit des 18. Jahrhunderts mit seinen trinkfesten, rotgesichtigen Pastoren, der Fast-Skandal eines Ritualisten aus der Oxford-Bewegung um 1850, Mrs. James in den 80er Jahren, die farbenfrohe indische Schals getragen hatte und verrückt geworden war, ihr gelehrter Ehemann, der seine Geschichte der Pfarre niemals vollendet hatte. In England war die Geschichte eine gütige Meereskreatur mit trägen, besonnenen Bewegungen, deren Umfang sich Schicht um Schicht ausdehnte, ein schillernder Panzer. Irische Geschichte, seine eigene Geschichte, bestand aus Scherben, Fragmenten, den zusammengestürzten Steinen zerstörter Abteien, Burgen. Hier bestand kein Bedarf an Mr. James’ unvollendeter Chronik der Pfarre, sie blühte in den gepflegten Gärten, sie flüsterte in der kühlen grauen Stille der Kirche, deren Gottesdienst Prentiss an diesem Sonntag besucht hatte, ein verkleideter Papist, der der Predigt seines Oxforder Freundes lauschte, einem milden einschläfernden Kommentar zu einer Bibelstelle. Prentiss saß inmitten der Gemeinde, Grundbesitzern, Anwälten und Ärzten, wohlhabenden Farmern, Dienstboten.

Nun, auf dem Rückweg, wandte Prentiss sich vom Bach ab, kehrte Brücke und Kirchturm den Rücken. Der Duft der Rosen war jetzt stärker geworden, und im Garten erwartete ihn, wie er gedacht hatte, sein Freund, in einer abgetragenen Jacke aus leichtem, hellgrauem Tweed, mit rundem, massivem Kopf und Gesichtszügen, die schon auf den ersten Blick zuversichtlich, interessiert, freundlich gewirkt hatten. Er war ein Teil dieser Welt, was Prentiss selber niemals sein könnte, trotz New College, seinem Club in London, seiner Wohnung beim Embankment.

»Mir kommt das immer noch diffus vor, das muß ich zugeben«, sagte Leese. »Eine formlose Farce.« Geschickt schnitt er ein Muffin durch und bestrich die eine Hälfte mit einem Löffel von Eleanors Erdbeermarmelade. »Bauern und Ladenschwengel stehen auf in einer Handvoll von Städten. Auf Befehl einer Verbrecherbande aus New York, die sich die Taschen mit jämmerlichen halben Dollars von Dienstmädchen und Eisenbahnarbeitern vollstopfen. Denunzianten und Scharlatane. Wenn du unbedingt eine Rebellion willst, warum nimmst du dann nicht eine richtige? Versuche’s mal mit der von Tyrone – ›dem entsetzlichsten Rebell, der sich je wider sein Königreich erhoben‹, wie Elizabeth ihn genannt hat.«

Aber Prentiss erinnerte sich an Kilpeder und Macroom, verdreckte strohgedeckte Hütten, schlammige Straßen.

»Diese Bauern und Ladenschwengel«, sagte er. »Warum haben sie zu den Waffen gegriffen, Dick? Ich weiß es selber nicht. Noch nicht. Sie wußten, was sie riskierten, weißt du. Und sie haben diesen Preis bezahlt, einen entsetzlichen Preis. Einige von ihnen haben im Gefängnis den Verstand verloren.«

»Haben sie das wirklich?« fragte Leese. »Den Preis gekannt? Hier ist das Land der Monmouth-Rebellion, weißt du. Genau hier. Verwirrte Bauern, die diesem törichten jungen Mann als ›König Monmouth‹ gehuldigt haben. Jeffrey hat drüben in Dorchester Gericht über sie gesessen, Schübe von ihnen in Kitteln und zerfetzten Hosen. Die Schurken, die sie aufgestachelt hatten, wußten, was sie taten – Shaftesbury und die anderen. Sie wollten Macht. Aber die Bauern glaubten… was? Daß sie ihre wahre Religion gegen Papisten wie dich verteidigten, vielleicht. Was sie vor Gericht und unter dem Galgen gesagt haben, ist nicht vollständig aufgezeichnet worden. Elende Analphabeten, die Gott um Vergebung anflehten.«

»Die Fenier haben nicht gefleht«, sagte Prentiss. »Sie haben weder Gott noch Queen Victoria um Verzeihung gebeten.«

An einem Galgen in Manchester fand eine dreifache Hinrichtung statt: O’Brien, Larkin und Allen hatten sich geküßt, ehe sie ruhig auf die schwarzen Kapuzen, den Strang warteten. Aber sie hatten ihr Ziel erreicht: Sie hatten Kelly gerettet, den Mann, der Stephens als Anführer der Fenier-Armee ersetzt hatte. In der Hölle von Dartmoor hatten einige Fenier eine bedingte Amnestie abgelehnt. Prentiss hatte in New York mit einigen von ihnen geredet, nun alte Männer, die sich prahlerisch an zerfetzte Erinnerungen klammerten, an zerrissenes leuchtendes Fahnentuch. Ebensowenig wie Dick Leese konnte er verstehen, was sie einst empfunden hatten, Jungen mit Piken und gestohlenen Schrotflinten.

»Es war ein wüstes Durcheinander, nicht wahr?« fragte Leese. »Das ist alles, was jetzt noch darüber bekannt ist. Das Fenier-Fiasko. Operettengeneräle und durcheinanderlaufende ›Colonels‹, und dann ein paar Scharmützel.«

»Es war ein Chaos«, gab Prentiss zu. Das wußte er aus Notizen und alten Zeitungsausschnitten, aus den Protokollen der Prozesse, aus den Erzählungen der alten Männer – nicht ausführlich, nicht wahrheitsgetreu –, aus den Staatsakten, die er hatte durchsehen dürfen. An der Spitze Eitelkeit, dumme Fehler, Verzweiflung, und unten Burschen, die hinter einer Scheune oder in einer dunklen Schenkenecke ihren Eid abgelegt hatten.

