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[Patrick Prentiss]

Und als Patrick Prentiss, ein Jahr später im Winter 1905 in London, in seiner Wohnung in Pump Court die Geschichte des Fenier-Aufstandes schrieb, hatte auch er das Bild des verschlafenen Marktplatzes von Kilpeder im Kopf.

Es war ein fast so kalter Winter wie der, über den er schrieb, mit leichtem Schnee und grauen, bewölkten Nachmittagen, die Dunkelheit kam früh und war fast willkommen, denn in der Dunkelheit wandte die Stadt sich nach innen, hellen Zimmern und knisternden Kohlenfeuern zu. Im Garten hinter dem Hof war die Erde gefroren, und die blattlosen Zweige sahen brüchig aus, als könnten sie jederzeit abknicken.

Er war mit seiner Arbeit inzwischen gut in Gang gekommen, seine Notizbücher waren auf einem langen Tisch neben seinem Schreibtisch aufgestapelt und peinlich genau beschriftet. Zusammenfassungen von Unterhaltungen, geführt in Pensionen in Dublin oder London, in Bars und Restaurants in Boston und New York, mit Männern, für die, wie für Hugh MacMahon, der Aufstand ein strahlender Morgen in einem ereignislosen Leben gewesen war, und anderen, wie Devoy und Rossa in New York, die immer noch Verschwörer waren, für die das Drama noch längst nicht ausgespielt war: Devoy, schmallippig und sardonisch, grauer, kurzgeschorener Bart und Schlitzaugen, und Rossa, darüber im klaren, daß sein Leben zur Legende, zu Liedern geworden war, jedoch alkoholisiert und prahlerisch, Andeutungen von »Aktionen« seiner Kämpfer bis hinein in die 80er und 90er Jahre, ermordete Grundbesitzer, hingerichtete Denunzianten. Während er in durch Wachsamkeit verhärtete oder durch Whiskey verwässerte Augen blickte, hatte Prentiss versucht, einen lange vergangenen Frühling wiederzufinden.

An den meisten Tagen machte er um fünf Uhr einen Spaziergang durch die herabsinkende Dunkelheit, zum geschäftigen Strand, Straßenlaternen sanft wie Perlen, vom Nebel umhüllt, Schaufenster leuchteten; die Menge drängelte sich auf den Bürgersteigen; dichter Verkehr aus Droschken und Straßenbahnen. Oder er ging am Embankment, an der dunklen und öligen Themse entlang, auf Westminster Bridge und die Houses of Parlament zu, zinnenbesetzt und mit hohen schmalen Fenstern, voll vom Überschwang des 19. Jahrhunderts, verwandelt durch Londoner Nebel und Abendlicht. Verglichen mit diesem Anblick und dem Empire, zu dem er gehörte, schrumpfte das Ereignis, über das er schrieb, zur Bedeutungslosigkeit zusammen, besudelt von komischer Tollkühnheit und vom Whiskey angespornten Schwüren. Einst war in einer anderen Winternacht, 1884, ein Veteran des Aufstandes von 1867, William Lomasney – der »Kleine Captain«, der mit zwanzig Männern die Kaserne von Ballyknockane angegriffen und mit Nolan und den anderen in englischen Gefängnissen gelitten hatte – mit zwei Männern zu den Strebepfeilern der London Bridge unten am Fluß gerudert, wo sie sich in einem verpfuschten Attentatsversuch selber in Fetzen gesprengt hatten. Leichte, sinnlose Kratzer auf den Steinen der großen Stadt, fortgeschwemmt von dem Wasser des schweren, dunklen Flusses.

