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Оглавление[Hugh MacMahon]
Ich erinnere mich noch gut an die Nacht, in der Bob und ich Ned Nolan in das Ödland von Knockmany geführt haben, wo er die Jungs kennenlernen und sich einen Eindruck davon machen sollte, wie wir mit ihnen exerziert hatten. Es war bitter kalt, jedenfalls für die Jahreszeit, der Boden unter unseren Stiefeln war hart und unnachgiebig. Eine Meile vielleicht folgte unser Pfad der Derrybeg, einem kleinen Bach, der in die Sullane mündet, und der von Wolken versteckte Mond glitzerte uns ab und zu von den vereisten Bachufern her an. Wir gingen ohne etwas zu sagen, wir drei und vielleicht acht Männer aus Kilpeder, und vier weitere erwarteten uns an der Boreen, die von der hiesigen Seite von Knockmany zur Derrybeg hinführt.
Beim ausgemachten Treffpunkt, wie wir ihn großartig nannten, war nur noch eine schmale, enge Biegung der Derrybeg zu sehen, die ab und zu durch einige blattlose Dornbüsche herüberglitzerte. Zwanzig Männer erwarteten uns dort, die sich zu zweit oder zu dritt unterhielten oder die hin und her liefen, um sich gegen die Kälte zur Wehr zu setzen. Und wir mußten eine gute halbe Stunde warten, bis der Rest eingetroffen war, die anderen kamen allein oder, häufiger, zu dritt. Wir hörten sie, ehe wir sie sahen, Bauernburschen, die in schweren Stiefeln über Winterboden gingen. Als ich durchzählte, waren wir 62, und das Fehlen der übrigen konnte entschuldigt werden – Bob Prendergast hatte eine kranke Färse, oder ähnliches. Vincent Tully kam als letzter, obwohl er einer der wenigen Berittenen unter uns war, er kam auf der gescheckten Stute, die ihm sein Vater geschenkt hatte, ritt an den Jungs vorbei und kam sofort zu Bob und Ned und mir. Er schwang sich vom Pferd und sagte, ob zu Ned oder zu Bob konnte ich nicht erkennen: »Ich komme zu spät, General, aber das ist nicht meine Schuld. Der Alte hat uns eine geschlagene Stunde den Rosenkranz beten lassen. Meine Knie sind restlos aufgescheuert.«
Er trug einen kurzen Reitmantel, den ich gut kannte und um den ich ihn ein bißchen beneidete, aus weicher, schwerer Wolle, mit einer Pellerine, und er hatte die Revers trotz des Wetters zurückgeschlagen, so daß sein Hemd in der Dunkelheit aufleuchtete. Den steifen Hut aus der Stirn geschoben, lächelte er uns alle drei gleichermaßen an, mit diesem herzerfrischenden Lächeln, das er hatte, und mit dem er alle, mit denen er sprach, in ein leichtes, ungefährliches Vergnügen hineinzuziehen schien.
Er gab Ned die Hand, leichthin, als ob wir uns an einem Herbstmorgen zur Jagd träfen, wenn die Blätter rostbraun sind und die Meute zu unseren Füßen kläfft. Es war immer Vincents Art gewesen, eine Szene zu heller zu machen. Es gibt Menschen, wie Edmund Burke sagen würde, deren Leben eine gewisse Eleganz beschert worden ist, und von dieser Eleganz hatte Vincent einen großen Vorrat, eine Tatsache, die der Ironie nicht entbehrt, wenn wir bedenken, daß alles aus den harten, mit verschwitzten Handflächen getätigten Geschäften in Dennis Tullys Laden floß – gescheckte Stute, weiche weiße Wäsche, alles. Aber das ist ungerecht von mir. Es gibt Leben, die sich zu einer Musik bewegen, glückliche Leben, und einige, die meisten, tun das nicht.
Neds Leben war nicht so. Er behielt Vincents Hand aus lauter Höflichkeit einen Moment lang in seiner, berührte seinen Oberarm, wandte sich dann Bob zu und nickte.
Wir hatten den Männern befohlen, sich in Reih und Glied aufzustellen, und sie standen verlegen und stumm da, preßten die Hände an die Seite, die groben Jacken, in denen sie die Arbeit eines langen Tages ausgeführt hatten, wirkten in der Dunkelheit weniger grob, ihre formlosen Hüte waren weich geworden von vielen Jahren voller Regen und Wind. Bob hatte ihnen mitteilen lassen, sie sollten weder ihre Piken noch die wenigen Schußwaffen mitbringen, mit denen wir prahlen konnten. Ich kannte sie allesamt mit Namen, aber nur fünf oder sechs waren mir einigermaßen vertraut – Männer, heißt das, mit denen ich abends schon mal einen getrunken hatte. Und diese wenigen waren alle Männer, die ihren eigenen kleinen Besitz hatten; die anderen waren Arbeiter: Ein Junge arbeitete für den Hufschmied, der junge Joe Harrington in der Mietstallung. So groß war damals der Abgrund, der einen Schulmeister und andere Menschen trennte, Gott helfe uns allen.
Bob ging mit dem selbstsicheren Schritt, den er damals immer hatte, zu ihnen hinüber, Ned war neben ihm.
»Jungs«, sagte Bob, »einige von euch wissen schon, wer dieser Mann hier bei mir ist, denn ihr habt ihn vielleicht in den letzten Tagen in den Straßen von Kilpeder gesehen. Er ist einer von uns, in Kilpeder geboren, und der Sohn von Thomas Justin Nolan, dessen Namen wir alle ehren. Einer der Helden von 48.«
Vincent und ich traten vor, und obwohl ich den Hals reckte, konnte ich Neds Gesicht nicht sehen. Er hatte mir seinen kantigen, steifen Rücken zugedreht.
»Und außerdem ist er Hugh MacMahons Vetter.« Ich nickte in meiner Position als Vetter, und, ohne es zu sehen, konnte ich Vincents Lächeln spüren.
»Wichtiger aber ist«, sagte Bob, »daß er hergekommen ist, um in Kilpeder das Kommando zu übernehmen. Ned ist Captain Nolan der Armee der Irischen Republik, und Hugh und ich haben das Dokument gesehen, das ihm dieses Kommando überträgt. Ein echtes Dokument mit Siegel und Motto und allem, was dazu gehört. Die Organisation hat alles so gemacht, wie sich das gehört beim Militär.«
Die Männer standen schweigend da und rührten sich nicht, denn was sollten sie schließlich auch sagen? Aber ich stellte mir vor, eine Bewegung spüren zu können, die sie durchlief, so wie der Wind die Oberfläche eines Sees kräuselt. Das war für mich fast das Seltsamste in diesen Wochen und der Beweis, falls ein Beweis noch vonnöten war, daß Krieg ein bizarres Unterfangen ist, bei dem ganz unterschiedliche Burschen zu einem unergründlichen Organismus werden, sowie sie in Reih und Glied angetreten sind. Nicht, daß wir eine umwerfende Armee waren, weiß Gott.
»Und er ist noch mehr«, fuhr Bob fort. »Wir haben hier ja schon von Iren gehört, die im Großen Krieg in den Staaten gedient haben, der jetzt zu Ende gegangen ist, und einige unter ihnen haben es zu hohem Rang gebracht, sind General und Colonel und dergleichen geworden. Aber wer in West Cork hat schon einen von ihnen gesehen? Nun, bei Gott, dieser Mann steht jetzt vor uns! Ned Nolan ist aus gutem Grund zu unserem Kommandanten ernannt worden. Drei Jahre hat er in der Nordstaatenarmee gekämpft und hat sich in diesem großen Konflikt tapfer geschlagen. Er kennt sich in Armeefragen besser aus als irgendein rotröckiger Engländer, der durch die Straßen von Cork oder Fermoy stolziert und der nur weiß, wie er sich bei nackten Hindus oder den Wilden in Afrika als großer Herr aufspielen kann.«
Der Schößling zeigt bereits, wie der Baum dereinst aussehen wird. Eines Tages, fünfzehn Jahre in der Zukunft, sollte ich unter tausenden, auf jeden Fall unter hunderten dastehen, um Bob Delaneys Rhetorik zu hören. Damals war in der nationalistischen Presse immer von Rhetorik die Rede, niemals von einer simplen Rede. In diesen Tagen stand eine erhöhte Tribüne zu seiner Verfügung, ausgeschmückt mit Fahnentuch, grün und weiß mit gelben Sonnenaufgängen, hinter ihm saßen Honoratioren, mit steifen Kragen, hohe, gebürstete ebenholzschwarze Hüte ruhten auf ihren Knien. Flackernde Pechfackeln ließen diesen Anblick großartig wirken, orange Flammen grell vor der Schwärze eines Marktplatzes in der Provinz. Und Gesichter, darunter mein eigenes, die zu ihm hochschauten. Aber der alte Baum liegt eben bereits in der Eichel.
»Da seht ihr!« sagte er. »Jetzt können wir das Exerzierbuch von diesem französischen Gecken wegschmeißen, mit seinen Feldwachen und seinen Augen rechts und den Tanzmeisterbefehlen. Captain Nolan kann uns zeigen, wie die Iren in den Tälern von Virginia auf und ab marschiert sind.« Er streckte die Hand aus und nahm seine steife Melone ab, die er vor einem Jahr gekauft hatte, um zu zeigen, daß er nun Dennis Tullys Ladengehilfe war, und schwenkte sie seitwärts, mit einem Hauch von Selbstverspottung.
Einer der Männer stieß eine Art Willkommensschrei aus, dann nahmen die anderen ihn auf, rauh und kurz, eher ein höflicher Willkommenslärm als irgend etwas Militärisches, dann herrschte wieder Schweigen. Nach einer Pause trat Ned vor, fort von Bob und näher zu ihnen hin.
»Ich bin wirklich glücklich«, sagte er, »wieder zu Hause zu sein, wo ich hingehöre. Was Bob Delaney euch gesagt hat, trifft zu. Ich habe während des Krieges mit der Nordarmee gekämpft, in der Irischen Brigade, wie sie genannt wurde, und ich habe bei ihr das Kriegswesen gut gelernt und an einigen Schlachten teilgenommen. Aber ich war kein General oder Colonel. Ich war zuerst gemeiner Soldat, dann für die meiste Zeit Corporal, und erst, als es aufs Ende zuging, wurde ich zum Sergeant befördert. Aber das ist für uns hier kein Nachteil. Denn bei dem, was für den festgesetzten Tag von uns hier in Kilpeder erwartet wird, würde uns ein General nicht besser von Nutzen sein als ein Bischof. Von uns wird Sergeanten- oder höchstens Leutnantsarbeit verlangt. Ich nehme den Rang eines Captains in unserer Armee ein, wie Bob euch gesagt hat, und es ist das Beste, wenn ihr diese Anrede mir gegenüber verwendet. Mehr gibt es über die Rangfrage nicht zu sagen, Schluß damit. Eine Kommission ist nur ein Wort auf hübsch dekoriertem Papier. Was wir im Kopf behalten müssen, ist, daß wir alle einen Eid auf die Irische Republik abgelegt haben, die jetzt de facto existiert.«
Ich weiß nicht, was die Jungs erwartet haben, aber vermutlich nicht Neds tonlose, unenthusiastische Worte. Im Laufe der Monate hatte Bob notwendigerweise eine patriotische Beredsamkeit entfaltet, die selbst Dan O’Connell Ehre gemacht hätte, unserem Befreier, und von diesem Sendboten aus fernen Schlachten hatten sie vielleicht noch größere Worte erwartet. Vielleicht auch nicht. Vielleicht beunruhigte sie dieser Beweis dafür, daß wir uns alle in den Maschen einer Organisation versponnen hatten, deren Wurzeln weit von West Cork entfernt saßen. Ned konnte sich einbilden, wieder zu Hause zu sein, für die Jungs war er ein Fremder.