Der Aufstand wurde von New York aus geleitet, erzählte er Leese. Dreitausend Meilen entfernt, spät nachts, nach öffentlichen Versammlungen, in schäbigen Logierhäusern in Seitenstraßen des Broadway. O’Mahoney war beiseite gedrängt worden. In seinem Schrank hing, nun verstaubt, die Uniform, die er als Colonel in der Nordstaatenarmee getragen hatte, eine Geste der Yankee-Regierung, um unter den jungen Iren, die in den Werften von Manhattan und Brooklyn arbeiteten, Rekruten zu werben. In seinem Kopf wirbelten immer noch die Nebel der keltischen Sage, Finn und Cuchulainn, wunderbare Helden. John Roberts, rivalisierender Anführer, der sein Haus zu einem Feniertreffpunkt gemacht hatte, wo Stabsoffiziere in einem mit Bourbonflaschen, Zigarrenkisten, Spucknäpfen ausgestatteten Salon herumlungerten, hatte Pläne, die eines Cuchulainn würdig gewesen wären: ein Kriegsschiff, das englische Handelsschiffe überfallen sollte, eine Invasion Kanadas. Die öffentlichen Versammlungen, egal welchen Lagers, waren riesig groß, die New Yorker Iren strömten herbei, um sich an Rhetorik und Prahlerei gütlich zu tun, an Roberts, mit leuchtenden Wangen über seinem buschigen Bart, hinter ihm auf dem Podium seine Veteranen aus der Potomac-Armee, Männer in viereckigen Stiefeln, blauen Uniformröcken, an denen einst goldene Knöpfe gesessen hatten. Bei anderen Versammlungen, in einem Vortragssaal in der Nähe von Cooper Union, O’Mahoney und seine Veteranen, O’Mahoney groß und blaß, sein herabhängender Schnurrbart kriegerisch und melancholisch zugleich, ein Ehrenmann, romantisch und düster, der sein geheimes Wissen hegte, daß die Stunde vorbei war, falls es sie je gegeben hatte.

Hin und her über den Atlantik, aus Frankreich, aus Irland, reiste Stephens, an seabhac, der Habicht. Seine Wanderung der tausend Meilen, durch die vier Provinzen Irlands, lag jetzt zehn Jahre zurück. Den Berichten zufolge, die die Regierung in Dublin von Denunzianten und Polizisten auf dem Lande erhielt, war er überall. Ein Sergeant in Dungarvan hatte gehört, er sei in Waterford, nun blind, mit einem kleinen Jungen als Führer. In Leitrim, dem County der Moore und der nassen Weiden, der schilfumwachsenen Seen, sprach er vor eingeschworenen Männern, bei Nacht zusammengerufen, und er war bärtig wie ein Prophet des Alten Testaments und bewaffnet. Die Stunde ist da, sagte er ihnen, im Jahre 66. Das berichtete der Sergeant aus Carrick-on-Shannon, mühsam zu Papier gebracht in runder Schuljungenschrift.

Wann immer er jedoch wirklich erschien, verschwand die Sage in der Haut des Mannes. Er hatte durch Überheblichkeit und Prahlerei die Hoffnungen seiner Anhänger geweckt, war von seinen eigenen Versicherungen aufrecht gehalten worden, daß am Ende alles in Ordnung kommen, daß die Truppen sich zu Zehntausenden versammeln würden, bewaffnet und exerziert. Aber wenn er zur Tat gerufen wurde, schrumpfte der Mythos, den er geschaffen hatte, auf seine wirkliche, eiskalte Größe zusammen. Im düsteren Dezember 65, in Kellys Dubliner Quartier, als Devoy und seine Abteilung, bewaffnet mit amerikanischen Revolvern, die Grantham Street bewachten, während gelber Nebel vor den roten Ziegeln aufstieg, hatte Stephens an einem dunklen Nachmittag den Aufstand abgeblasen. Nur für einen Monat, vielleicht zwei, aber auf keinen Fall für länger. Er mußte wieder nach Amerika, mußte die dortige Spaltung wieder ausgleichen, Waffensendungen organisieren. Es hatte zu viele Verhaftungen gegeben – O’Leary und O’Donovan Rossa in Dublin, Kenealy und Keane in Cork. Die Leitung mußte neu organisiert werden. Zu zweit und zu dritt brachten Kelly und Devoy die Kommandeure in das Wohnzimmer in der Grantham Street, wo er ihnen gegenüber hinter einem niedrigen Tisch saß, an seabhac, der Legendäre. Einen Monat, vielleicht sechs Wochen.

Ein fataler Aufschub? Die Fenier sollten diese Frage ein halbes Jahrhundert lang diskutieren. Devoys Meinung zufolge, die er Prentiss in einem Restaurant in Manhattan mitgeteilt hatte, hatte Stephens alles verdorben. Die Regierung konnte nun in aller Ruhe die Regimenter irischer Soldaten ersetzen, die er und Boyle O’Reilly mit Engelsgeduld rekrutiert hatten, die rotberockten Gemeinen Soldaten und Corporals, denen sie in einer Schenke in der Camden Street den Eid abgenommen hatten. Bis Ende Februar war die habeas corpus-Akte ausgesetzt worden, und Devoy und Hunderte andere saßen im Gefängnis.

»Er hat alles verdorben«, sagte Devoy, unversöhnlich, nicht bereit zu verzeihen. »Als Kelly und ich ihn aus Richmond herausgeholt haben, hatten wir das Spiel in der Hand. Das weiß ich, Mr. Prentiss, das ist keine Spekulation. Während dieser Monate nach Richmond habe ich seine Leibwache kommandiert. Das Land war organisiert, Dublin war organisiert. Wir hätten Dublin einnehmen können.«

»Ohne Waffen?« fragte Prentiss.