In seinem Club, dem Savile, bei einem Hammelkotelett, einem Glas, einer Partie Whist, wurde er oft nach seinem Buch gefragt und antwortete dann vage, es handle vom Leben in Irland im letzten Jahrhundert. »Großer Gott!« sagte dann sein Gesprächspartner. »Irland!« Aber nicht wenige hatten irgendwelche irischen Verbindungen – eine Angelhütte in Connemara, einen verrückten Vetter aus Kilkenny, der zur Armee gegangen war. Sie vergaßen immer wieder, daß Prentiss selber Ire war; weder sein Auftreten noch seine Aussprache hatten etwas Irisches. Wenn er die Karten austeilte, fiel ihm plötzlich Rossa ein, der sich über den Tisch beugte. »Niemand hat Ned Nolan so gut gekannt wie ich. Ich kannte ihn so gut wie diese Hand.« Er hielt sie zur Inspektion hin, und Prentiss staunte über ihre Biographie, eine Hand, die in einem englischen Gefängnis die Spitzhacke geschwungen, die Zündkapseln gehalten, die Briefe unterschrieben hatte, die Männer zum Morden geschickt hatten, Schüsse aus dem Hinterhalt, ein Stadthaus, das in die Luft fliegt. Oder er dachte an das erste Licht auf den Derrynasaggarts, als er von Kilpeder nach Killarney gewandert war, um das Gelände kennenzulernen, wie jeder gute Historiker das tun sollte, wobei das Licht zuerst trübe auf Stein und Stechginster fiel, dann heller wurde, Hügel zeigte, zu kahl zum Grasen oder um dort Häuser zu bauen, von Geistern besiedelt. Das fiel ihm ein, wenn er wartenden glatten Händen in makellos weißen Manschetten die Karten austeilte.

Aber später, vielleicht in der Droschke, in der er durch die Dunkelheit nach Hause fuhr, erinnerte er sich an Kilpeder, wie er es in der Ruhe des Morgens vom Eingang der Arms gesehen hatte, oder nachts, wenn er durch die von Falken bewachten Tore des Schlosses schritt, nachdem er den Abend beim alten Lionel Forrester verbracht hatte, und wenn das Mondlicht flach auf Markthalle und Obelisk schien. Entlang der Straße und dann auf der Landstraße nach Macroom bewegten sich schattenhafte Gestalten auf die Polizeiwache zu, eine Szene in der Glaskugel seiner Erinnerung, in London, ein Spielzeug.

Nicht, daß er den Aufstand in Kilpeder für den Mittelpunkt der Rebellion von 1867 gehalten hätte; denn diese Rebellion, wie er inzwischen festgestellt hatte, hatte keinen wirklichen Mittelpunkt gehabt: Ein konfuses Oberkommando, Denunzianten, schlechter Austausch von Nachrichten, Schnee, verstreute, sinnlose Angriffe auf Kasernen, Stationen der Küstenwache, Eisenbahnen, Märsche und Gegenmärsche, demütigende Niederlagen, englische Gefängnisse, die am Ende des Weges warteten. Es war eher das Gegenteil, Kilpeder als typisches Beispiel, bevölkert mit Schauspielern, die Gesichter, Identitäten, Schicksale bekamen, indem er durch seine beiden Vergils von ihnen erfuhr, durch Mac-Mahon und Forrester, einem Schulmeister im Ruhestand und Lord Ardmors älterem Vetter, mit trockener, sardonischer Stimme.

Denn von den noch lebenden Männern, mit denen er gesprochen hatte, waren nur wenige im Märzschnee wirklich »draußen« gewesen. Viele waren bereits in den Razzien von 65 und 66 gefangen worden und saßen in ihren englischen Zellen oder in Dubliner Gefängnissen und warteten auf die Deportation – Devoy, Rossa, O’Leary, Luby. Die Rebellionen waren lokal geschehen, auf Befehl von damals wie heute schattenhaften Männern: Kelly, McCafferty, einigen französischen Colonels auf halbem Sold, die als Führer angeworben worden waren. Die, die draußen gewesen waren, erinnerten sich an Bruchstücke, Fragmente: Eine wilde, verwirrte Schießerei in den Bergen, aufgesetzte Wildwest-Tollkühnheit, tausend Männer, die in der Nacht in den Hügeln von Dublin warteten, hinter Tallaght. Aber warum? Diese Frage machte ihm ununterbrochen zu schaffen. Warum waren diese Männer, verstreut über die Städte Munsters, von Kerry bis Waterford, mit ihren wenigen Flinten und Gewehren, mit ihren pathetischen handgemachten Piken, durch Schnee und ins massive Feuer marschiert, im Dienste einer flickenhaften Verschwörung?