»Ich habe Bob Delaney hier zu meinem Stellvertreter ernannt. Und Hugh MacMahon und Vincent Tully sind die beiden Adjutanten. Das bedeutet, daß ihr jedes ihrer Kommandos so ausführen müßt, als käme es von mir. Und meine Kommandos kommen für euch vom Stab der Armee der Irischen Republik. Ihnen ist sofort und ohne zu fragen Folge zu leisten. Das wär’s.«
Langsam ging er an den Männern vorbei, drehte sich dann um und ging zurück. Als er sich umdrehte, konnte ich kurz sein Gesicht in der Dunkelheit sehen, hohe Wangenknochen, eingefallene Wangen, sonst nichts.
»Bob hat mir gesagt, daß es bisher, vielleicht im letzten Jahr, Männer gegeben hat, die den Eid abgelegt und mit euch exerziert haben und die dann ausgestiegen sind. Ich kann das verstehen. Hinter uns liegt eine lange, nervenaufreibende Zeit für uns alle. Aber diese Zeit liegt Gott sei Dank jetzt hinter uns. Es wird einen Aufstand geben, ein Tag ist festgesetzt worden und steht unmittelbar bevor. Ihr habt den Eid abgelegt, und wenn ihr aussteigt, dann werdet ihr von der Kolonne von Kilpeder als Verräter verurteilt werden. Wißt ihr alle, welche Strafe für Verräter in allen Armeen der Welt angewandt wird?«
Es war das erstemal, daß irgendwer unter uns das Wort Kolonne hörte. Im Moment hatten wir jedoch keine Gedanken für solche Feinheiten. Ein düsteres Schweigen folgte, das Ned, das war klar, durchaus nicht brechen wollte, denn er begann nun, wieder hin und her zu gehen.
»Das wissen doch alle«, sagte schließlich jemand, und die Männer in der ersten Reihe drehten ihre Köpfe zu ihm um. Es war Pat Dunphy, ein kleiner Farmer, der im Westen an der Straße nach Kerry wohnte und den die Männer in seinem Dorf achteten, ein kraftvoll gebauter Mann in den Dreißigern, dessen Haare sich bereits jetzt schon ausdünnten und frühe Kahlheit verhießen, ein Mann, der beim Tanz und bei der Ernte gleichermaßen tüchtig war.
»Aha«, sagte Ned und sah ihn an. »Und welche ist das?«
»Deserteure werden erschossen«, antwortete Dunphy. »Oder aufgehängt, je nachdem.«
»Wenn ich Bob richtig verstanden habe«, sagte Ned, »dann sollten wir unser Blei nicht vergeuden. Die Kolonne von Kilpeder sollte so einen erbärmlichen Kerl aufhängen, meint ihr nicht?«
Nach einer Pause sagte Dunphy mit leiser Stimme, wobei die ersten Worte in seiner Brust dröhnten: »Als Bob Delaney uns geführt hat, war nie die Rede von Hängen oder Erschießen oder von Desertion. Und wir sind heute nacht hergekommen, was gefährlich für uns ist, und wir werden noch viel mehr riskieren. Sie haben kein Recht, so mit uns zu reden, Mr. Nolan.«
»Captain Nolan«, korrigierte Ned.
»Gut, dann Captain Nolan«, sagte Dunphy. »Und wir hatten den Befehl von Bob Delaney erwartet.«
Bob trat vor, aber Ned hörte seinen Schritt und schüttelte den Kopf.
»Bob Delaney hat mich offen gewarnt«, sagte Ned. »Er hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß ihr euch alle gut kennt, während ich ein Fremder für euch bin. Das stimmt. Aber ich bin ein Fremder, der euch geschickt worden ist, weil ich weiß, was jetzt notwendig ist und wie es getan werden muß. Die Organisation hat vor, die Kontrolle über dieses Land durch Waffengebrauch an sich zu bringen. Wir werden die britische Armee und die irische Polizei angreifen, die einen Teil dieser Armee ausmacht. Einige von ihnen und einige von uns werden dabei ums Leben kommen. Macht euch da keine Illusionen. Alles, was uns angeht, ist die Umgebung von Kilpeder. Hier haben wir unsere Aufgaben zu erfüllen, und danach, wenn wir Erfolg haben, werden wir nach Norden zu einem bestimmten Treffpunkt marschieren und uns einem höheren Kommando unterstellen. Ich will, daß wir Erfolg haben, und dafür brauche ich wirkliche Soldaten, keine Bauern.«
»Sie haben aber Bauern«, sagte Dunphy. »Soldaten sind Burschen mit Gewehren.«
»Das werdet ihr auch sein«, erwiderte Ned. »Ich habe durchaus nicht vor, ohne Waffen mit unseren Operationen anzufangen. Soldaten sind Männer, die einen Eid ablegen und Befehlen gehorchen, ob ihnen das nun gefällt oder nicht, egal, was sie von dem Mann halten, der diese Befehle erteilt. Übrigens, Mr.…«
»Dunphy, Pat Dunphy. Ich habe schon vor zwei Jahren den Eid abgelegt.«
»Übrigens, Pat Dunphy, was halten Sie von mir?«
Dunphy zögerte, ehe er antwortete: »Ich finde, Sie sind so unverschämt wie ein Viehschieber aus Limerick.«
»Ausgezeichnet«, erwiderte Ned. »Jetzt kommen Sie zwischen den beiden Männern vor Ihnen hindurch und kommen dann zu mir herüber.«
Einen langen Moment, während dessen ich den Atem anhielt, stand Dunphy bewegungslos da, dann zuckte er die Schultern, schob einen Mann beiseite und kam auf Ned zu. Ich konnte ihn jetzt besser sehen, einen von diesen großen Bauernburschen mit guter Haltung, mit schweren Muskeln, aber nicht dick. Seine Augen konnte ich nicht erkennen, aber ich kannte den gefährlichen, lässigen Schritt solcher Männer. Ich habe gesehen, wie ein solcher Mann sorgfältig und konzentriert sein Pint absetzt und mit seiner freien Hand einen Burschen an der Kehle packt.
»Und wenn ich Ihnen einen Befehl erteile?« fragte Ned.
»Sie haben es selber gesagt, Captain Nolan. Ich habe den Eid abgelegt. Aber, bei Jesus, Sie machen es mir nicht leicht, Ihre Befehle mit Vergnügen zu befolgen.«
»Nein, tue ich nicht«, sagte Ned und wandte sich an Bob. »Taugt dieser Bursche irgendwas, oder haben wir gerade gesehen, wie er ist?«
»Es gibt hier keinen besseren«, antwortete Bob. »Hier sind heute Nacht noch drei andere Männer aus Lackan, und die sind Pats wegen hier.«
Ned nickte. Aller Augen waren jetzt auf die beiden gerichtet. Neds Hände waren in seinen Taschen vergraben, sein schwerer Mantel mit dem ausländischen Schnitt war nach hinten geworfen.
»Sehr gut«, sagte er schließlich. »Pat, neben Waffen ist ein Sergeant das einzige, was uns fehlt, aber das können wir sofort in Ordnung bringen. Sie sind jetzt der Sergeant der Kolonne von Kilpeder.«
»Ich soll der Sergeant sein?« fragte Dunphy.
»Das sind Sie«, erwiderte Ned. »Ihnen bleibt nichts anderes übrig. Ich bin selber Sergeant gewesen, und bei Christus, ich beneide Sie nicht darum. Die Sergeants leiten in der Schlacht die Männer, nicht der Colonel oder der General. Und die Jungs werden Sie verfluchen, nicht Bob oder mich. Aber ich nehme an, Dunphy, Sie haben keine Hemmungen, anderen zu sagen, was sie zu tun haben und wie. Habe ich recht?«
Einige von ihnen hatten angefangen zu grinsen, aber bei Neds Frage pflanzten sich Wellen des Gelächters durch das Glied fort, von einem zum anderen. Ich konnte Bob nur halb sehen, bemerkte jedoch, daß er Ned mit neuem Interesse musterte, als ob Ned plötzlich eine unerwartete Qualität offenbart hätte. Vincent wandte sich zu mir um. Er lächelte, aber es war nicht dasselbe Lächeln wie das der Männer. »Unser Mr. Nolan ist ein findiger Bursche«, sagte er.
Dunphy wollte wieder ins Glied zurücktreten, aber Ned legte ihm eine Hand auf den Arm. »Damit ist Schluß, Pat. Sie müssen jetzt hier stehen und mit Hugh und Vincent die Suppe auslöffeln. Und wenn wir uns das nächstemal treffen, erwarte ich, die Männer ordentlich aufmarschiert zu sehen, eine Armlänge voneinander entfernt. Sehen Sie sie sich doch an, wie Tinkerf auf dem Jahrmarkt.«
Was wußte Ned schon über Tinker, die in den Straßen von Manhattan so selten auftreten wie Karibus! Sicher war es ein Spruch, den er in einer Bar in New York oder in einem Lager in Virgina aufgeschnappt hatte, und er verfügte über ein ganzes Arsenal solcher Redensarten. Als ob er entschlossen wäre, sich durch Redeweise und Auftreten zu dem Iren zu machen, der er nur durch Geburt und die frühesten Jahre seiner Kindheit war. In Wirklichkeit war er Soldat, und nach dieser Nacht bezweifelte das niemand von uns mehr. Und der erste, der das beschworen hätte, war Pat Dunphy, der von nun an Ned Nolans Mann war.
Nacht in diesem stillen Ödland, über uns die Schulter des Knockmany, bucklig und breit. Ich erinnere mich gut an diese Nacht. Ein Wind hatte sich im Westen erhoben, stark genug, um vom endlosen Ozean über die Derrynasaggarts zu uns getragen zu werden und die trockenen Zweige des Winters zu schütteln.
»Heute Nacht brauchen wir ansonsten nicht mehr über viel zu reden«, sagte Ned mit kratziger Stimme. »Bob Delaney hat gut mit euch exerziert, daran habe ich gar keine Zweifel, und Pat Dunphy hier, Sergeant Dunphy, wird euch schon Beine machen. Aber denkt daran: Am festgesetzten Tag werden wir nicht Soldaten bei der Parade spielen, ich werde Dinge von euch verlangen, die ihr noch nie gemacht habt und die ihr mit Gottes Gnade auch nie mehr wieder tun müßt. Die Stadt Kilpeder wird von der Irish Constabulary gehalten, und die besteht aus bewaffneten Soldaten des britischen Empires, die mit ihren Gewehren über uns herrschen, auch wenn sie keine roten Röcke tragen und sich als Iren bezeichnen. Sie sind keine Iren. Vielleicht gibt es unter ihnen den ein oder anderen anständigen Burschen – kein Wunder, wo es doch nicht genug Arbeit im Land gibt, bei der ein kräftiger Mann seine Muskeln einsetzen kann. Aber wenn ihr den Schilling der Königin genommen habt und in ihren Rock geschlüpft seid, dann seid ihr Englands Mann und führt Englands Befehle aus. Vergeßt das nicht, sie werden es nämlich nicht vergessen. Sie haben ihren Eid abgelegt, und ich bin sicher, daß ihr sie schon bei der Arbeit gesehen habt. Aber auch wir haben einen Eid geschworen, einen unvergänglichen Eid, der nicht Königin oder Empire gilt, sondern eurem eigenen Volk und eurem eigenen Land. Und wenn ich euch befehle, auf die Männer abzufeuern, die unseren Feinden dienen, dann erteile nicht ich den Befehl, dann sprechen durch mich die Worte unseres Eides. Denkt an den Eid.«
Denkt an den Eid. Die Gelehrten des Mittelalters, die Realisten und die Nominalisten, erschöpften einander in Disputen darüber, ob Wörter und Ideen eine eigene Existenz haben, so wie Stühle und Sterne und Berge. Ned hätte dieses Rätsel für sie lösen können, Sein ganzes Leben lang war der Eid, den er auf die Irische Republik abgelegt hatte, für ihn so wirklich und gewiß wie Nerven und Gewebe seines eigenen Körpers. Wir dachten damals nicht weiter darüber nach, wie sein Leben durch den Eid geformt werden würde, oder warum, aber die Macht, die der Eid seinen Worten verlieh, stand außer Frage. Als ob wir uns alle in einer geheimen Bruderschaft verbunden hätten, deren unsichtbares Netz sich weit über unsere Berge hinaus erstreckte, geheiligt und absolut.