»Waffen? Wir hatten Waffen. 12000 eidgebundene Männer allein im County Dublin, und Waffen für tausend von ihnen. Ganze Regimenter hatten geschworen, sich gegen ihren Kommandanten zu erheben. Das Pigeon-House-Arsenal war voll von Waffen, und es war zum Pflücken reif. Aber nach dem Februar wurden sie über die See nach Chester Castle gebracht. Deshalb mußte MacCafferty ein Jahr später seinen Überfall auf Chester versuchen.«

Ein Jahr später. Bis zum Mai 66 hatte Stephens sich in Dublin bedeckt gehalten und sich dann abermals auf den Weg nach New York gemacht. 67, versprach er jetzt, sollte das Jahr sein. Im November sprach er vor einer Versammlung von 50 000. »Mein letztes Wort«, sagte er, »ist, daß wir im Januar auf irischem Boden kämpfen werden und daß ich da sein werde, mitten unter meinen Landsleuten.« In der folgenden Nacht wiederholte er dieses Versprechen vor seinen Leutnants, vor Kelly, Burke, McCafferty und den anderen. Alle glaubten ihm. Danach wurde die zweite Welle von Offizieren nach Irland geschickt, zu denen auch der junge Edward Nolan gehörte, »Ned« genannt von seinen Freunden und von den Freunden seines Vaters, dieses treuen Besuchers der Massenveranstaltungen, Vertreibers von Petitionen, Verteilers von Flugblättern, Liebhabers von Bourbonwhiskey, dieses streitsüchtigen, gedankenlosen, liebenden Vaters.

»Ein Marktschreier«, sagte Dick Leese in mildem Tadel, im tiefen Grün des späten Sommernachmittags von Devon. »Stolzierte von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Spie Feuer und Schwefel auf öffentlichen Podien, hatte aber Angst, als es darauf ankam. Und ließ es sich in New York zweifellos wohl sein. Eine Suite in einem guten Hotel und alles, was dazu gehört, Austern und Roastbeef.«

»In einem anständigen Hotel«, korrigierte Prentiss. »Schließlich hatte er eine Position zu bewahren. Er war der Chef der Fenier. Organisator der Republik Irland lautete sein Titel.«

Erwärmt von Leeses ruhigem, amüsiertem Blick, lächelte er dann jedoch. »Na gut«, sagte er. »Es war eine erbärmliche Farce. 65 hat Stephens in New York den Aufstand abgeblasen, und ein Jahr später tauchte er dort wieder auf und machte weiter. Aber sein Glück – wenn man das als Glück bezeichnen kann – war aufgebraucht. Er wurde dann und dort abgesetzt. McCafferty hielt ihm einen Revolver an die Schläfe und teilte ihm mit, er sei abgesetzt. Er weinte, und sie betrachteten ihn mitleidig und angewidert. McCafferty und Halpin und die anderen, harte junge Männer, die im Krieg an Guerillakämpfen teilgenommen hatten.«

»Mit Fug und Recht«, meinte Leese.

Mitte Januar machten sie sich auf die Überfahrt nach Frankreich, und von dort aus sollten sie nach London weiterreisen. Sie versprachen, Stephens mitzunehmen, der jetzt ein Symbol war, eine ausgebrannte Legende für die, die mit ihm zu tun gehabt hatten, für die irischen Bauern und die britische Regierung jedoch gleichermaßen ein grenzenlos gefährlicher und einfallsreicher Mann. Sie erwarteten ihn auf einem Pier in Brooklyn, in der dunklen, bitteren Kälte eines New Yorker Winters, und am Morgen standen sie bis zum Ablegen an der Reling. Weiche weiße Schneeflocken fielen vom Himmel. Sie fuhren ohne ihn.

»Und das also war das oberste Kommando deiner Fenier-Armee«, sagte Leese ungläubig. »Ein halbes Dutzend oder so von jungen Schlägern mit seehsschüssigen Revolvern, die sich auf die Reise nach Europa machten, Straßenräuber auf der Suche nach Aufregung und Ruhm.«

Er lebte danach noch viele Jahrzehnte, in Frankreich, dann in New York, dann wieder in Paris. Endlich, als er schon sehr alt war, durfte er nach Irland zurückkriechen, zu einer Hütte am Südufer der Bucht von Dublin, sein langer Bart war jetzt weiß, wie bei einem Patriarchen. Er war eine lokale Sehenswürdigkeit. Prentiss konnte ihn als Junge durchaus gesehen haben, wenn er mit seinem Vater über die Küstenstraße zum Pier von Kingstown gefahren war. James Stephens, an seabhac, der legendäre Fenier-Führer. In der Legende der Fenier, die das Unternehmen mit besudelten Wolken der Romantik verschleierten, hatte Stephens in der Nacht nach Abreise der anderen den verlassenen Pier von Brooklyn aufgesucht, dessen Pflaster einen Zoll hoch mit schmutzigem Schnee bedeckt war, zerfahren von Karrenrädern, besudelt von Karrengäulen.

»Die Organisation gehörte nach Irland«, sagte Prentiss. »Nicht nach New York oder London. Ortskommandeure in Dublin und Cork, in den einzelnen Städten im Süden – Tipperary, Kerry, Limerick, Waterford. Sie warteten schon zwei Jahre, exerzierten, warteten auf Waffen und trainierte Soldaten aus Amerika. Aber sie ließen sich nach diesem Frühling 67 nicht mehr zusammenhalten. Über das Land war Kriegsrecht verhängt worden, Dutzende von Männern waren im Gefängnis, es liefen Gerüchte um über Denunzianten und Polizeispitzel. Jetzt oder nie, hieß es, überlegten sich Kelly und die anderen. Der Aufstand wurde für den 6. März angesetzt. McCaffertys Überfall auf Chester Castle war ihre letzte Chance, um zu Waffen zu gelangen.«