Er fing jeden Tag früh mit der Arbeit an, um halb acht oder acht, wenn London zumeist noch schlief. Starker Tee, ungesüßt, dicht bei der Hand, die Hand bewegte sich, nicht ruhig oder gelassen, wie man sich vielleicht Macaulay oder Michelet bei der Arbeit vorstellen kann, sondern hektisch, ein Absatz oder zwei, dann wurde die Feder auf ihren Halter aus Silber und Onyx gelegt, ein Geschenk seines Vaters, des Dubliner Anwalts, dem Geschichte als Folge von Schriftsätzen erschien, sparsam aufgestellt, einsortiert, verschnürt. Während dieser Pausen durchwühlte er Ordner, Kontobücher, noch nicht aus den Notizbüchern übertragene Notizen, Unterhaltungen, Gerichtsprotokolle, Zeitungsausschnitte.

Das, was Historiker eines Tages (falls er seine Geschichte jemals vollenden würde) als die Rebellion der Fenier bezeichnen würden hatte lange vor 67 oder sogar 65 begonnen – ein Jahrzehnt früher, im Jahre 1856. Es hatte angefangen, als James Stephens – Veteran des Aufstandes von 1848 – nach Irland zurückgekehrt war, um dem Land auf den Puls zu fühlen. Monatelang war er durch die vier Provinzen gewandert, verkleidet als Bettler, Wanderarbeiter, Handelsreisender, hatte mit den Jungen und den Unzufriedenen geredet. Seinen 3000-Meilenmarsch nannte er ihn später; damals war er die legendäre »Nummer 1« der Fenier-Verschwörung. 1865, als er die Zügel der Rebellion in den Händen hielt, wurde er zum Helden der berühmten Flucht aus dem Gefängnis von Richmond; 67 war er ein entthronter Führer, verurteilt zu mehr als dreißig Jahren geschwätziger Erinnerung, inzwischen langbärtig, ein schäbiger Weiser, der ohne einen Penny in einer Vorortwohnung hauste.

Aber 1856, im Jahr seiner Wanderung, war James Stephens ein Irrlicht gewesen, niemals vergessen, vage erinnert. An seabhac, wurde er in den gälischsprachigen Gegenden genannt, »der Habicht«, und das ging in die Polizeiberichte als »Shook« ein, »Mr. Shook«. »Es wird berichtet«, schrieb der Sergeant von Castletown Bearhaven, einer Hafenstadt in einem Ausläufer West Corks, »daß Shook, der letzten Monat von der Gazette in Waterford gemeldet wurde, in dieser Woche Castletown besucht und sich im Laden eines Hufschmiedes namens Grady mit zwanzig Männern getroffen hat. Worüber er mit ihnen gesprochen hat, weiß man nicht, aber alle waren Männer niederen Standes, mit Ausnahme Gradys, der für seine ausschweifenden Gewohnheiten bekannt ist.« Es war ein Jahrzehnt nach der Hungersnot, dem großen Hunger, und Mr. Shook besuchte die am schlimmsten heimgesuchten Gegenden, Schull und Crosshaven und Skibbereen, wo er mit einem jungen Hitzkopf namens Jeremiah O’Donovan sprach, der behauptete, seine Abstammung erlaubte ihm, sich »O’Donovan Rossa« zu nennen.