Sie klangen uns noch immer in den Ohren, hallten in seiner rauhen, mitleidslosen Stimme wider, als er die Jungs entließ. Sogar Vincent, unser Scherzbold vom Dienst, fröhlich und nett, war eine Zeitlang stumm. Er ging mit Bob und Ned und mir zur Straße, und das tat auch Pat Dunphy, während die anderen Männer aus Lackan hinten auf ihn warteten und uns ohne Überraschung oder Neugier nachschauten, als ob nur zu erwarten gewesen wäre, daß Pat diese Verantwortung anvertraut würde. Und es waren nicht nur die Männer aus Lackan, die Ned in dieser Nacht gewonnen hatte. Ned, wie mir später aufging, als ich ins Bett ging und mir vor dem Einschlafen alles noch einmal durch den Kopf gehen ließ, hatte erkannt, daß er Eindruck auf uns machen mußte, und dieser Aufgabe hatte er sich gewachsen gezeigt. Er hatte Pat so eingesetzt wie ein wahrer Kommandant, aber seine Abschiedsrede hatte von mehr als nur von Geschick gezeugt. In Ned steckte Eisen, und er hatte es für uns aufblitzen lassen.
Vincent ging neben uns und führte sein Pferd am Zügel, und als wir eine Weile gegangen waren, blieb er stehen und zog eine Taschenflasche aus seinem Mantel, die ich schon kannte, einen schönen Gegenstand aus gehämmertem Silber, mit einem Muster aus Kreisen und Spiralen. Er drehte den Stöpsel los und trank einen Schluck, dann reichte er die Flasche an Pat weiter. »Sergeant Dunphy«, sagte er. Dunphy nahm ohne zu zögern an, als er sie aber fast bis an die Lippen gehoben hatte, hielt er plötzlich inne und sah sich zu Ned um. Aber Ned nickte, Dunphy trank, wischte die Öffnung dann sorgfältig mit dem Ärmel ab und reichte sie an Bob weiter, und so wanderte sie um durch unseren kleinen Kreis. Es war viel besserer Whiskey als an Conefrys Tresen ausgeschenkt wurde, nur die besten Sorten, die in den Kilpeder Arms in Reserve gehalten wurden, konnten ihm gleich kommen, er war weich und hatte nur einen ganz leisen Rauchgeschmack, der Gaumen und Zunge liebkoste.
Ned trank als letzter von uns, und ehe er trank, sah er uns alle der Reihe nach an, dann nahm er einen tieferen Schluck als irgendeiner von uns anderen, obwohl Dunphys harter Schädel in Bezug auf Schnaps geradezu legendär war. Dann ließ er die Flasche sinken, wischte sich die Lippen ab wie vorhin Pat, und hielt sie in der offenen Hand, während die Finger seiner anderen Hand in der Dunkelheit über die unsichtbare Gravur fuhren.
»Das ist ein schöner Behälter für solchen Whiskey, Vincent«, sagte er. »Die Getränke von Kilpeder können zu keiner Klage Anlaß geben.«
»Von wegen Kilpeder«, erwiderte Vincent. »Das stammt aus meines Vaters Privatvorrat, von dem er ein Glas serviert, wenn er einen Bischof oder Monsignore zu Besuch hat. Wenn er wüßte, daß wir damit auf unsere Organisation angestoßen haben, dann würde er einen Herzschlag erleiden, der arme Mann.«
»Feiner Whiskey«, sagte Ned. »In einer kalten Winternacht in Silber transportiert. Er kam gerade richtig. Aber damit, Vincent, hat es ein Ende. Niemals, niemals, egal aus welchem Grund, darf Whiskey zu einer Versammlung oder einer Aktion der Organisation von Kilpeder mitgebracht werden.« Er gab Vincent die Flasche zurück. »Und kein Mitglied der Kolonne darf sich zum Einsatz melden, wenn er Whiskey getrunken hat. Ist dir das klar, Pat?«
»Jawohl«, antwortete Pat fest, wenn auch leicht verwirrt von Neds Art, sich seitwärts an dieses Thema heranzuschlängeln.
»Denn das ist deine Verantwortung. Ich übernehme die Verantwortung für unsere Offiziere, aber die Männer sind deine Verantwortung. Wenn ich herausfinde, daß ein Mann im Einsatz Schnaps getrunken hat, bei Jesus, dann lasse ich ihn auspeitschen, und dir drücke ich dazu das Seil in die Hand.«
»Jawohl«, sagte Pat.
»Jawohl ist in Ordnung als Antwort auf einen Befehl, aber ich will, daß du dir merkst, was ich gesagt habe. Wir sind eine Armee ohne Uniformen und Abzeichen und den ganzen Rest, aber bei Jesus, an Disziplin wird es uns nicht fehlen. Und, wie gesagt, Vincent, das ist feiner Whiskey.«
Und damit stopfte er die Hände wieder in die Tasche und ging los, und wir mußten uns beeilen, um ihn einzuholen. Vincent beobachtete ihn mit einem halben Lächeln, irgendwo zwischen Amüsement und Bewunderung, dann verstaute er die sündhafte Taschenflasche in ihrem angestammten Versteck in seiner eleganten Bekleidung, wo immer sich dieses nun befinden mochte.
Damals fanden Bob und ich, denen diese Demütigung erspart geblieben war, Ned habe kühl und soldatenhaft gehandelt, und unser Respekt vor seiner exotischen militärischen Art hob sich noch um ein Grad, denn Bob hätte, als er uns kommandierte, niemals so mit Vincent reden können, und wenn er es versucht hätte, dann hätten Vincent und ich zweifellos losgeprustet. Erst später erfuhr ich aus halben Sätzen, die er nur widerstrebend aus sich herauslocken ließ, mehr über Neds wahre Gefühle über den Alkohol.
Ich sah einen Jungen neben seinem Vater stehen, neben einem geliebten und verehrten Riesen, in einem vom Gaslicht hell erleuchteten Schankraum, mit Sägespänen auf dem Boden, vielleicht nach einer öffentlichen Versammlung, Echos der Redekunst, die er und seine Freunde vorgeführt hatten, sollten nun mit einem guten Schuß amerikanischen Whiskeys gefeiert werden. Sie standen im Halbkreis da, ein halbes Dutzend, und der junge Barmann mit den roten Haaren des County Leitrim ließ jede dritte Runde aufs Haus gehen, sein eigenes Glas war züchtig unter dem Tresen verborgen, die Kameradschaft war wärmer und behaglicher als die vom Zigarrenrauch trübe Luft. Neds Vater dominierte, Thomas Justin Nolan, einer der Helden von 48, ein YoungIreland-Mann, nicht wie seine Kameraden, die Hungeriren, durch Mißernten und Räumungen nach Amerika getrieben, sondern verbannt aufgrund seiner Überzeugung, ein Freund Dohenys und Meaghers, ursprünglich Schulmeister, sein Kopf vollgestopft mit Poesie, mit patriotischer Rhetorik. Bei der vierten oder vielleicht bei der fünften Runde kam seine Zunge jedoch ins Stolpern, seine Gesten wurden großartiger. Ein Sturzbach von Worten. Sie sprachen über die Heimat, die ganze unerbittliche Nacht von Manhattan hindurch, vielleicht stützte ein Freund seines Vaters ihn, und dieser Freund erzählte Ned dann von allem, was sein Vater für Irland erlitten hatte, feuchte Lippen und tränende Augen, Wunden und weißgewordene Narben, das alles waren die Orden vergangener Schlachten. Morgens aber saß der Vater still und gelassen vor seinem kalten Tee, seine Hand zitterte leicht, wenn er die Tasse berührte. »Eine lange dreckige Nacht, Ned. Gut, daß wir nicht oft ausgehen, wie mein eigener Vater zu sagen pflegte, dein Großvater.« Seine verblümte Entschuldigung, die Worte heruntergeleiert wie die Worte einer Litanei. Und der junge Ned wartete geduldig darauf, daß der geliebte Riese am späten Nachmittag wieder da war, voller Geist, lässiger Charme lag bei ihm in einer schlichten Schulterbewegung.
Nicht, daß Ned um die Flasche immer einen Bogen gemacht hätte, wie ich in den frühen Stunden des folgenden Morgens herausfinden sollte, aber sie war für ihn eine stumme und einsame Waffe gegen sich selber, und ich habe niemals gesehen, daß er sich wie ein Betrunkener benommen hätte, und das auch niemals von jemand anderem gehört. Es gibt Menschen, für die Schnaps nicht Trost, sondern Bestrafung ist, und ob wir sie für unglücklicher oder für glücklicher halten sollen als uns andere, kann ich nicht sagen.
Es war lange, nachdem wir in die Chapel Street zurückgekehrt waren und uns vor meiner Schlafzimmertür gute Nacht gewünscht hatten. Mary schlief natürlich schon, und ich zog mich leise in der Dunkelheit aus, legte mich neben sie und fühlte, wie mich die Wärme ihres Körpers willkommen hieß. Im Schlaf drehte sie sich halb zu mir um, und ich konnte ihr Gesicht im schwachen Licht desselben verschleierten, blassen Mondes erkennen, der uns in Knockmany beschienen hatte, dessen Strahlen nun aber auf stille, verletzliche und vertrauensvolle Schönheit fielen. Ihre offene Hand lag neben meiner, und ich nahm sie und blieb so liegen, während ich an die Decke starrte und in Gedanken die Ereignisse dieser Nacht durchging. Ein willkommener erster Halbschlaf überkam mich, und damit war ich zufrieden, ich kann nicht sagen, für wie lange, dann weckte mich das Geräusch eines Stuhles, der im Zimmer unter uns verrückt wurde, und als ich schon angefangen hatte, an meinen Ohren zu zweifeln, hörte ich es wieder.
Nun stand ich auf, und da ich keine Zeit damit vergeuden wollte, an den Kleiderhaken hinter der Tür nach meinem Schlafrock zu suchen, streifte ich meine Hose über und ging nach unten. Im Vorübergehen registrierte ich, daß Neds Tür offenstand, und ich fand ihn in der Küche. Auf dem Tisch, vor dem er saß, brannte eine Kerze, und er hatte neben sich eine Flasche stehen. Er war immer noch vollständig angezogen, und er mußte meine Schritte auf der Treppe gehört haben, denn er blickte zur Tür, als ob er mich erwartete, und er lächelte.
Unsere Begegnung sollte jedoch nicht die letzte späte Begegnung dieser Nacht bleiben, denn als Vincent nach Hause kam, das erzählte er mir am nächsten Tag, war sein Vater noch wach und wartete auf ihn. Als Vincent mir seine Geschichte berichtete, hatte ich immer noch meine Küchenszene im Kopf, mit ihrer einzigen Lichtquelle, deren Licht, weich und hart zugleich, wie tot auf Ned fiel, auf seine hohen Wangenknochen und seine tiefliegenden Augen, und auf sein Lächeln, das mich mit einem fremden Teil seines Wesens bekannt machte, zurückhaltend und bedrohlich. Ich erzählte Vincent nichts von unserem Gespräch, was ganz außergewöhnlich war, denn Vincent und Bob und ich standen einander so nahe wie Dumas’ Drei Musketiere, obwohl mir jetzt einfällt, daß Athos sein düsteres Geheimnis hatte, das er Porthos und Aramis fast bis zum Ende vorenthielt. Aber schließlich brannte Vincent ja auch darauf, seine eigene Erzählung loszuwerden.