»Und sie wollten sich aus dem Königreich lösen, die Union zertrennen, eine Republik ausrufen«, sagte Leese. »Sonst noch was? Oder war das schon der ganze Einkaufszettel?«

»Eine minimale Liste«, erwiderte Prentiss. »Darauf hatten sie sich geeinigt. Einige von ihnen wollten auch den Großgrundbesitz unter die Pächter und die Landlosen verteilen.«

»Jack Cade also«, sagte Leese. »Ein Bauernaufstand, mit Dampfschiffen und Telegrammen und Depeschen und amerikanischen Revolvern.«

Eleanor Leese kam durch die offene Glastür auf sie zu, ihr Rock fegte durch das Gras. Sie trug einen Weidenkorb in der Hand, in dem nur ihre Gartenhandschuhe lagen. Ihre kastanienroten Haare waren von der hohen, blassen Stirn zurückgekämmt. Eine kleine goldene Uhr war an ihrer Hemdbluse befestigt. Sie verlieh ihr einen ironischen Hauch von Schulmeisterin; sie war nämlich durchaus kein Bücherwurm, sondern eine muntere, zu Scherzen aufgelegte junge Frau.

»Patrick hat mir von seinen irischen Revolutionären erzählt«, sagte Leese. »Ein erbärmlicher Haufen.«

»Du darfst dich über Patrick nicht lustig machen«, mahnte sie.

»Erbärmliche Leute«, beharrte Leese. »Revolverhelden und Brandstifter. Eleanor und ihre Familie hatten ein Sommerhaus in Irland, Patrick. Haben wir dir das erzählt?«

»In West Cork«, sagte Eleanor. »An der Küste, bei Glengarriff. Mein Bruder fährt immer noch zum Fischen dorthin. Als wir Kinder waren, kam es uns vor wie verzaubert. Das Meer und die Berge, die die Heide lila gefärbt hatte. Die Pfarre meines Vaters lag in Süd-London, weißt du. Im Winter war es dort um vier Uhr nachmittags schon dunkel. Im Februar dachten wir nur noch an Glengarriff, sogar Vater. Die weiche Luft und der nebelfeine Regen. Das Licht ändert sich dauernd, wunderbar für Aquarelle. Und die Menschen sind reizend. Ich meine nicht den Landadel, Patrick, ich meine die normalen Menschen, die Bauern. Du kennst Glengarriff doch sicher, Patrick?«

»Ja«, antwortete Prentiss. »Es liegt in der Nähe des Marktflekkens, der im Mittelpunkt meines Buches stehen soll. Einer Stadt namens Kilpeder. Es gibt eine Straße nach Norden, durch den Paß von Keimaneigh, an Gougane Barra vorbei. Die Berge ragen auf und fallen dann wieder ab, und Kilpeder liegt dazwischen. Es ist ein ganz normaler Ort, ganz anders als Glengarriff.«

»Glengarriff«, wiederholte Eleanor, ließ sich zwischen ihnen nieder und stellte ihren Korb ins Gras. »Es wird bald kalt, aber ist es gerade jetzt, in dieser halben Stunde, nicht wunderschön? Wenn die ersten Schatten über das Gras fallen? Diese Unruhen, über die du schreiben willst, Patrick, haben Glengarriff sicher nie berührt. Ich habe nie von ihnen gehört. Wir hatten dort Freunde, irische Freunde. Die Butlers und die Armours, und einen wundervollen alten Mann namens Hassett, der allein hoch auf einem Hügel mit phantastischem Blick auf die Bucht lebte. Im Sonnenuntergang war sie lila.«

»O doch«, widersprach Prentiss. »Auch Glengarriff. Die Polizei in Glengarriff wurde angegriffen, konnte die Angreifer jedoch in die Flucht schlagen. West Cork gehörte den Feniern. Deshalb habe ich mich dafür entschieden. Es gibt Spuren, aber Sommergäste würden sie nicht bemerken.«

In Skibbereen ein Hungergrab, auf einem Friedhof oberhalb des Flusses, eingesunkene Erde. Anonym, keine in Stein eingravierten Namen. Die Leichen waren aus dem Arbeitshaus dorthingebracht worden, erstarrten in Särgen aus billigem Fichtenholz. Ein ungepflegtes Grab, groß wie ein Feld, von Unkraut überwuchert, eine schändliche, aus der Erinnerung getilgte Geschichte. »Arme landlose Menschen«, hatte ein alter Mann zu ihm gesagt. »Sie hatten fünf Acres, wenn es hoch kam. Die Krankheit hat die meisten von ihnen geholt, das Fieber. Das habe ich jedenfalls immer gehört.« Es war Sonntag nachmittag. Er war mit Kindern, Enkelkindern gekommen und hatte Blumen für ihre eigene, gutgepflegte Grabstätte gebracht, die ein knöchelhohes Gitter, eine Statue der Heiligen Jungfrau mit gesenktem Kopf, Umhang und ausgestreckten Armen aufweisen konnte. Frühlingsblumen wuchsen im hellen Gras. Seine Söhne, breitschultrige Bauern, sorgfältig gekleidet, beobachteten voller Verlegenheit, wie er Prentiss das Grab erklärte, die Hungersnot war nun eine verhüllte Legende. Auch die Fenier waren nun Legende, eine lichtere Legende, von bewaffneten und kühnen Männern aus den Bergen, von der Zeit gemildert. Aber Eleanor und ihr Vater, der für die Ferien sein geistliches Gewand abgelegt hatte, würden darüber wenig von ihren Freunden, den Armours und den Butlers, gehört haben. Oder von der höflichen, ehrerbietigen Ortsbevölkerung. Schöner Tag, Euer Ehren, sicher springen die Forellen Ihnen heute in die Hand.

»Unruhen«, sagte Dick und gab ihre Worte in zärtlichem Spott wieder. »Unser Patrick hat eine ausgewachsene Rebellion auf dem Menü. Hochverrat, bewaffneter Aufstand, Gewehre aus Amerika.«

»Die Gewehre sind nie eingetroffen«, korrigierte Prentiss.