Mit großen Schwierigkeiten suchte Prentiss nach einem Bild dieses frühen Stephens, unbesudelt von Klatsch, von Versagen. Er sah ihn bei Einbruch der Nacht, auf einem Hügelkamm, vor ihm ein nur unvollkommen vor den Seewinden geschütztes Dorf, Hütten, die zerstreut am trüben Wasser, vor einem dunkler werdenden Strand lagen. Verkleidet als Bettler, langer Übermantel, geflickte und staubige Stiefel, Segeltuchtornister auf den Rücken geschnallt, blieb er stehen. Hier, in diesem Dorf vor ihm, hatten zehn Jahre zuvor die Toten unbestattet in ihren Hütten gelegen, und hinter ihnen in den Feldern war die Kartoffelernte schwarz und stinkend verfault. Ihr Gestank hängt immer noch in der Luft, unbesiegbar von den auffrischenden Winden, die übers Wasser kommen. Er erinnert sich vielleicht an die Bauern von Tipperary im Jahre 1848, höflich und apathisch, verwirrt, als Smith O’Brien ihnen Widerstand predigte, dieser Patriarch mit der milden Stimme, der in die Rebellion geraten war und der ihnen an seinen zarten Fingern das unzählbare Unrecht abzählte, das ihnen zugefügt wurde. Vor der kleinen Menge räusperte ein Kätner sich, spuckte genau zwischen seine Füße, stupste seinen Nebenmann mit dem Ellbogen an. Ein Markttagsvergnügen, diese Herren aus Dublin in ihren Gehröcken, die eine wohlerzogene Rebellion predigten; Constables sollten auf den Straßen angehalten und entwaffnet werden, ohne daß ihnen ein Leid zugefügt würde. Der junge Stephens befand sich in der Menge, gehörte aber nicht zu ihnen, ein geladener Karabiner ruhte auf seinem Unterarm. Neben ihm O’Mahoney, Clanhäuptling der Comeraghs, ein Mann aus Tipperary, den sie kannten, aus kämpferischer Familie: ein großer gutaussehender Mann, dessen Rock offen hing und dem zwei Pistolen im Hosenbund steckten. O’Mahony hätte sie führen können, oder Stephens selber, nicht aber die Gentlemen aus Dublin. Er war nach wenigen Stunden beendet, dieser Aufstand von 48; ein Angriff auf eine Polizeiwache, ein Schußwechsel, zwei Männer tot auf einem Feld. Nie wieder, gelobten O’Mahony und Stephens in ihrem Pariser Exil, angeregt vom Gerede über blanquistische Barrikaden, dunkeläugige carbonari in schlecht beleuchteten Cafés in den Seitenstraßen des Boul’ Mich’. »Setzt die Dorfkämpfer ein« sagte Stephens, »nehmt Geiseln, reißt die Schienen auf.« Und schob O’Mahony die Flasche zu, und der, Abstinenzler in diesen Pariser Jahren, lächelte und schüttelte den Kopf. Aber später schrieb O’Mahony ihm aus New York über Hunderttausende von Hungersnotsiren, die an den Stränden von Boston und New York angeschwemmt worden waren, verwirrt, wütend, Bauern, die nicht an Ziegel und Asphalt und lärmende Pferdebahnen gewöhnt waren, ihre Erinnerungen klammerten sich an Hügel im Sonnenschatten, an Wollgras, an eine gewundene Straße, an Stimmen und Hitze winterlicher Schenken. »Hier gibt es ein zweites Irland«, schrieb O’Mahony. »Ungebrochen. Sie würden Geld schicken, und Männer. England hat sie von zu Hause vertrieben, und das wissen sie genau.« Sie brauchten ein Signal, schrieb er, sie müßten erfahren, daß ihr Land noch nicht tot ist.

Und deshalb begab Stephens sich auf seine Wanderung, auf der er in verstreuten, wirren Polizeiberichten seine Spur hinterließ, in der Erinnerung alter Männer, die die Zeit aufgeblasen und vergrößert hatte, durch den Stolz auf ihre eigene vergangene Jugend.