Das Wort »Erzählung« benutze ich ganz bewußt. Es gibt Menschen, denen jeglicher Ehrgeiz fehlt, ihre Worte zu Papier zu bringen, die aber dennoch alle Gaben eines Erzählers haben, mit Ausnahme des Durchhaltevermögens. So ein Mensch war Vincent Tully. Als Erzähler war er ein Wunder, und das paßte gut zu seinen übrigen liebenswerten Seiten. Wenn Vincent in Form war, unterbrachen ihn nur die verstocktesten Spießer mit Fragen oder Kommentaren, niemand jedoch brachte konkurrierende oder ergänzende Anekdoten. Denn wenn irgend etwas fehlte, das zum vollen Verständnis notwendig war, dann konnten wir uns darauf verlassen, daß Vincent das so wollte und daß fehlende Informationen zum passenden Zeitpunkt ihren überraschenden Auftritt haben würden. Seine Geschichten waren elegant aufgebaut, und man konnte das Vergnügen spüren, das er bei ihrer Konstruktion empfand. Alles, was für Bühnenbild und Atmosphäre nötig war, wurde eingearbeitet: Charakteristiken, Tonfälle, Zögern, Gerissenheit oder Possenreißereien, das Aussehen eines Zimmers, Geräusche und Schweigen während einer Unterhaltung – das alles stand seinen Zuhörern vor Augen, wenn er lässig seine Sätze von sich gab. Und wenn alles zum Abschluß gebracht war, wurde die Erzählung durch eine unerwartete Bemerkung abgerundet, »So, Jungs, was sagt ihr nun dazu?«, und die Geschichte hing noch eine Weile in der Luft, unsichtbar, und in das Vergnügen seiner Zuhörer floß ein Wermutstropfen, wie immer, wenn wir die Künste erleben, die im Moment ihrer Ausführung für immer verschwinden, die Künste eines Gauklers, Tänzers, Jongleurs.
So war es auch am nächsten Abend mit Vincent Tullys Geschichte darüber, wie er mit dem alten Dennis Tully zusammengestoßen war, und dabei bemerkte ich, nicht zum erstenmal, die Gefahr, die dem begabten Geschichtenerzähler mit seinem Talent gegeben ist. Denn die Geschichte mag ihre Bedeutung haben, vielsagende Ausdrücke und Farben, und doch kann die Bedeutung dem Erzähler selber unzugänglich sein, anders als in den Fabeln von Aesop und La Fontaine, die am Ende pflichtschuldigst ihre Tadel und Ermahnungen beisteuern. Als Vincent mir seine Geschichte von Vater und Sohn erzählte, die einander wie riesige Kater umkreisten, ein Daumen in der Weste aus changierender violetter Seide mit weißem eingewirktem Zweigmuster eingehakt, schien er mich geradezu zu bitten, ihre Bedeutung zu entschlüsseln, und ich hätte das durchaus machen können. Aber ich war zu sehr erfüllt von einem Gesicht im Kerzenlicht, und Vincents Stimme entführte mich durch ihren Unterton von boshaftem Vergnügen.
Um halb zwei schloß Vincent die Haustür auf und betrat die Eingangshalle, die jetzt dunkel war, abgesehen von dem Streifen gelben Lichtes, der aus dem offenen Salon fiel, und die mir immer, wenn ich die Gelegenheit zu einem Besuch hatte, ein erster Botschafter vom Wohlstand der Tullys war, mit ihrem üppigen Teppich, hellrosa mit gelben Vierecken und Rauten, ihrem sorgfältig gearbeiteten Garderobenständer, kompliziert verschlungen wie das Geweih eines Hochlandhirsches, und dem langen Tisch mit seiner Platte aus rosa Marmor.
»Vincent!« rief Dennis Tully. »Komm her. In den Salon.«
Als Vincent den Salon betrat, sagte er: »Ich wollte ohnehin hier hereinschauen, Vater. Ich habe schon auf der Straße das Licht gesehen. Was ist los, bist du krank?«
»Ich bin nicht sicher«, antwortete sein Vater. »Vielleicht. Vielleicht bin ich krank.«
Er saß, erzählte mir Vincent, in dem Sessel, der in der Familie als seiner galt, und auf dem nicht einmal fremde Besucher Platz nahmen, als ob ein Teil seines Wesens in die Kissen und die hohen Armlehnen übergegangen wäre. Eine Teekanne stand neben seinem Ellbogen auf dem kleinen Tisch aus dunklem Holz. Alle Gaslampen im Zimmer brannten, und der schwere grüne Samt der Vorhänge war vorgezogen, mit Ausnahme eines schmalen Fensterchens, hinter dem die vom Mond schwach erhellte Nacht lag. Es war der Sessel, in dem er sich sonst ausruhte, sein kahler Kopf mit seinem Kranz aus frühergrautem Haar ruhte, auf dem gestärkten Leinen eines sinnlosen Sesselschoners, und sein grobknochiges Gesicht war entspannt, die Wangen voll und rosa, und die Hände mit den hellbraunen Flekken ruhten auf seinen massiven Knien. Wenn er so in seinem Sessel saß, konnte er den Teil der Welt übersehen, der aus seiner Familie und seinen Gästen bestand – Mary und mir vielleicht einmal alle zwei Wochen, Schulmeister und Frau, und Considine, der katholische Arzt, und vielleicht Mr. Roberts, der Armenpfleger. Aber in dieser Nacht saß er vorgebeugt in seinem Sessel und wiegte sich sanft vor und zurück. Sein Kopf war gesenkt, und die Wülste unter seinem Kinn wurden aufeinander gepreßt. Vincent griff zur Teekanne.
»Großer Gott«, sagte er. »Kein Wunder. Der Tee ist eiskalt. Der muß ja wie Grabenwasser in deinem Magen liegen.«
»Mary Ellen hat mir die Kanne gebracht, ehe sie ins Bett gegangen ist. Ich hatte sie nicht darum gebeten, aber du kennst ja deine Mutter.«
Vincent zog seine Uhr aus der Tasche und hielt sie unter die Lampe. »Ein Glas Portwein«, sagte er. »Es ist ein königliches Heilmittel, und ich trinke eines mit dir.«
Als er an der Anrichte stand und die Gläser aus der Karaffe mit dem tintenschwarzen Portwein füllte, sprach er immer weiter über die späte Stunde und die seltsame Entdeckung, daß Dennis noch auf war, allein und stumm vor seinem kalten Tee. Aber beim Reden dachte er nach.
»Ich weiß, wie spät es ist«, sagte Tully. »Und dazu brauche ich deine hervorragende Uhr nicht.« Sie war wirklich hervorragend; Vincent hatte eine Vorliebe für Taschenflaschen, Uhren, Zigarrenetuis. »Ich war hier, im Salon. Wo warst du?«
»An keinem respektablen Ort«, antwortete Vincent. Er trug die Gläser vorsichtig, denn er hatte sie bis dicht unter den Rand gefüllt, aber trotzdem schwappte aus einem davon etwas über, als er es seinem Vater reichte, und auf seiner Hand war der Wein nicht mehr tinten-, sondern pflaumenfarben. »Und ich sollte dir wohl lieber die ganze Wahrheit sagen. Ich war mit ein paar anderen oben in den Bergen, bei Laffan, dem Whiskeybrenner. Und mein Kopf ist nicht mehr allzu klar, wenn du das unbedingt wissen willst. Man könnte genausogut Schießpulver und Petroleum trinken wie das Gebräu dieses Burschen.«
»Daß dein Magen das verträgt, Portwein auf Poitíng!«
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagte Vincent und setzte sich Tully gegenüber auf die andere Seite des Tisches.
»Wer war denn bei dir da oben? Das war ein dummes Unternehmen, mitten in schwarzer Nacht.«
»Bei Gott, das stimmt. Aber du hast zu deiner Zeit sicher genau solche Dummheiten begangen, vielleicht sogar noch schlimmere.«
»Habe ich nicht. In deinem Alter war ich Ehemann und Vater. Und ich hatte den Laden, um mich bei der Stange zu halten.«
»Und wenn schon«, sagte Vincent. »Es ist besser, wenn wilde Gelüste schon in der Jugend aus unserem Blut verschwinden. Nicht, daß es so ein wildes Gelüst gewesen wäre. Wir hatten in den Arms ein letztes Glas getrunken, und dann sagte einer, ›Bei Gott, die Nacht ist noch jung, und oben im Gebirge bei Laffan gibt es tonnenweise zu trinken.‹«
»Und wer ist dann mit dir losgezogen?«
»Die üblichen«, antwortete Vincent. »Bob Delaney und noch ein paar.«
»Merkwürdig, daß Bob so unklug war.«
»Ach, es war sogar Bobs Idee. Bob hat mehr Seiten, als du im Laden zu sehen bekommst.«
»Und Hughie MacMahon?«
»Der nicht. Mary geht es nicht gut, und deshalb hat er den Abend bei ihr verbracht. Und das war gut für seinen Ruf. Es hätte einem Schulmeister doch übel angestanden.«
Vincent erzählte mir, daß er in den ein oder zwei Minuten, in denen er sich seine Geschichte ausdenken mußte, mit einem anderen Teil seiner Gedanken wie ein Kronanwalt daran herummäkelte. War sein Vater zum Laden oder vielleicht zu meinem Haus gegangen? Aber nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war, lag darin, einen kühlen Kopf zu behalten, die einzige Hoffnung. Und er war schon längst ein geübter Geschichtenerfinder, da sein Vater sich immer wieder nach Vincents Unternehmungen erkundigte, wobei ihn höchstens das Fehlen eines Gitters und die Macht, die Sünden zu vergeben, von einem Beichtvater unterschieden. Vielleicht glaubte er jedoch, über etwas dieser Macht Ähnelndes zu verfügen. Vincents rücksichtsloses Benehmen – und jetzt spreche ich nicht von Rebellionen, sondern von seinem Betragen bei Mädchen, bei Pferden oder an Spieltischen – war ein Thema, an dem der Vater sich immer wieder versuchte, ohne jedoch die ganze Wahrheit wissen zu wollen.
»Und dieser Vetter von Hughie, dieser Ned Nolan. War der auch dabei?«
»Doch, der ja«, sagte Vincent sofort, ehe er sich gestattete, am Portwein zu nippen. »Obwohl er nichts vertragen kann. Ein Glas oder zwei, vielleicht aus Höflichkeit ein drittes. Aber seine Gesellschaft hat uns Spaß gemacht. Ein sehr interessanter Mann.«
»Interessant«, sagte Tully.
»Und das ist er ja nicht ohne Grund«, fuhr Vincent fort. »Drei Jahre war er bei der Nordstaatenarmee und hat in den Tälern und Bergen von Tennessee und Virginia gekämpft. Und außerdem hat er in New York gewohnt. Ein weitgereister Mann.«
»Das stimmt. Und jetzt ist er über das Meer nach Kilpeder gereist. Nur die wenigsten machen die Reise in dieser Richtung.«
»Zurückgekehrt wäre vielleicht ein besserer Ausdruck. Er ist hier geboren, er ist aus Kilpeder.«
»Das weiß ich«, sagte Tully. »Tom Nolans Sohn. Ich habe Tom Nolan gekannt. Es war ein schöner Tag für Kilpeder, als Tom Nolan es verlassen hat.«
»Vielleicht«, erwiderte Vincent. »Ich habe gehört, daß der Name Thomas Justin Nolan in diesem Haus voller Respekt ausgesprochen worden ist, von Dr. Considine und sogar von Pater Cremin selber.«
Und das traf sicher zu, denn so geht es eben. Die Männer von 48, wie sie immer genannt wurden, waren in diesen Tagen heiß verehrt, als Patrioten und Gentlemen, die niemals zu brutaler Kriegführung herabsanken oder das gewalttätige und unwissende Blut der Gebirgler und Slumbewohner aufrührten. Ganz anders, natürlich, als die Fenier, die von den respektablen Bürgern als die neuen Sansculotten verdammt wurden. Und doch habe ich erlebt, daß die Fenier – und damit meine ich natürlich die »echten« Fenier, die Fenier von 67, die Männer von Clonbrony Wood, wie Vincent und mich selber, Gott helfe uns, als Bilderbuchhelden gepriesen werden, um die Land League-Leute und die Invincibles und die Dynamiters zu verdammen. Zeit und Mißlingen, vor allem Mißlingen, werfen einen Umhang aus sanften Farben und Geweben über die Vergangenheit.