»Es gab die Boykottaktionen«, sagte Eleanor. »Von denen haben wir gehört. Hatten die Fenier damit zu tun?«

»Die Boykottaktionen kamen mit der Land League«, antwortete Prentiss. »Mit Parnell. In den 80er Jahren.«

»Es klingt alles so romantisch«, meinte Eleanor. »Wie in einem Roman. Ich kann wirklich nicht begreifen, warum Dick sich über dich lustig macht. Warum machst du dich über ihn lustig, Dick?«

»Ich mache mir Sorgen um unseren Patrick«, antwortete Leese. Aus einer ausgebeulten Tasche zog er Pfeife und Tabaksbeutel. Der Tabaksbeutel überbrückte die Jahre zwischen Oxford und Devon. Prentiss erinnerte sich an ihn. Unser Patrick. »Ich spüre, wie das Stammesblut in Wallung gerät. Wenn wir Farbe und Lack des New College wegkratzen, dann finden wir einen wütenden irischen Rebellen an unserem Tisch und in unserem Garten. Einen Dynamitmann, bereit, unsere arme kleine Brücke in Trümmer zu sprengen. Wie der Bursche, der versucht hat, London Bridge in die Luft zu jagen. Patrick weiß bestimmt, wie er hieß. Wie hieß er doch noch gleich, Patrick?«

»Lomasney«, antwortete Prentiss. »William Mackey Lomasney.«

»Da hast du’s!« sagte Leese zu Eleanor.

»Er gehört auf gewisse Weise zu meiner Geschichte«, erzählte Prentiss. »Lomasney hat 67 die Polizei in Ballyknockane angegriffen. Er war mit Ned Nolan im Gefängnis. Ned war vielleicht bei der London Bridge dabei. Das weiß ich aber noch nicht sicher.«

»Da hast du’s«, sagte Leese noch einmal und grinste, während er den Pfeifenstiel zwischen starken, ebenmäßigen Zähnen hielt. Langsam bewegte er ein brennendes Streichholz über dem Pfeifenkopf hin und her. »Patrick ist sehr angetan von diesem Mr. Nolan. Er war länger bei uns, sozusagen, als die meisten anderen, nicht wahr?«

»Gewissermaßen«, bestätigte Prentiss. »Vor dreizehn Jahren hat er einen Mann getötet. Dort, in Kilpeder, wo alles angefangen hat.«

Eleanor griff sich mit der Hand an den Hals, und sie sah Prentiss aus weitaufgerissenen Augen an, als ob er einen Klumpen Torf auf den Tisch geworfen hätte, zwischen Teetassen und die Platte mit den Sandwiches.

»Da hast du’s«, sagte Leese zum drittenmal. In Oxford war er derselbe gewesen, ein viel schwerer zu befriedigender Fragensteller als Prentiss’ Tutor. »Aber warum willst du das denn?« fragte er manchmal irgendeine unbegabte Frohnatur, die nichts anderes im Sinn hatte, als Oxford zu verlassen und das Familiengeschäft zu übernehmen. »Warum Ceylon? Warum Tee?« – »Warum die Kirche?« hatte Prentiss ihn einmal gefragt, um ihn seinerseits in die Enge zu treiben. »Warum willst du dein Leben lang die Kinder von Bauern taufen und ihre unverheirateten Tanten begraben?« – »Ach«, hatte Leese geantwortet, plötzlich ausweichend. »Es gibt doch noch mehr als nur das, weißt du.« Und hier saß er nun, im Pfarrgarten, voller Selbstvertrauen wie immer.

»Das sieht dir so wenig ähnlich, Patrick«, sagte Eleanor. »Wirklich,« Sie stützte ihr Kinn in die Hand und lächelte ihn an. »Hat es politische Gründe? Siehst du eine Karriere für dich in der irischen Politik? Ich glaube nicht, daß die Iren gern an ihre Revolverhelden und Mörder erinnert werden wollen. Oder vielleicht doch?«

»Durchaus möglich«, antwortete Prentiss. »Du würdest sie für ein seltsames Volk halten, Eleanor. Einer der Revolverhelden von Kilpeder ist in die Politik gegangen, hat geholfen, diese Boykotts zu organisieren, von denen du gesprochen hast, und hat später mit Parnell im Parlament gesessen.«

»Kurz gesagt«, meinte Leese, »hat das Beste aus seinem Verrat gemacht.«

»Vielleicht hoffe ich auch, das Beste daraus zu machen«, sagte Prentiss. »Mir als Historiker einen Namen zu machen.«

»Nicht sehr wahrscheinlich«, erklärte Leese. »Nimm dir die Rosenkriege. Den Hof des Sonnenkönigs. Aber nicht Revolverhelden und von Heckenschützen ermordete Polizisten. Das ist guter, sensationeller Stoff, aber keine Geschichte.«

»Wir haben keine andere Geschichte«, erwiderte Prentiss. »Hinterhalte, Demagogen, Hungergräber. Das ist unsere Geschichte.«

»Wir«, wiederholte Leese. »Unsere. Jetzt nähern wir uns dem Kern der Sache. Siehst du das also so? Ein bißchen romantisch, wenn du meine Meinung hören willst. Dein Vater war doch wohl kaum ein Revolverheld, oder? Ein höchst ehrenwerter Anwalt, wenn ich mich recht erinnere. Und Oxford, wie du?«

»Ja«, bestätigte Prentiss, »höchst ehrenwert, ein Kronanwalt. Aber nicht Oxford. University of Dublin. Ein Trinity-College-Katholik. Bis zur Spaltung hat er Parnell unterstützt. Ehemalige Fenier waren Gäste an unserem Tisch. Ich habe Parnell einmal gesehen; er war zum Essen bei uns.«

»Aber keine Revolverhelden«, sagte Leese sanft, unnachgiebig.