»Nun, in meiner Stadt, in dieser Stadt«, hatte ein alter Mann aus Cahirciveen, zahnlos, Wangen wie gemaserte Holzäpfel über unrasierten Stoppeln, gestreiftem, am Kragen sorgfältig zusammengestecktem Hemd, Prentiss erzählt, »waren wir ein Pulverfaß, das nur auf den zündenden Funken wartete, und James Stephens war der Funke – Mr.Shook, wie er genannt wurde, an seabhac, der Habicht. Wir trafen uns mit ihm in Pat Sullivans Schenke, unter der Nase der Peelere in der Wache gegenüber. Ich war damals sechzehn, und ich war der Jüngste in Cahirciveen, dem Mr. Shook den Eid abnahm. Das ist eine Tatsache, Mr. Prentiss, und sollte aufgeschrieben werden.« Pat Sullivan, dachte Prentiss, und der Name glitt an seinen Platz: mit O’Connor beim Angriff auf die Küstenwache, lebenslänglich Zuchthaus. Der alte Mann saß zwischen Tochter und Schwiegersohn. Die Tochter traktierte Prentiss mit Tee und Brot, das Brot wimmelte nur so von Rosinen und war mit Zucker glasiert. Mit verlegenem Stolz, wachsame Augen auf den alten Mann gerichtet, nickten sie. »Stephens war ein gutgebauter Mann, mit kräftigen Gliedern und kohlschwarzen Augen. Ich erinnere mich noch gut an ihn, er hatte einen schwarzen Bart. Ein kluger Mann, der vor langer Zeit Lokomotivführer gewesen war. In Killenaule, im Jahre 48, war er verwundet und als tot liegengelassen worden. Er kroch hinter eine Hecke und versteckte sich. Haben Sie das gewußt, Mr. Prentiss?« Ja. Mr. Prentiss hatte das gewußt. Zwei Drucke hingen einander gegenüber. Das Herz Jesu – kalkweiß und zinnoberrot, der Zeigefinger ruhte auf dem wundersamerweise offen daliegenden Herzen – und die ovalen Photographien der Märtyrer von Manchester, Allen, Larkin und O’Brien. Über ihren Köpfen die geschnörkelte Inschrift »God save Ireland«, darunter das Datum ihrer Hinrichtung nebeneinander an einem dreifachen Galgen, 23. November 1867.

»Zu sechs Monaten Zwangsarbeit haben sie ihn verurteilt«, sagte der Schwiegersohn stolz. »Er hat zwölf Stunden pro Tag in Kilmainham Werg gezupft und Postsäcke genäht. Es heißt in der Familie, daß seine Finger sich davon nie wieder erholt haben.« Finger, die die Postsäcke Ihrer Majestät genäht hatten, ruhten auf knochigen Knien.

»Aber Mr. Prentiss möchte etwas über James Stephens erfahren«, sagte der alte Mann. »Nur habe ich nicht mehr zu erzählen. Ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen. Er ist niemals nach Cahirciveen zurückgekehrt. Er ist niemals irgendwohin zurückgekehrt. Das war seine Art, er war ein fliegender Habicht. Er war zu schnell für sie, das Gefängnis von Richmond konnte ihn nicht halten.«

»Er ist erst vor kurzem gestorben«, sagte Prentiss. »Wenn ich vor vier Jahren mit meiner Arbeit angefangen hätte, dann hätte ich mit ihm reden können.«

Der alte Mann schien das nicht zu hören, schien taub zu sein für Nachrichten über einen Mann, der älter war als er selber, einen vergessenen Mann, der hinter den stuckverzierten Mauern von Blackrock dahingewelkt war. Er sah einen jungen fliegenden Habicht, dunkel vor dem Morgenhimmel.