»Dr. Considine hat Tom Nolan nie gekannt«, sagte Tully. »Und Cremin auch nicht. Beide sind Fremde in Kilpeder, auch wenn sie schon ein paar Jahre hier leben. Neulinge. Ich habe ihn gekannt«
Er hatte schon recht. Denn Thomas Justin Nolan hatte sich nicht darauf beschränkt, leidenschaftliche Artikel in The Nation zu verfassen. Er hatte sich alle Mühe gegeben, Kilpeder aufzuwiegeln, hatte die Vertriebenen und die halb Verhungerten von 48 angestachelt, zu Piken und Knüppeln und Stöcken zu greifen. Und als ihm das nicht gelungen war, war er mit einem halben Dutzend Unzufriedener nach Tipperary gezogen, um sich Smith O’Brien anzuschließen. Natürlich hatte der junge Dennis Tully ihn verabscheut, ebenso wie sein Vater, der alte Malachi, der Gründer, wie er später genannt wurde. Denn in jenen Tagen, in den entsetzlichen Tagen der Hungersnot und ihrer Folgen, wurde der Grundstein für das Haus Tully wirklich gelegt. Und als Dennis zu Beginn der Sechziger Jahre seinen großen neuen Laden am Marktplatz eröffnete, brachte er über dem Eingang eine Steintafel an, nicht mit dem Baujahr, sondern mit der Jahreszahl 1848. Malachi und Dennis Tully hätten mit Thomas Justin Nolan nur wenig anfangen können.
Aber Vincent konnte sehr gut die Richtung sehen, in die Tullys Worte sie trugen, und ich sah sie ebenfalls, als Vincent mir die Szene darstellte. Ich konnte diesen Salon sehen, vollgestopft mit den Trophäen des Tullyschen Wohlstandes, mit Ölgemälden in vergoldeten Rahmen, mit der Anrichte, mit den Sesseln, die wie Schiffe auf einem See aus türkischen Teppichen segelten, mit dem Kaminaufsatz wie eine Kathedralenfassade, mit den schützend vorgezogenen Samtvorhängen. Fast konnte ich sogar Tully selber sehen, obwohl er in Vincents Skizze ein wenig vage und unklar blieb, denn sein Vater diente Vincent zwar als Objekt für satirische Portraits, besaß aber doch auch eine tiefe, primitive Macht. Was Vincent nicht hätte vorhersaen können, waren Tullys nächste Worte.
»Ich hatte heute nacht Besuch, Vincent, von Sergeant Honan von der Polizei. Er kam sehr spät, du warst schon längst in die Arms gegangen.«
Vincent erzählte mir, er habe nicht darauf reagiert, sondern ruhig abgewartet, ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen, denn Tully hielt einen abgewandten Blick für den Beweis eines Vergehens.
»Er hat nach dir gefragt«, fuhr Tully fort. »Und ich sagte, du wärst höchstwahrscheinlich mit deinen Freunden in den Arms und würdest von dort aus sicher noch zu irgendwem auf ein letztes Glas gehen, vermutlich zu Hughie MacMahon. Oder in die Berge, um in irgendeiner Hütte Poitín zu trinken, den er aus der Baronie verbannen soll, wie ihm sein Eid befiehlt. Es ist ein großer Trost für einen Vater, das Benehmen seines Sohnes vorherzusagen.«
»Wenn Sergeant Honan nichts von Pat Laffans Poitín weiß, dann ist er in seinem Unwissen aber wirklich allein«, meinte Vincent, leichthin, aber auf der Hut. Der Portwein, der nicht aus Laffans Brennerei stammte, sondern von den sonnenbeschienenen Hügeln Portugals, lag reich und süßlich auf seiner Zunge.
»Du bist nicht der einzige, der Ned Nolan interessant findet«, sagte Tully. »Die irische Polizei interessiert sich auch für den Jungen. Interessiert sich wirklich sehr. Und auch für seine Freunde, die er sich in Kilpeder vielleicht zulegt.«
»Er hat sich zuerst seinen leiblichen Vetter zugelegt, Hugh MacMahon«, erwiderte Vincent. »Und Bob Delaney und mich selber. Bei Gott, die Polizei macht sich ganz schön Arbeit, wenn sie die Freundschaften unter den Männern von Kilpeder untersuchen will.«
»Du weißt sehr gut, was ich meine, Vincent, und es gehört durchaus zu ihren Pflichten. Sergeant Honan hat streng vertraulich mit mir gesprochen. Es geschah aus seiner Herzensgüte und aus seiner Besorgnis um dich und um mich.«
»Um mich?« fragte Vincent. »Und um dich?«
»Es sind verzweifelte Männer am Werk, Vincent, die Kummer und Elend über uns alle bringen können. Du brauchst nicht zur Polizei zu gehen, um das zu erfahren, du brauchst nur in der Messe Pater Cremin zuzuhören. Er hat sie von der Kanzel herab angeklagt, und er hat den Brief unseres Bischofs vorgelesen, der sie entlarvt. Diese verzweifelten Männer, wenn sie machen könnten, was sie wollten, dann würde in den Straßen von Kilpeder und in jeder anderen Stadt in Irland Blut vergossen werden.«
»Und was hat das mit Ned Nolan zu tun?«
»Hältst du deinen eigenen Vater für ein Kind, Vincent? Und hältst du Dublin Castle für hurleyspielende Kinder? Ned Nolan ist ein bekannter Mann. Er ist ein eingeschworener Fenier. Das war in New York bekannt, und was in New York bekannt ist, das weiß auch Dublin Castle. Sie schicken seit sechs Monaten ihre Männer herüber, Schurken und Verworfene, ohne Beschäftigung, jetzt, wo der Krieg zu Ende ist.«
»Und Ned Nolan gehört zu ihnen, wollte Honan dir das sagen?«
»Er hat es mir nicht nur gesagt, Vincent. Er hat einen Bericht aus Dublin mitgebracht und ihn mir gezeigt, in dem Nolans Name steht. Und die Namen der Verbrecher, die ihn losgeschickt haben, und der Tag, an dem er in Dublin angekommen ist. Das alles ist bekannt. Und es war höchst gefährlich für ihn, mir diesen Bericht zu zeigen. ›Äußerste Geheimhaltung‹, stand oben auf dem Blatt, über dem Wappen.«
»Großer Gott«, sagte ich, als Vincent mir das erzählte, aber er zuckte die Schultern.
»Was hast du denn erwartet, Hugh?« fragte er. »Daß die Yankee-Offiziere hergekommen sind, war kein Geheimnis. Es hat im Cork Examiner gestanden. Und die Polizei in Kilpeder weiß noch mehr. Sie wissen, daß es hier einen eingeschworenen Zirkel gibt, weil sie Kneipenprahlereien gehört haben. Aber sie wissen nicht genau, wie groß der ist. Sie glauben, daß du vielleicht der Ortskommandeur gewesen bist, aber daß Ned dich ablösen soll. Und da liegen sie ja nicht allzu falsch.«
Nicht allzu falsch, in der Tat. Und warum ich nicht damit gerechnet hatte, weiß ich selber nicht. Wenn es um Agitation oder Aufwiegelei geht, ist der Schulmeister ein gezeichneter Mann. So war es 48, und so sollte es in den 80er Jahren mit der Land League wieder werden. Wir sind normalerweise ein friedlicher Haufen, wir armen Teufel; und wenn ich eine Bezeichnung für uns alle finden sollte, dann würde ich mich für furchtsam entscheiden, voller Eifer, sich mit Priestern und Inspektoren und ähnlichen Würdenträgern gut zu stellen. Aber wir sind über unseren Stand gebildet, und wir haben unsere kleinen Eitelkeiten, unsere Kenntnis der irischen Geschichte, patriotische Gedichte und Reden von der Anklagebank und den ganzen Rest. Und ich muß zugeben, daß meine Vorgänger am Ort keine glückliche Tradition geschaffen hatten, mit Thomas Justin Nolan, und lange vor ihm dem wilden Dichter und Hurenbock Owen Ruagh MacCarthy, der sich den Rebellen in Mayo angeschlossen hatte und zur Belohnung für seine Bemühungen gehenkt wurde. Aber daß mich irgendwer für den Leiter auch nur einer Antialkoholikerloge halten konnte, verringerte meine Achtung für die Polizei, obwohl das Dokument, mit dem Honan bei den Tullys erschienen war, dem widersprach.
»Aber was ist mit Bob und dir?« fragte ich, um die angemessene Besorgnis um die Sicherheit meiner Freunde zu zeigen.
»Ach, weißt du«, antwortete Vincent. »Uns schützt unser Charakter. Bob ist der ehrgeizige junge Bob Delaney, Dennis Tullys Ladengehilfe. Und was mich betrifft, über mich wissen doch sicher alle Bescheid, Frauen und Rennen und so weiter. Ein Möchtegern-Gentleman, ein Shoneenh. Bob ist mehr Tully als ich selber. Das sagt ganz Kilpeder, das hast du selber gesagt. Und mein Vater glaubt es auch, ehrlich gestanden.«
Seine Worte hatten einen bitteren Unterton, wie ein Mann, der in eine saure Rinde von Wahrheit beißt. Es war fast seit dem ersten Tag so gewesen, als Bob den Hof seines Vaters verlassen hatte, um im Laden zu arbeiten, jüngster Sohn eines Farmers von mittlerem Wohlstand, ein stämmiger junger Bursche mit dem leichten, aber doch lebhaften Auftreten, das dem Selbstvertrauen entspringt. Ich erinnere mich gut an diesen Bob, einen angenehmen Bekannten, der noch kein Freund geworden war, an einem Abend in den Arms oder bei Conefry, schlagfertig und von trockenem Humor, aber immer mit dem ruhigen Blick, der einen Raum voller Männer zu ihren wahren Proportionen schrumpfen lassen konnte, ein Teil seiner selbst hielt sich aus den Neckereien heraus. Ich erinnere mich, wie er im Laden war und wie Tully ihn beobachtete, zufrieden und leicht besorgt, wie ein Mann, der feststellt, daß das eben gekaufte Arbeitspferd sich als geschmeidiger, fähiger Jäger entpuppt hat.
»Aber es gibt einen Unterschied, Vincent«, sagte ich. »Du bist derjenige mit dem Tullyblut, sein einziger Sohn. Du bist derjenige, den er liebt.«
»Ich weiß«, erwiderte Vincent. »Und bei aller Furcht, die seine Worte mir eingeflößt haben, wußte ich auch, daß er da voller Kummer und Besorgnis saß. Cornelius Honan hat jetzt seinen Verdacht, weißt du, und diesen Verdacht hat er in unser Haus gebracht. Er wollte mich vor Ned und dir warnen.«
»Das war anständig von ihm«, sagte ich. »Er ist ein anständiger Mann, weißt du.«
Aber wieder zuckte Vincent die Schultern, noch immer mit diesem Hauch von Bitterkeit. »Viele bei der Polizei sind anständig genug, wenn man ihnen das erlaubt. Aber es kam ihm vor allem darauf an, sich mit Tully und Sohn weiterhin gutzustellen. Die Ardmors glauben vielleicht, daß ihnen die Baronie gehört, die Ardmors und der übrige Adel, mit ihren großen Häusern und ihrer Jagd und ihren Hundemeuten, wenn sie schreiend und scharlachrot gekleidet durch die Felder reiten, wie John Peel. Aber bald werden sie wie die Glasur auf einem Hochzeitskuchen weggekratzt, und darunter wirst du Tully und Sohn finden.«
Als er sprach, konnte ich die beiden sehen, Dennis Tully und Cornelius Honan, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten, während Honans hoher Helm wie um Entschuldigung bittend neben seinen Stiefeln stand. Er versuchte sicher ab und zu, mit dem Finger seinen mit Leder und Roßhaar versteiften Kragen zu lockern. In seiner Hand hielt er den Bericht aus Dublin, Botschaft eines weit entfernten Empires, dessen Befehle er befolgte. Beim Reden stieß er immer wieder mit dem Finger gegen den Bericht. »Nichts Böses in dem Jungen, Tully. Gar nichts Böses, sicher nicht. Heutzutage sind die Jungen leicht ein bißchen wild.« Tully nickte und musterte Honan mit den milden, klaren Augen eines Falschspielers. Aber hinter den milden Augen lagen Zorn über seinen Sohn und Angst um ihn.