»Nein«, bestätigte Prentiss. »Keine Revolverhelden.«

Aber Hugh MacMahon, ein Mann aus der Generation seines Vaters, hatte neben ihm auf Knockmany Hill gestanden und ihm das Feld gezeigt, auf dem Nolan und Delaney mit ihren Männern, darunter MacMahon selber, exerziert hatten. Eine Pöbelarmee mit einigen Dutzenden gestohlener Gewehre und Jagdflinten.

»Und an diesem Morgen haben wir uns schließlich hier versammelt«, sagte MacMahon. »Am berühmten Morgen des 6. März.« Er verlieh der Wendung eine Prise Ironie.

»Und der Schnee«, sagte er. »Der berühmte Schnee der Fenier. Es hatte ziemlich spät am vorherigen Nachmittag angefangen, gegen Abend. Der Himmel war schon dunkel geworden, mit schweren, tiefhängenden schmutziggrauen Wolken, aber der Schnee selber hatte dann gar nichts Graues; große, schöne weiße Flocken. Ich erinnere mich bis heute an diesen Schnee, in meiner Erinnerung vermischt er sich mit dem, was danach passiert ist.«

»Ja«, sagte Prentiss. »Ich habe von diesem schweren Schneefall gehört.«

»Nun ja«, meinte MacMahon. »So weit würde ich nicht gehen. In der Ballade heißt es so, das stimmt schon. ›When the snow fell fast in each mountain pass, from Cork to Aherlow.‹ Balladendichter sind eine traditionsgetreue Sorte von Menschen. Es gab keinen dichten Schneefall, wie die Sage behauptet. Ich bezweifle, daß die Pässe unbegehbar waren. Später war das so, als es zum zweitenmal geschneit hatte. Nicht daß wir überhaupt die Möglichkeit gehabt hätten, sie zu erreichen, nicht wir aus Kilpeder jedenfalls.«

»Traditionsgetreu«, wiederholte Prentiss und nahm damit dieses Wort in sein Magazin von Redewendungen auf.

»Der Überlieferung zufolge hat sich das Wetter gegen uns verschworen, die Wolken und der Wind. Ist Ihnen das nie aufgefallen? Die Stürme, die die Schiffe der Armada an unseren Küsten zerschellen ließen, gewaltige Seestürme. Wolfe Tone 96 in der Bantry Bay. Auch an diesem Weihnachtsfest gab es Stürme. Vom Deck seines Schiffes aus konnte er den Schnee auf den Berggipfeln sehen.«

Das dichtbewachsene Feld fiel im Osten zu einem kleinen, rotbraunen Moor hin ab. Geschichte auf diesem Hügel war ein Flickwerk aus zerfetzten Sagen.

»Wissen Sie«, sagte MacMahon, »es hat wirklich geschneit, aber es war ein seltsamer Schnee. Wir konnten ja nicht wissen, was die Jungs in Tipperary machten, oder in Limerick, wir hatten nicht einmal von O’Brien im Osten unseres eigenen Countys etwas gehört. Und Dublin, das alle für den Mittelpunkt der Ereignisse hielten, wie man sagt, war so weit von uns entfernt wie Konstantinopel. Das erzählte uns der Schnee. Wir waren von der Welt abgeschnitten. Dort unten, genau dort« – er zeigte mit seinem dornigen Schlehenknüppel »standen wir gegen Morgen und warteten, und auf der Welt gab es nur uns und den Schnee.«

»Aber es gab doch sicher Kuriere, die zwischen Cork City und Ihrer Abteilung hin- und hergeschickt wurden?«

»Sicher, die gab es«, erwiderte MacMahon trocken. »Phantastische Kuriere, und phantastisch wenige davon. Frühmorgens am Zweiten, einem Samstag, kam ein Bote von Tumulty und teilte Ned und Bob mit, daß der Aufstand beschlossene Sache sei und daß es jetzt kein Zögern mehr geben dürfe. Die Nacht des Fünften, oder, genauer gesagt, im Morgengrauen des Sechsten. Ganz egal, was in Kerry oder bei der Katastrophe von Cheshire Castle passiert war. Dann brachte er dieselbe Botschaft nach Millstreet und dann nach Mallow. Die Burschen in Mallow erwiesen sich jedoch als verdammt schwerhörig. Ach«, er unterbrach sich mit einem Lachen. »Recht hatten sie, wenn man es sich überlegt.«

Am ersten März war Massey, der die Operationen in Munster befehligen sollte, wie Prentiss bereits wußte, in Cork City eingetroffen. Einer der Fenier-Abenteurer, die aus dem Puppentheater hätten entsprungen sein können. Godfrey Massey, unehelicher Sohn eines Bauernmädchens und eines Junkers aus Castleconnell, Handelsreisender, Colonel (oder auch nicht) in der Südstaatenarmee, Freund von John O’Mahoney und Thomas Justin Nolan, Eckensteher beim Fenierhauptquartier in Manhattan, Feuerfresser.

Aber MacMahon sagte, wobei seine Worte hart zwischen Prentiss’ Gedanken einschlugen: »Ein Mann, der in Amerika General gewesen war, sollte uns in Munster kommandieren, sagte uns Ned, nachdem er mit Tumultys Boten gesprochen hatte. Wir sollten die Kaserne in Kilpeder besetzen, die Drähte durchschneiden und die Straße unpassierbar machen und dann nach Norden gehen, durch das Gebirge. Die anderen Kolonnen sollten dasselbe tun, und wir sollten alle nach Tipperary marschieren, wo der Mann, der General gewesen war, das Kommando übernehmen würde.«

»Aber dann passierte etwas«, sagte Prentiss sanft und übernahm damit MacMahons Gewohnheit der Untertreibung.