Aber Hugh MacMahons Erinnerung war, wie erwartet, zuverlässiger. »Im Zirkel von Kilpeder gab es keinen, dessen Eid bis in die Zeit von James Stephens’ Wanderung zurückreichte. Bob und Vincent und ich waren die ersten, und wir holten den Eid aus Cork nach Kilpeder. Stephens hat meines Wissens unser Dorf nie besucht, obwohl er angeblich in Macroom gewesen ist. Während seiner Wanderung waren wir sowieso allesamt noch Schuljungen, die sich mit Buchstabieren und Rechnen abmühten. Viel später habe ich Leute kennengelernt, die behaupteten, ihm begegnet zu sein, und auch einige, die sich damit brüsteten, daß Mr. Shook ihnen persönlich den Eid abgenommen hätte. Aber im Jahre 65 war Stephens die Nummer eins, coir war sein genauer Titel, Chief Organiser of the Irish Republic, und er war überall zur selben Zeit, in New York, in Paris, in London, verkleidet sogar in Dublin. Ich erinnere mich an seine Flucht aus dem Gefängnis von Richmond im Jahre 1865. Es war das Hauptgesprächsthema in ganz Irland, und sicher auch in London. Meine Güte, es war phantastisch. Nun hatten sie ihn endlich gefaßt, noch dazu am Vorabend des Aufstandes, wie wir damals glaubten, und der Habicht war ins Netz gegangen. Die Regierung und die Zeitungslakaien, wie wir sie nannten, machten gewaltig Wind um diesen Erfolg. Sie brachten Zeichnungen, damit allen klar wurde, was das bedeutete: James Stephens mit abgerissenem Hemdkragen, an Handgelenken und Knöcheln gefesselt, wurde durch das Tor aus düsterem Stein geführt. Bei seiner Vernehmung war die Dame Street schwarz vor Menschen, alle Gentlemen und Ladies kamen von der Residenz des Vizekönigs, um ihn zu sehen. ›Ich bestreite die Gültigkeit englischer Gesetze hier in Irlands sagte er, ›und ich widersetze mich jeder Bestrafung, die sie mir auferlegen können. Ich habe gesprochen.« MacMahons Lachen endete mit einem trockenen Husten. »›Ich habe gesprochen.‹ Tapfere Worte, bei Gott, aber sie versetzten uns in Panik. Bob und Kevin Mangan, der in Macroom das Kommando hatte, fuhren nach Cork, aber dort wußten sie natürlich auch nicht mehr als wir, und Bob kam voller Wut nach Hause zurück. ›Keine Angsts‹, sagte Jackie Keegan zu ihm, ›sie haben noch keinen Käfig, der stark genug ist, um den Habicht zu halten.‹ Dann legte er Bob die Hand auf die Schulter. ›Die reden allesamt wie Schundromane‹, sagte Bob zu mir, aber den Männern gegenüber versuchten wir, tapfer zu wirken, und wenn ich mich richtig erinnere, dann übernahm Bob mit reinem Gewissen Jackie Keegans Worte. Und, beim lebendigen Gott, hatte Keegan nicht recht? Sie konnten Stephens festnehmen, aber den Prozeß konnten sie ihm nicht machen. Zwei Wochen später war er so frei wie ein Vogel. Es war eine riesige Sensation, und sie hatte eine phantastische Wirkung auf die Bewegung.«

Das stimmte, und Prentiss hatte nur die vergilbenden Zeitungsbände befragen müssen, um das festzustellen. Aber die Flucht war ihm in New York außerdem von John Devoy höchstpersönlich beschrieben worden, der die Gruppe von Männern angeführt hatte, die vor den Gefängnismauern warteten. Gerade und unbeugsam wie ein Schürhaken, wie Ned Nolan einer der niemals Verzeihenden, vermählt mit seinem Eid, Knastbruder, Verschwörer, sah er durchaus nicht irisch aus, sondern wie ein Yankee-Colonel im Ruhestand. »Es war einfach genug«, hatte er gesagt. »Und wieso auch nicht? Ein Binnenjob, wie sie hier sagen. Die beiden Wärter in seinem Block waren eingeschworene Fenier, Breslin und Byrne. Sie brachten ihn durch die innere Mauer und über den Hof, und draußen warteten Kelly und ich und ein Dutzend andere mit einem Strick. Ich weiß noch, daß ein Mann namens Ryan zu mir sagte, als wir die North Circular Road erreichten: ›John, heute nacht haben wir das größte Ereignis der Geschichte miterlebt.‹ Interessantes Urteil über die Kreuzigung.«

»Und was hat Stephens gesagt?« fragte Prentiss.