»Und dann hat er mich ausgehorcht, Hugh«, sagte Vincent. »Das hat er schon oft gemacht, in anderen Zusammenhängen. Ich weiß, was du von ihm denkst, ein Gombeeni -Mann ohne mehr Gewissen als ein Dachs, aber er ist auch so gerissen wie ein Dachs, und sein Vater, der Gründer, war auch schon so. Und der allererste Tully, mit seinem Bauchladen mit Hökerwaren, Nähgarn und Fingerhüten für die Frauen.« Er hätte auch über eine Pharaonendynastie sprechen können. »Er hätte mich fast zu fassen bekommen, aber ich habe mich rechtzeitig retten können. Ich bin selber ein Tully. Aber eigentlich ist das so nicht richtig. Er hat einfach das ausgesprochen, was er für die Wahrheit hält.«
»Was ich weiß, Vincent«, hatte Tully ihm gesagt, »ist folgendes.« Beim Reden hatte er einen Finger nach dem anderen berührt, zuerst den Kleinen, wie Vincent es im Laden oft bei ihm gesehen hatte, wenn er einem Farmer eine Rechnung erklärte. »Niemand in diesem Land will Ärger – die Leute wollen keinen Ärger, die Kirche nicht und der Adel auch nicht. Wir haben alle viel zuviel Ärger miterlebt. Niemand außer den Unruhestiftern will Ärger, und den werden sie über sich selber bringen. Überall auf dieser Insel steht Polizei, und das sind sehr fähige und gut bewaffnete Männer, sicher und geborgen in ihren starken Wachen, wie in der von Kilpeder. Und wenn die Polizei nicht ausreicht, dann gibt es noch die Armee, und diese Burschen mit ihren Bajonetten werden keinen Unfug dulden. Ich weiß nicht, was diese Unruhestifter wollen, aber ich weiß, was sie bekommen werden, verdammt nochmal.«
»Sie wollen ein freies Irland«, sagte Vincent. »Habe ich gehört.«
»Ein freies Irland!« wiederholte Tully. »Himmel, wollen wir denn nicht alle Freiheit für dieses arme Land?«
»Vielleicht«, sagte Vincent.
»Hat nicht Daniel O’Connell, der Befreier, sein ganzes Leben dafür geschuftet? Sind wir nicht alle unter dem Banner der Repeal Association marschiert, die Priester und alle? Wir haben geschuftet und agitiert auf ordentliche, friedliche Weise, ohne an Verbrechen auch nur zu denken.«
»Die Fenier haben keine hohe Meinung von deinem Daniel O’Connell«, erwiderte Vincent. »Er hat hier und dort riesige Versammlungen abgehalten, und als es den Engländern paßte, sich seiner zu entledigen, haben sie ihren Stiefelabsatz auf ihn gesetzt und seine Bewegung zerschlagen. Und als ein oder zwei Jahre später die Hungersnot kam, hat er das Volk nackt ihrem Wüten überlassen.«
Vincent erhob sich und goß sich noch ein Glas Portwein ein. Sein Vater, dessen eigenes Glas unberührt war, redete zu seinem Rücken.
»Vincent, Vincent, du darfst solche Worte nicht aussprechen. Du warst noch nicht einmal geboren, als O’Connell das Volk zum Widerstand gebracht hat. Er war ein Löwe von einem Mann. Er hat Tausenden Mut gegeben; sie haben in seiner Stimme Schutz gesucht. Wir waren nichts. Verachtet. Sie verachteten uns. Er hat noch die Felsen mit seiner Stimme aufgewühlt. Wenn du mußt, kannst du in diesem Hause töricht daherreden, wo niemand dich hört, aber ich werde kein böses Wort gegen den Befreier dulden.«
»Genau das war er«, sagte Vincent. »Er war eine Stimme. Du hast es selber gesagt. Mehr war er nicht.«
Wir kannten ihn, Vincent und ich und alle in unserem Alter, von den kolorierten Stichen an den Wänden unserer Eltern, an Kneipenwänden, von bei Paraden und Prozessionen getragenen Bannern. Rosiges fleischiges Gesicht, stämmige Schultern, eine Hand in die Seite gestemmt, die andere erhoben. Als ob ein Clanhäuptling in einen modernen Anzug gezwängt worden wäre.
»Eine Stimme«, wiederholte Tully verwirrt.
»Er kam und er ging«, fuhr Vincent fort. »Und er hat uns da gelassen, wo Jesus die Juden gelassen hat. Er ist in Italien gestorben, nicht, wahr, im Rufe der Heiligkeit, zur Zeit der Hungersnot, als Irlands Verhungernde hilflos zusehen mußten, wie Korn und Vieh für die englischen Tafeln abtransportiert wurden.«
»Die Hungersnot war eine entsetzliche Heimsuchung, gegen die Menschen nichts vermochten, aber sie liegt jetzt Gott sei Dank hinter uns. Es geht uns nicht so schlecht, mein Junge, den Tullys und Leuten wie uns. Sieh dir doch die Möbel in diesem Zimmer an, die Tische und alles, was selbst ein Protestant voller Stolz sein eigen nennen würde. In Limerick und auch in West Cork heißt es: ›Die Tullys. Wenn du in West Cork Geschäfte machen willst, dann mit den Tullys.‹ Wir sind im Aufsteigen.«
Als Vincent mir diese Worte wiederholte, sah ich vor mir das Bild der aufsteigenden Tullys, eine triumphierende und unwiderstehliche Prozession. Und doch würde Tully für die Ardmors hinter ihren stolzen Toren und für die anderen adeligen Familien immer »Tully mit dem Laden«, bleiben, man würde sich an die Hütte des Hökers erinnern. Und für die kleinen Bauern aus dem Gebirge würde diese Prozession kein mitreißender Anblick sein. Gombeen-Männer unterwegs. Aber man wußte ja schließlich nie. Haben nicht auch die Fugger und die Medici klein angefangen?
»Du kannst das alles wegwerfen, Vincent, wenn du weiter mit einem Burschen wie Nolan zusammen bist. Aber das weißt du selber, du bist doch ein kluger Junge. Du hast mehr in dir als Bob Delaney, und deine Erziehung war besser als die des Schulmeisters. Hughie MacMahon hat Queen’s College nie von innen gesehen.«
»Und Bob Delaney«, fragte Vincent. »Wirst du den auch warnen?«
»Mehr als warnen, bei Gott«, antwortete Tully. »Ich brauche Bob, er leistet im Laden gute Arbeit, aber er hat nicht unser Blut. Wenn er Schande oder Unehre über den Laden brächte, dann würde ich ihn mit einem Pfund aus dem Haus jagen, für das er in Queenstown die Überfahrt bezahlen kann.« Sein rötliches Gesicht wirkte verzerrt, als ob er die Tränen zurückhalten müßte.
Zuneigung, ein schweres, träges Tier, rührte sich in Vincent. Er setzte sein Glas auf den Tisch, beugte sich über seinen Vater und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Die Tullys werden nicht untergehen, Vater. Du hast das selber gesagt. Einer von uns geht diesen Weg, ein anderer einen anderen.«
»Ich weiß nichts über Wege«, erwiderte Tully. »Aber ich weiß, was für uns das Beste ist.« Er legte die Hand auf die seines Sohnes und umklammerte sie.
Und so verließ Vincent ihn und ging in sein Zimmer hinauf. Aber er blieb in der Tür stehen. Sein Vater saß bewegungslos da. Er hatte den Kopf von der Tür abgewandt und blickte auf den schweren rosa-weißen Marmor des Kamins, als ob er in dem kühlen, schönen Stein Trost finden könnte.
»Da hast du es«, sagte Vincent. »Er hat seinen Verdacht, aber er wagt nicht, ihn auszusprechen, aus Angst, er könnte sich bewahrheiten. Er hat auch seinen Aberglauben, weißt du.«
»Er liebt dich, Vincent«, sagte ich. »Und er hat Angst um dich. Und dazu hat er schließlich auch allen Grund.«
»Ja, nicht wahr?« meinte Vincent. »Aber dieses eine Mal steht die Zeit auf unserer Seite. Du spürst es überall. Es ist bald soweit. Bei Gott, Hughie, das wird ein Tag!«
Im Kerzenschein lächelte Nolan mich an. Ein Totenschädel.
»Ein Tully nimmt diesen Weg, ein anderer den anderen«, sagte Vincent.
Er nahm zwei Zigarren aus seinem eleganten Zigarrenetui, und als er meiner Feuer geben wollte, funkelten seine goldenen Manschettenknöpfe auf ihrem Bett aus schneeweißem Leinen. Er lächelte mich, seinen Vater, sich selber an. Er hatte die Gabe der Eleganz. Eine unerwartete Gabe, die die Gelehrten mit ihren Tabellen von Wesenszügen, die von einer Generation an die nächste weitergereicht werden, beschämte. Die Tullys waren ein schweres, gewichtiges Geschlecht, mit Ausnahme von Vincent.
Eine Pharaonendynastie. Wenn ich mich an Dennis Tully erinnere, dann sehe ich ihn immer im Laden oder in dem feinen, überfüllten Haus, niemals aber allein, mit klarem Raum vor klarem, freiem Hintergrund. Und doch muß ich ihn oft so gesehen haben, wenn er nach der Messe die Kirchentreppe herunterkam oder mit fest auf dem Kopf verankertem Hut den Marktplatz überquerte. Immer sehe ich ihn, wie er sich zwischen Dingen bewegt, in einer dichten Atmosphäre von Objekten.
Der Laden war mit ihnen vollgestopft – Speckseiten, Schaufeln und Spaten, Mehlfässer, Besen, Flaschen mit Einreibemitteln, Süßigkeiten für die Kinder, Krüge mit eingelegten Früchten, Tuchballen, Fäßchen mit Nägeln, Pappkartons, Teekisten. Hinter der langen Theke gab es Reihen von Schubladen und Verschlägen, höhlenhafte unten in Bodenhöhe, weiter oben immer kleinere, ganz oben unter der Decke waren sie klein und geheimnisvoll. Bob Delaney hatte auf allen sorgfältig den Inhalt notiert, aber Tully brauchte solche Schildchen nicht. Er erkannte den Inhalt jeder Schublade an der Maserung des Holzes, an Fehlern im Lack.
Höflich und aufmerksam bewegte er sich zwischen Fässern und Kisten. Jede Transaktion, wie kompliziert sie auch sein mochte, ungeachtet ihrer Proportionen von Bargeld und Kredit, war eine Ziffernfolge, die er jederzeit klar und abrufbar im Kopf hatte. Er schrieb diese Summen für seine in Fries oder schwarze Hemden gekleideten Kunden, von denen viele nicht lesen oder schreiben konnten, auf Papierstreifen. Für Tully waren diese Transformationen von Kupfermünzen und Schillingen jedoch erst komplett, wenn Bob sie in eines der Kontobücher eingetragen hatte. Den ganzen Tag über wurden die Duplikate der Papierstreifen auf einen Holzdorn aufgespießt, später, eine Stunde vor Ladenschluß, wurden sie von Bob in die Kontobücher übertragen. Die Kontobücher waren Mysterien, denn in ihnen wurden die Zinsen hinzugezählt und regelmäßige Raten festgesetzt. Und auf diese Weise wurden Gegenstände – Nägel und Süßigkeiten und gepreßter Tabak – ganz und gar ätherisch, unsichtbar und unberührbar, ohne Geruch, außer dem schwachen Duft getrockneter Tinte. Aber im Laufe der Zeit, egal, wie diese Zeit festgesetzt wurde, wurden sie rematerialisiert, wurden durch eine Art Transsubstantiation zu einem Tischservice, einer Garnitur Samtportieren, Unterricht im Queen’s für Vincent und bei den Ursulinerinnen für Agnes.