»Allerdings«, erwiderte MacMahon. »Es ist wirklich etwas passiert.«

»In dieser Morgendämmerung«, sagte Prentiss, »in der Stunde nach der Morgendämmerung, als Sie darauf warteten, daß Ned Nolan den entscheidenden Befehl erteilte.« Er versuchte, sich diese Szene vorzustellen, aber das häßliche, unkrautüberwucherte Feld hinderte ihn daran. In seiner Vorstellung fand sich nur ein Holzschnitt, Männer mit Gewehren und Piken, vielleicht einer grünen Fahne, und Nolan, der nach vorne und nach hinten zeigte, sein Gesicht unter dem breitkrempigen Hut verborgen. »Wissen Sie noch, was Sie gedacht haben, was die anderen gesagt haben? Waren sie erregt, hatten sie Angst?« Sie würden mit diesen Gewehren schießen, würden selber beschossen werden, Bauernknechte und Landarbeiter. Sicher hatten sie das Gefühl, die weiten, steinigen Felder, das düstere Moor, die tiefhängenden Wolken, die letzte noch zögernde Dunkelheit mißbilligten ihr Vorhaben.

»Wir haben uns an den Schnee erinnert«, sagte MacMahon. »In den späteren Jahren haben wir ihn oft erwähnt. Er hat uns Angst gemacht und dieses Gefühl vermittelt, von der ganzen Welt abgeschnitten zu sein. Ehe wir losmarschiert sind, ließ Ned uns mit Blick nach Süden in Formation gehen, mit Blick auf die Stadt, natürlich. Was dann später geschah, in der Stadt selber, ist eine andere Geschichte. Jeder von uns hatte andere Erinnerungen daran, abgerissene, grobe Erinnerungen. Vom Feld von Knockmany jedoch, dem Feld, das Sie hier vor sich sehen, erinnerten wir uns an den Schnee und an unsere – unsere Unschuld, könnten Sie sagen. Wenige Wochen später, im Gefängnishof, trafen wir Burschen aus anderen Städten, die uns dasselbe erzählten. Aber es gab auch Städte, wissen Sie, in denen der Aufstand überhaupt nicht stattgefunden hat. Der Schnee fiel auf leere Felder. Oder auf Felder, wo sich fünf oder sechs Männer versammelt hatten und ein paar Stunden warteten, einander dämlich ansahen und schließlich zurück zu ihren Häusern trotteten. Ach, wer kann schon sagen, was hätte geschehen müssen und was nicht?«

Er stützte beide Hände auf seinen Stock und preßte ihn in den von einem Regenguß am frühen Morgen aufgeweichten Torf. Hände mit dicken Fingerknöcheln, weiß wie Schulkreide.

»Ihr habt hier ein anderes Wetter«, sagte Prentiss, als er mit seinen Freunden im Pfarrgarten saß, im Zwielicht, in Devon.

»Oh, darüber läßt sich streiten«, sagte Leese gemütlich. »Ein Garten in Cork und ein Garten in Devon sind sich doch sicher sehr ähnlich. Irgend etwas macht dir zu schaffen, junger Patrick Prentiss.«

Debatte in einem Garten. Leese spätnachts in Oxford, den Bierkrug in der Hand, tief im Ledersessel verborgen, mit einem Vorrat von unschuldigen sokratischen Fragen. Hier übte er sich vielleicht, wenn keine Gäste da waren, an Eleanor, die es sicher mit ihm aufnehmen konnte. Prentiss lächelte beiden zu, schüttelte dann aber den Kopf und lehnte Leeses Einladung zum Disput ab.

»Wenn das so ist«, sagte er, »dann habe ich davon leider nichts gemerkt. Was eines Tages im März 1867 in Clonbrony Wood und was dort ein Vierteljahrhundert später an einem Winterabend passiert ist – das ist alles, was mir zu schaffen macht.«

Das, und die Ereignisse in den Jahren dazwischen – Gefängnisjahre, die Land League, die Boykottaktionen; Aufstieg und Fall von Bob Delaney, Vincent Tullys »muntere Scherze« und gelbgemusterte Westen, der abwesende Herr von Schloß Ardmor, auf dessen jetzt vernachlässigtem Rasen einst Rotwild geäst hatte; ein Frauenportrait, weiß und mit einem Hauch von rätselhafter Farbe, ein junger Hugh MacMahon in den siebziger Jahren, die Rebellion jetzt ein vager Nebel, unwichtig, MacMahon, der Musik, Lieder, Fragmente gälischer Dichtung in abgelegenen Bergdörfern sammelt, die Gesichter der alten Sänger, rund und verschrumpelt wie Holzäpfel, über den roten Kamin gebeugt; sein eigener Vater, gekleidet in feinen Wollstoff, Gold leuchtet neben der Westentasche auf, eine weiße, langgliedrige Hand glättet einen seidenweichen Bart, ein Essen in Brierly Lodge, eine aufgerissene Doppeltür, Revolverschüsse; Ned Nolan, der einst als junger Mann Männer in einem Feld unterhalb des Knockmany kommandiert hatte, wandert verwundet hinter Clonbrony in vom Regen verhangene Berge.

Die Schatten wurden dunkler, länger. Gras, und blühende Büsche, ein tiefes, dauerhaftes Grün hoben sich von ihnen ab. Es war nicht Irlands tieferes Grün, an das er sich erinnerte: taugetränkte, regenschwere Weideländer, ausufernde Hecken, die reichbelaubten Bäume des Sommers. Er erinnerte sich an Moore, rote und schwarze Moore, tote Vegetation, zerfasert, bearbeitet von den geheimen Säften vergangener Jahrhunderte. Auf Landzungen, oder jetzt umgeben von Weideland, halbzerstörte Burgen und Türme, Ruinen von Abteien und Klöstern, ein zerfallener Chor, die zerklüfteten Überreste eines zerstörten Querschiffs. Im Licht des frühen Morgens, grau, ungleichmäßig, eine verlassene Hütte ohne Tür, ein aufgerissener Mund ihr Eingang. Ein Regenpfeifer schreit jenseits eines vom trockenen, raschelnden Schilf des Winters umgebenen Sees. Er erinnerte sich an sein Land wie an nachlässige, zerstreute Geschichte.