Devoy lächelte grimmig und zündete seine Zigarre wieder an, wobei er sein Streichholz vorsichtig hin und her bewegte und die Zigarre umdrehte. »Stephens? In dieser Nacht hatte er wenig genug zu sagen, obwohl ich glaube, daß er zu Ryans Sicht der Angelegenheit neigte. Er war ein eitler Mann; von dieser Sünde war er besessen, und ein Jahr später wurde sie ihm zum Verhängnis. Aber zum Teufel, es war felix culpa, hätte er denn ohne Eitelkeit das leisten können, was er zehn Jahre früher geleistet hatte? Ein Mann allein, der über Irlands Straßen wandert und den Samen der Revolution verteilt. In dieser Nacht goß es, ein dunkler Novemberregen. Das eine, woran wir nicht gedacht hatten, war ein Mantel für Stephens, und deshalb legte ich ihm meinen um die Schultern. Der Chief Organiser der Irischen Republik kann schließlich nicht am Ufer des Royal Canal herumbibbern. Aber zuerst steckte ich meinen Revolver an eine andere Stelle, und bis wir das Versteck in der North Circular erreicht hatten, machte ich mir schreckliche Sorgen, die Patronen könnten im Regen naß geworden sein.«

»Sie hätten ihn benutzt«, sagte Prentiss.

Devoy stieß aromatischen Havannadampf aus. »Wenn ein Peeler uns auch nur gefragt hätte, wohin wir wollten, dann hätte ich ihn aus seinen Stiefeln gepustet. Es tut mir leid, daß das nicht passiert ist. Bisher war noch kein Blut vergossen worden, wissen Sie, und das hätte vielleicht den Startschuß gegeben. Bei Gott, in der Nacht, als James Stephens aus dem Gefängnis geflohen ist, hätten wir halb Dublin zum Aufstand bewegen können. Oder etwas später, während der Weihnachtszeit und bis zum Frühjahr 66. Danach kamen die Verhaftungen, und die Organisation zerfiel. Auch 67 hätte es keinen Aufstand gegeben, wenn Stephens nicht abgesetzt worden wäre. Das ging ganz einfach. McCafferty hielt ihm einen entsicherten Revolver an den Kopf und sagte: ›Mr. Stephens, Sie sind abgesetzt.‹ McCafferty hatte ein wunderbar einfaches Auftreten – er war einer der amerikanischen Offiziere, einer von Mosbys Südstaatenguerilla. Aber das weiß ich alles nur vom Hörensagen. Im Februar 66 saß ich selber im Mountjoy-Gefängnis.«

»Und 67«, sagte Prentiss, »als es zum Aufstand kam, hat damals McCafferty den Befehl dazu erteilt? Damals war McCafferty doch Nummer 1?«

Wieder lächelte Devoy. »Außer James Stephens hatte niemand diesen Titel. Außer Mr. Shook. Aber es kann nicht McCafferty gewesen sein. McCafferty organisierte den Überfall auf das Arsenal von Chester. Kelly hat den Befehl erteilt, ein solider Mann. Ich erinnere mich an den Tag des Aufstandes, wir konnten es den Wärtern anmerken, und einer von ihnen, ein anständiger Bursche namens Clanahan, erzählte mir, daß sich oberhalb von Rathfarnham tausend Männer gesammelt hätten und daß die Truppen losgezogen waren, um sie zum Aufgeben zu zwingen. Später hörten wir von den Aufständen in Cork.«

»Vom Aufstand von Kilpeder?«

»Vom Aufstand von Kilpeder, ja, Ned Nolans Aufstand, aber auch von den anderen – Ballyknockane und den anderen. Eine verdammte Verschwendung. Im Hinterzimmer in der Grantham Street habe ich James Stephens im Januar 66 gesagt: Jetzt oder nie‹, und später habe ich andere sagen hören, McCafferty hätte gleich ganze Arbeit leisten und abdrücken sollen, wo er seinen Revolver schon entsichert hatte. Aber dazu hätte er sich niemals hergegeben, und Burke oder Kelly auch nicht. Wir schuldeten Stephens alles. Er hat es verpatzt, und deshalb wurde er zu recht kaltgestellt, aber wir hatten ihm alles zu verdanken. Danach kamen für ihn triste Jahrzehnte, armer Teufel, aber seine Beerdigung war großartig, habe ich gehört.« Wieder zog Devoy an seiner Zigarre und grinste Prentiss an. »Fenier sind Spezialisten für großartige Beerdigungen, Mr. Prentiss. Wir haben den armen Terence MacManus ausgegraben und ihn um die halbe Welt von San Francisco nach Glasnevin gebracht.«