In Kilpeder hieß es immer, Tullys erster Schritt ins Gewerbe des Geldverleihers, in seine Karriere als Gombeen-Mann im wahrsten Sinne des Wortes, habe darin bestanden, sich einem Bauern namens Matthew Dennehy, einem Pächter der Ardmors, gefällig zu erweisen, der vier volle Quartale in Rückstand geraten war und dem der alte Everard Chute, damals Verwalter des Gutes, bereits den Räumungsbefehl überstellt hatte. Ich weiß nicht, ob das Tatsache oder Sage war, aber Dennehy lebte noch, als ich die Schule neu übernahm, und ich verfiel auf die Laune, ihn wie ein historisches Relikt zu studieren, wie man vielleicht einen uralten Kapitän auf halbem Sold studieren würde, der einst in Brienne den jungen Bonaparte mit Schneebällen beworfen hatte.
Ich stellte mir vor, wie sie nachts zusammen sitzen, zwischen sich eine Flasche, im alten Laden am Ende der Gasse. Und zwischen den Schlucken, beim Knacken seiner groben Fingerknöchel, sagt Dennehy noch einmal, daß er einfach keinen Ausweg mehr sieht. Schließlich, behutsam, ängstlich angesichts dieses folgenschweren Schrittes, sagt Tully: »Weißt du, Matt, es gibt vielleicht einen Ausweg.« Und Dennehy, der auf den Lehmboden gestarrt hat, sieht zu ihm auf. »Der Laden ist nämlich dieses Jahr gut gelaufen, Gott sei Dank, und ich habe das eine oder andere Pfund beiseitelegen können.« Und dann, die Augen leicht von Dennehys flehendem Blick abgewandt, holt er tief Atem: »Aber wie das so ist, Matt, ich hätte gern etwas mehr zurück, als ich dir geben könnte… Wenn du wieder auf die Beine gekommen bist, natürlich. Das ist nur recht und billig, nicht wahr? Das ist nicht mehr oder weniger als sonst, wenn ich dich und die anderen hier im Laden anschreiben lasse.« Und Dennehy sagt sofort, wobei seine Worte sich in seiner Aufregung überschlagen: »Wirklich recht und billig, Dennis. Du mußt schließlich an deine Familie denken.« Tully nimmt ein Stück Papier, berechnet, wie hoch die vollständige Summe sein wird, das jetzt geliehene Geld und die kleine Zusatzzahlung, und reicht es Dennehy, der die Augen verdreht. Dann schenkt er beiden noch ein Schlückchen Whiskey ein. Nichts wird schriftlich festgehalten oder unterschrieben. Der Whiskey besiegelt den Handel.
Aber in den kommenden Jahren gab es andere Klienten, und im Laufe der Zeit wurden Vereinbarungen unterschrieben, die Cornelius Hallinan, der katholische Anwalt, aufgesetzt hatte und die die Zahlungsfristen und etwaige Bußsummen festlegten. Sie waren das Wunder und das Geheimnis der Kontobücher. Papier schuf Papier. Zahlen taten sich zusammen, paarten sich und vermehrten sich. Und im Laufe der Zeit wurde Bob Delaney der schlaue Bursche vom Lande mit einer Begabung für Zahlen, der ihre Vermehrung und ihre Nachkommenschaft im Kopf gut im Griff hatte. Tully fühlte sich, wie Bob mir einmal erzählte, unbehaglich in Gesellschaft von Hallinan, einem glatten lächelnden Mann mit aufreizendem Dünkel und gesellschaftlicher Eleganz, Hüter der geheiligten Gesetze der Besitzübereignung. Hallinan hielt sich seine eigene Kutsche samt Gespann, pflegte lässigen Umgang mit protestantischen Anwälten und Gutsverwaltern. Aber Bob war ein hilfreicher Geist gewesen, herbeigezaubert, als er am dringendsten benötigt wurde, als ob Tully einfach eine Wunderlampe gerieben hätte, die sich in seine Regale verirrt hatte. Und das war noch nicht alles, wie jeder, der wollte, sehen konnte, auch wenn Bob das niemals laut sagte, weder zu mir noch zu irgend jemandem sonst.
Tully muß oft Bob und Vincent miteinander verglichen und sich gefragt haben, welcher denn nun sein Sohn war. Vincent muß ihm als exotischer Pfropf auf dem Tullystamm erschienen sein, leichtsinnig mit Geld und Worten, Bob dagegen als Erbe der Tullyschen Gerissenheit, der mit Zahlen so geschickt umgehen konnte wie Tully, der Tuchballen entrollen und ihre Länge an seinem Unterarm messen konnte, und der wie der alte Malachi, der Gründer, seinen Bauchladen voller Waren, seinen Glitzerkram und seine Papiertütchen, die den Tee eines Kätners versüßen sollten, zusammenstellen konnte.
Eine Pharaonendynastie. Es gab alte Männer in Kilpeder, die sich daran erinnern konnten, daß Malachi in der Hütte, die zu meiner Zeit und auch heute noch Tully als Lager diente, seinen Laden eröffnet hatte. Es war ein Hökerladen von der Art, die jetzt wohl noch in fünfzig Städten zu finden ist, Theke und einige Regalfächer, schlecht beleuchtet, Talggeruch, Handel in Kupfermünzen und Schillingen, niemals im Laufe eines Jahres auch nur eine einzige Pfundnote. In jenen Jahren, in den ersten Jahren des Jahrhunderts, muß es eine düstere Gasse gewesen sein, Dreck auf der Fahrbahn, Kot von Pferd und Esel, scharfer Pissegestank, zu alltäglich, um aufzufallen. Der Marktplatz dahinter war auch damals schon der Stolz von West Cork gewesen, mit seiner schönen Markthalle aus kühlen grauen Steinen, wo Eibhlín einst Art O’Leary, gutaussehend und mutig, erblickt hatte, damals hatte es jedoch noch keinen Obelisken für einen noch ungeborenen Ardmor gegeben. Und es gab auch keine katholische Kirche, nur eine Kapelle, auf der noch die düsteren Schatten der Penal Laws lasteten. Die Tore der Ardmor-Domäne, falkengekrönt, drängten sich auf den Platz. Durch sie hindurch rollten die Kutschen des Adels zu Festmählern und Bällen, und in der Ferne, unsichtbar hinter Waldschonungen gelegen, strahlten die hohen Fenster von Ardmor Castle im Kerzenlicht, Musik, ungehört in den dunklen Gassen, erfüllte die hohen Räume. Damals, heißt es, hätten sich die Leute von Kilpeder zu beiden Seiten der Tore zusammengedrängt, um den feinen Gästen in ihren Seiden- und feinen Wollstoffen zuzujubeln, ein Brauch, der später nicht mehr gern gesehen wurde. Aber an solchen Abenden blieb der Malachi meiner Phantasie im Laden und führte nach besten Kräften, des Lesens und Schreibens unkundig, seine Rechnungen.
Und Malachi selber, woher kam der? Gewiß nicht aus diesen Baronien, wo der Nachname Tully ansonsten unbekannt ist. Sohn eines Hausierers vielleicht, aufgewachsen auf der Straße an der Seite seines Vaters, der Vater gekleidet in die Hosen und Schwalbenschwänze der alten Zeiten, sein Bündel über die Schulter geworfen, einen kräftigen Eschenstock in der Hand: So waren sie mit langen Schritten auf den Straßen Munsters unterwegs, und der junge Malachi blieb barfuß immer ein paar Schritte hinter seinem Vater zurück. Hinter ihnen, verhüllt von den Nebeln der Zeit, war nichts.
»Da hast du es«, sagte Vincent noch einmal zu mir und musterte dabei die gleichmäßig brennende Zigarre in seiner ruhigen blassen Hand. »Ein beeindruckender Mann, unser Captain Nolan.«
»Und genau der, den wir brauchen.«
Duftender Rauch stieg zwischen uns auf.
Ich dachte daran, wie ich in der Küchentür gestanden hatte, während Ned mit dem Whiskey dasaß und lächelte, hinter ihm das dunkle Zimmer.
»Ich dachte, du wärst schon längst im Bett«, sagte ich zu ihm.
»Genausowenig wie du.« Er hob die Flasche vom Tisch und hielt sie mir entgegen.
»Einen kleinen vielleicht«, sagte ich und nahm ein Glas aus der Anrichte. Ich setzte mich ihm gegenüber, und er goß Whiskey in unsere Gläser. »Viel Glück«, sagte ich.
»Ja«, erwiderte Ned. »Viel Glück.« Er bewegte sein Glas in einem Kreis auf dem Tisch und hob es dann. Sein Hemd war am Kragen offen, und trotz der Kälte hatte er seine Jacke aufgeknöpft.
»Nun, Ned«, sagte ich. »Wie kommen wir dir vor? Ein trister Haufen von Kriegern, nicht wahr?«
Aber er gab mir keine Antwort. Statt dessen leerte er sein Glas und schenkte es wieder voll.
»Diese Burschen«, sagte er plötzlich. »Du kennst jeden einzelnen von ihnen, und ich nicht.«
»Ach«, meinte ich verwirrt. »Ich kenne sie und kenne sie auch wieder nicht. Einige kenne ich seit Jahren, bei anderen kenne ich die Familie, aber nicht den Jungen selber. Meinst du das? Willst du wissen, ob wir uns auf sie verlassen können?«
»Ein Tag ist festgesetzt worden, Hugh. Wenn wir keinen anderen Befehl bekommen, dann besetzen wir die Polizeikaserne. Wir lassen zwanzig Männer hier, um sie zu halten, und der Rest geht nach Norden, in Richtung Millstreet. Wenn wir sie einnehmen können, meine ich.«
»Warum sollten wir das nicht können«, erwiderte ich. »Wo du doch jetzt hier bist und uns das alles beibringen kannst?«
Er lächelte mich wieder an. »Ich weiß, wie man es angeht. Und du könntest das auch, wenn du dich darauf konzentrieren würdest. Wir umstellen die Kaserne und rufen dem Sergeant zu, er solle sich ergeben. Dann schließt er die Tür auf, und er und seine Männer kommen heraus und legen ihre Karabiner für uns ordentlich auf einen Haufen.« Im Kerzenlicht sah ich ihn mit dem langen, schmalen Kopf nicken. »Das ist doch ganz einfach.«
»Ist es nicht«, widersprach ich, entsetzt über das, was ich für seine Unschuld hielt. »Du würdest das nicht sagen, wenn du Cornelius Honan kennen würdest. Kein Sergeant in der ganzen Polizei ist stolzer auf seine Uniform als er. Er ist schon seit achtzehn Jahren dabei, er ist Sohn eines Tagelöhners aus dem County Limerick.«
»Seid ihr vielleicht zufällig befreundet?« fragte Ned lässig.
Das war eine seltsame Frage für einen Fenier, und ich wollte schon entsprechend antworten, dann unterbrach ich mich jedoch. Honan war ein schwerer, massiver Mann, wie Sergeants schließlich sein sollen, groß und bullig, und obwohl kein Uniformrock seinen Bauch verbergen konnte, war sein Rücken so gerade, als ob er aus Eichenholz gezimmert wäre. Beim Gehen schwang sein ganzes Bein vorwärts, massiv wie der Stamm eines jungen Baumes, und er trat mit festem Schritt auf, ganz bewußt. Aber sein massiver Kopf war nicht bedrohlich, auch wenn er den Proportionen des Körpers entsprach. Oft zeigte sein Gesicht einen sanften, fragenden Ausdruck, die Lippen teilten sich in einem halben Lächeln, und die sanften blauen Augen blickten gerade und freimütig drein.