Eleanor Leese erwiderte sein Lächeln, wollte aufstehen und legte deshalb die Hand auf den hohen geflochtenen Griff ihres Korbes. Selbst im traditionsverhafteten Devon bevorzugte sie eher unkonventionelle Röcke, leuchtendes Gelb oder Rot, die einen Kontrast zu ihren züchtigen Hemdblusen bildeten. Als sie sich zu dem Korb hinüberbeugte, bildeten ihre Hüfte und ihre Taille eine geschmeidige, glatte Linie. Einen Moment lang dachte Prentiss völlig unpassend an das Portrait in Ardmor Castle, schwarzer Samt und weißes, beunruhigendes Fleisch.

»Ich beneide dich, Patrick«, sagte sie, »du kannst in der Vergangenheit herumwühlen. Aber die hält niemals still, oder? Sie ist wie diese Kaleidoskope, die wir als Kinder hatten. So schöne Muster, und dann bewegen wir das Handgelenk einmal kurz, und die Farbstücke fallen auseinander und bilden ein völlig neues Muster.«

»Sei vorsichtig, meine Liebe«, meinte Leese. »Patrick wird dir sagen, daß das keine Rolle spielt. Was eine Rolle spielt, ist, daß es niemals kein Muster geben kann. Kaleidoskope und Historiker sind Mustermacher. Deshalb lieben wir sie ja so.«

Aber Prentiss wollte in diesem Moment nur Eleanor Leese ansehen, eine junge Frau im Zwielicht, in einem Garten voller dunkler werdender Blumen. Er beneidete Leese um seine lässige Folge solcher Abende und um die Gewißheiten, die sie mit sich brachten. Der Abend war dick wie Butter, die Luft schwer und wohltuend. Und doch schien Eleanor, mit ihren festen, sinnlichen und schlanken Hüften unter dem Leinen, nicht so vpllig mit dieser unstörbaren Ruhe verbunden zu sein. Das stellte er sich als Mustermacher in diesem Moment jedenfalls vor. Aber im nächsten Augenblick stand sie von ihrem Stuhl auf, faßte den Korb nun mit beiden Händen, und sie, die Frau seines Freundes, blickte ernst auf ihn herab. Einmal, vor Jahren, hatte ein junger Mann namens Bob Delaney zweifellos ebenso vorsichtig eine Frau angesehen wie Prentiss, ohne es zu wollen, Eleanor Leese angesehen hatte, und von diesem Moment an war Delaneys Schicksal besiegelt gewesen. Troja, gepfercht in eine heruntergekommene irische Stadt. Das stellte Prentiss sich jedenfalls vor.

»Zeit, an die Abreise zu denken«, sagte er zu beiden. »Dienstag, mit dem Frühzug.«

»Das hier verlassen?« fragte Leese in gespielter Überraschung, zeigte mit der Pfeife auf den Garten, und hinter dem Garten auf Bäume, Bach, See, Kirche, Brücke. »Das hier verlassen, wegen Notizbüchern, Akten und deinen irischen Briganten, Ladenschwengeln mit Pistolen?«

»Du sagst es«, antwortete Prentiss. »Ganz genau so. Der Ortskommandeur meiner Rebellen von Kilpeder war ein Ladengehilfe, ein junger Mann von Anfang Zwanzig. Und ein äußerst bemerkenswerter Bursche. In ruhigeren Zeiten wurde er Parlamentsabgeordneter, einer von Parnells Leutnants.«

Gespielte Überraschung verwandelte sich in gespielte Besorgnis. Leese schüttelte den Kopf. »Eine noble Karriere«, sagte er, »seine Tage bei dieser Parnellbande zu beschließen. Schieber, Viehhändler, Schmierenjournalisten. Nun gut, Patrick, mein Junge, geh zu ihnen zurück, wenn du mußt. Was sollen wir mit diesem Burschen nur machen, Eleanor?«

»Machen?« fragte Eleanor. Sie sah ihre Rosen an, ein Meer von unklarer Farbe. »Patrick scheint doch gut zurechtzukommen. Besser als meine Rosen. Sie brauchen Regen, die armen Rosen. War er glücklich im Parlament, Patrick, dieser Ladengehilfe?«

»Glücklich im Parlament!« wiederholte Leese. »Was für eine Frage! Aus dir wird nie eine Historikerin, findest du nicht, Patrick?«

»Ich glaube schon, daß er glücklich war«, sagte Patrick zu ihr. »Zuerst. Aber er beschloß seine Tage zu Hause in Kilpeder. Am Ende war er ein kleiner Landanwalt, setzte Testamente auf, befaßte sich mit Landübertragungen.«

Aber Eleanor war zu ihren Rosen gegangen, ihr Rock schleppte über das gleichmäßige, kurzgeschnittene Gras. Besorgt beugte sie sich über sie und berührte eine Blüte. Prentiss und Leese betrachteten sie voller Zuneigung. Jetzt war wirklich Abend, die Luft duftete nach Blumen.

Einige Tage später, als er wieder in London war, in seiner Wohnung im Pump Court, wo der Lärm der Stadt zu ihm getragen wurde, undeutlich und gedämpft, sollte Prentiss sich an die einsetzende Dämmerung erinnern, an eine schlanke Frau, die sich über Blumen bückte, sollte sich an seine Erinnerungen an diese andere Insel erinnern, an diese andere Stadt, den Marktplatz, Tullys Laden, wo Delaney einst gearbeitet hatte, wo sich Dennis Tully, an den Fingerknöcheln nagend, über seinen Kontobüchern den Kopf zerbrochen hatte, an die Polizeikaserne, seit einem halben Jahrhundert unverändert, die eine Gruppe von Männern im Märzschnee angegriffen hatte.

Pächter der Zeit

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