Con Honan und ich waren sicher über vierzigmal zusammengetroffen, Schulmeister und Sergeant, die einander auf dem Marktplatz oder nach der Messe guten Tag wünschen und liebenswürdige, unwichtige Worte wechseln. Wir waren sechs oder siebenmal zusammen gewesen, wenn auf den weiter entfernt gelegenen Höfen zum Tanz aufgespielt wurde, wenn die Luft vom Klang der Fiedeln und den Rufen der Tanzenden nur so schwirrte, und Honan stand dann mit den Männern seines Alters an der Wand, zu würdevoll, um zu tanzen, ein Pint Porter in einer Hand, die andere in den Gürtel gehakt. Später, wenn er gegangen war, gab es Poitín aus Laffans oder aus einer anderen Brennerei, und das wußte Honan gut, einen gesetzlosen Schnaps, farblos und mächtig. Es war ein Grund, warum er nie lange blieb, ein feinfühlender Takt, der seine Massivität Lügen strafte.
»Nein«, sagte ich. »Nicht befreundet.«
Aber in diesem Moment, im Moment meiner Antwort, erinnerte ich mich an eine solche Nacht, bei Michael Joe Grennan, wo ich mit Bob Delaney, einem rothaarigen, stark trinkenden Mann namens Paudge Skerrett und Michael Joe selber zusammengestanden hatte. Ein junger Bursche mit einer wunderschönen Stimme hatte das Haus mit einem Lied geehrt, und nachdem die letzten Töne verklungen waren, wollte ich meinen Gefährten erklären, warum in Connacht eine Textvariante und hier in Munster eine ganz andere gesungen wurde.
»Das ist ja seltsam«, sagte Honan, der mich gehört hatte und der nun zu uns herüberkam. »Limerick liegt in Munster, aber das, was Sie als Connachtvariante bezeichnen, wird auch in Newcastle West gesungen, wenn auch mit einem etwas anderen Text.«
Und dann trug er in einem Sprechgesang mit sanfter, leiser Stimme, die schon in geringer Entfernung nicht mehr zu hören war, das Lied vor, in einem so reinen Irisch, daß es den Neid jedes gälischen Gelehrten erregt hätte. Als er das Lied beendet hatte, legte Michael Joe ihm die Hand auf die Schulter, sagte »Gut gemacht, Sergeant« und ließ die Hand auf dem Rock dieser Uniform liegen, die unsere war und doch nicht uns gehörte.
»Wir haben zusammen getrunken«, erklärte ich Ned und korrigierte damit meine Worte von eben, »aber wir sind nicht befreundet.«
»Dann wird es dir ja nichts ausmachen, ihn umzubringen«, sagte Ned. »Trink aus«, befahl er dann, goß mehr Whiskey in sein Glas und füllte sein eigenes noch einmal. »Jetzt trinkst du mit mir und nicht mit Sergeant Honan.«
Ich blickte von unseren Gläsern auf und sah in seine im Schatten liegenden, halb verborgenen Augen und dachte an Mary, die oben schlief, und daran, wie ihre schlafende Hand in meiner geruht hatte. Kerzenlicht lag auf Kamin und Kommode. Dahinter war Finsternis.
»O doch«, sagte er. »Wofür sonst hast du die Männer exerzieren lassen, und warum sonst warten wir auf Waffen? Warum sonst haben wir den Eid abgelegt? Honan überläßt uns die Kaserne nicht kampflos, wenn er auch nur einen Funken von Männlichkeit in sich hat. Einige von seinen Männern kommen vielleicht ums Leben, und einige von uns. Honan selber vielleicht, vielleicht du, vielleicht ich.«
Nun hob ich mein Glas und trank den Whiskey auf einen Zug, ohne ihn zu schmecken oder zu fühlen. Ned lächelte wieder, das freudlose Lächeln, mit dem er mich begrüßt hatte.
Bestimmt zweidutzend Mal hatte ich Bob beim Exerzieren davon reden hören, für Irland zu sterben, und wir hatten genauso oft unter uns darüber gesprochen, wenn wir in unserem Wohnzimmer saßen, und wir hatten dieselben Worte in den Liedern gehört, die Vincent in seinem hohen lieblichen Tenor zu Marys Begleitung sang, beide eingehüllt in Kerzenlicht, das nicht grell und hart war wie das an diesem Abend, sondern das sanft Haare und Hände berührte. Der junge Spielmann, der sich mit dem Schwerte seines Vaters gegürtet hatte, zog hinaus in Krieg und Tod; Ruhm wachte über den Gräbern von Clanricarde und Owen Roe. Die Lieder erzählten nie davon, für Irland zu morden, vielleicht Sergeant Honan zu töten, der ein eigenes Lied hatte, reiner und irischer als die Balladen von Thomas Davis und Tommy Moore.
Ned nickte, das langsame, gewichtige Nicken eines Meisters, der einen Novizen in ein Geheimnis einweiht, und goß Whiskey in mein Glas.
»Oder vielleicht einen seiner Constables«, sagte er. »Einen Bauernburschen wie die, mit denen wir heute nacht zusammengewesen sind.«
»Du hast es heute nacht selber gesagt«, sagte ich. »In Knockmany. Sie sind Englands Armee in Irland. Bewaffnet und uniformiert.«
»Ja«, erwiderte Ned.
Aber als ich diese Worte aussprach, waren sie nur Worte, raschelndes Zeitungspapier. Eine Rebellion war auf eine Stadt zusammengeschrumpft, und die Stadt auf eine Küche, die Küche auf zwei Männer, die einander an einem Tisch gegenübersaßen. Finstere Nacht umgab uns, und ich empfand einen unvernünftigen Zorn auf diese unbekannten Männer in Dublin und New York, die glücklich an ihren Intrigen und großartigen Plänen, an ihren vorgeblich heldenhaften Zeitungskampagnen und ihrer lodernden Rhetorik arbeiteten. Meine Rebellion würde ein Küchentisch sein, eine verlauste Kaserne, Ned Nolans amerikanischer Revolver.
»Für dich ist das alles leicht«, sagte ich, und es war mir egal, ob mein Unwillen sich darin zeigte. »Ein Soldat, der in ihrem großen Krieg erzogen und geformt worden ist.«
Ich kostete das zweite Glas, einfach pur, rauh und ohne Wasser, ein scharfes Feuer in meinem Mund.
»Aber das ist es ja gerade, Hugh«, erwiderte Ned. »Das ist es doch. Ich habe dir ja erzählt, daß ich Corporal war, ein Flohsprung über einem gemeinen Soldaten. Wir waren meistens in Lagern oder auf dem Marsch zwischen zwei Orten. Und die Schlachten waren für uns wie Scharmützel, wir feuerten unsere Gewehre ab, pflanzten unsere Bajonette auf und stürzten vor, wenn uns das befohlen wurde. Es war nicht mein Leben, sondern ein Traum, in den ich hineingetaumelt war. Kriege sind für Generäle und Colonels, und vielleicht für die jungen Majore auf ihren Pferden, die Befehle herausbrüllen, die im Kanonendonner niemand hören kann.«
»Heute nacht warst du ein Soldat, bei Gott«, sagte ich und leerte mein Glas. »Niemand von uns hatte je so etwas gesehen. Nach dieser Nacht würde Pat Dunphy dir in die Hölle folgen.«
»Pat Dunphy wird mir in die Hölle folgen«, korrigierte Ned. »Wirf deine Konjunktive und deine Indikative nicht durcheinander, Schulmeister MacMahon.«
Er drehte sein leeres Glas in der Hand, dann hielt er es mir entgegen, und seine Hand zitterte nicht.
»Sei kein Geizhals mit deinem Whiskey, Vetter Hugh«, sagte er. »Mein Vater hat mir immer von der Freigebigkeit der MacMahons vorgeschwärmt. Die Nolans stehen für Vorurteilslosigkeit und die MacMahons für Freigebigkeit, sagte er immer. Sagt man das in Kilpeder immer noch?«
»Ich habe das nie gehört«, antwortete ich. »Für jeden noch einen Kleinen, Ned. Und dann wird die Flasche verkorkt.«
Aber ich goß jedem von uns großzügig ein, schob danach den Korken in die Flasche und schlug mit der flachen Hand hart darauf. Ned starrte mich an, zuckte dann aber die Schultern und nickte.
»Es ist spät«, sagte er.
»Stimmt«, erwiderte ich. »Und ich muß früh aufstehen, um Kilpeders Jugend die Verwendung des Konjunktivs beizubringen.«
»Sollten und würden«, sagte Ned. »Wir würden gern noch weiter reden, aber das sollten wir lieber lassen. Wir würden gern Irland befreien, und deshalb sollten wir Sergeant Honan erschießen. Sollte Sergeant Honan uns erschießen?«
»Es ist spät, Ned«, sagte ich.
»Er hat aus freien Stücken die Uniform angezogen«, fuhr Ned fort, »und er hat den Eid auf Königin Victoria geschworen. Er wurde nicht zwangsweise eingezogen.«
»Das stimmt schon«, sagte ich, überlegte mir jedoch, daß Not ein guter Anwerbeoffizier ist und daß die Polizei sich zumeist harmlosen Aufgaben widmete. Standhafterer Patriotismus als meiner wäre nötig, um sie als gespornte und gestiefelte Kosaken zu sehen.
»Vergiß das nicht«, mahnte Ned. »Ihr alle dürft das nicht vergessen.«
Aber ich wußte im selben Moment, daß Ned mit sich selber sprach. Und ich sollte in späteren Jahren daran denken, wenn Ned Nolans Name benutzt wurde, um den Kindern Angst einzujagen, ein harter Mann, hart wie die Invincibles, ohne Gnade oder Mitleid. Was mit Ned im Gefängnis von Portland geschehen ist, wissen viele, und was in den darauf folgenden unsteten Jahren geschah, können wir uns denken; aber ich weiß aus eigener Erfahrung, daß er nicht immer so war. Wenn Ned uns am festgesetzten Tag in den Kampf führte, dann würden einige von uns getötet werden, und wir würden vielleicht andere töten, und alles wäre auf Neds Befehl hin geschehen. Deshalb hatte er in der Küche wach gesessen, mit der Flasche als einziger Gesellschaft, und deshalb hatte er mich mit diesem schrecklichen, freudlosen Lächeln begrüßt.
»Zeit, die Vorhänge zuzuziehen, Ned«, sagte ich. »Zeit, uns gute Nacht zu wünschen.«
»Richtig«, erwiderte Ned und leerte sein Glas. Und dann erhob er sich so ruhig, als ob er eine Karaffe Wasser geleert hätte.
»Die Vorhänge zuzuziehen«, war nur eine Redensart, denn in unserer Küche gab es weder Vorhänge noch Läden, und wir vermißten sie auch nicht. Ehe ich die Kerze ausblies, trat ich für eine Minute ans Fenster und hörte hinter mir Neds Schritte, als er die Küche verließ. Der Mond muß hinter Wolken verborgen gewesen sein, denn ich blickte in die schwärzeste Nacht hinaus und konnte nur sehen, was das verzerrte Licht in der Fensterscheibe wiedergab. Welche Geschichte kann jemals wahrheitsgemäß geschrieben werden, sei es nun die der Fenier von Kilpeder oder die des Assyrerreichs? Der junge Mr. Prentiss fragt nie nach Unterhaltungen in Küchen, und es würde ihn auch nicht interessieren, daß die dabei fallenden Worte den Eichentisch unter meinen Fingerspitzen, den Geschmack von unverdünntem Whiskey auf meiner Zunge in sich tragen, oder daß danach, als die Worte gesprochen waren, die Welt hinter der Fensterscheibe schwarz und unsichtbar, bedrohlich war: Kilpeder selber, die Baronie, die sie umgebenden Berge, und dahinter Flüsse, Dörfer, Städte, Armeen, Häfen, Gefängnisse und Ozeane. Ich drehte mich wieder zum Zimmer um, blies die Kerze aus und spürte in meiner sie schützenden Hand ihre Wärme.