Habicht in einer regnerischen Nacht, dachte Prentiss, in geliehenem Mantel, unter den blattlosen tropfenden Bäumen, von bewaffneten jungen Männern durch Straßen aus braunen und gelben Ziegelsteinen geführt, die Ufer des dunklen Kanals entlang, im prasselnden Regen. Er starb damals, nicht nach tristen Jahrzehnten, zur Strecke gebracht durch die Vogelflinte der Geschichte, und seine lange Wanderung durch Munster und Connacht, die Jahre der Pläne und der Ränke, des Geldbettelhs bei Immigranten in New York, Bahnfahrten, um für Iren, die mit den Nordstaateritruppen in Tennessee, in den Tälern von Virginia lagerten, Reden zu halten, das alles lag weit zurück. Vor ihm lagen nur seine Monate der Unentschlossenheit-Terror, vielleicht, und das Warten auf die Geister, die er selber herbeigerufen hatte, und dann der dickläufige Revolver des Straßenräubers McCafferty, der gegen seinen Schädel gepreßt wurde.

»Mein eigenes Spezialgebiet«, fuhr Devoy fort, »war das Anwerben von irischen Soldaten in englischen Regimentern, und das ging ziemlich gut. Ich habe Hunderten von ihnen den Eid abgenommen. Aber die Briten sind auch keine Trottel. Bis zum Frühjahr 66 waren alle Regimenter von waschechten Engländern abgelöst worden, und ich und meine Anwerbegehilfen saßen hinter Gittern. Stephens hatte mir einen Titel verpaßt, Chief Organiser of the British Army. Er war ganz groß im Titelerfinden. Als sie mich verhafteten, war ich gerade an der Arbeit und hatte zwei Sergeants im Hinterzimmer einer Kneipe. Ein Denunziant hatte mich verkauft.«

Sie aßen in einem Restaurant in den West Twenties, um die Ecke von Devoys Fenier-Zeitung. Vor ihnen standen kalter Kaffee und leere Weingläser.

»Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben sie Ihnen lebenslänglich gegeben«, sagte Prentiss.

Devoy schüttelte den Kopf. »Fünfzehn Jahre Zwangsarbeit. Ich hatte keine Möglichkeit, den Revolver, von dem ich Ihnen erzählt habe, abzufeuern. Deshalb kam ich 71 auch für die Amnestie in Frage, zusammen mit Rossa. Leute wie Ihr Nolan mußten ein paar Jahre länger ausharren. Als Nolan hier herüberkam, haben wir ihn in Empfang genommen:«

»Kannten Sie ihn von früher«, fragte Prentiss, »aus Irland oder aus dem Gefängnis?«

»Überhaupt nicht«, antwortete Devoy. »Ned ist Ende 66 nach drüben geschickt worden, vielleicht auch Anfang 67, am Vorabend des Aufstandes. Und nachher saß er in Portland und ich in Millbank. Ihm erging es am schlimmsten. Millbank galt als vorbildliches Gefängnis, während Portland entsetzlich war. Die Leute sind in Portland verrückt geworden. Ned allerdings nicht. Portland hat Ned hart gehämmert. So geht es eben. Das Gefängnis hat den armen Rossa zum Fanatiker gemacht und Ned zu – naja, zu dem, was er geworden ist. Sie wissen ja, was er geworden ist.«

Aber Prentiss wußte es nicht. Sie alle bewegten sich in Bahnen, die jenseits von seiner Erfahrung oder seinem Begriffsvermögen lagen. Russische Nihilisten vielleicht, oder Anarchisten, die sich in ihren Clubs und Kaffeehäusern in Whitechapel trafen, mit dunklen Gesichtern, großen Gesten, weiten deklamierenden slawischen Armbewegungen. Nicht wie Devoy, zugeknöpft, zurückhaltend, eine höfliche, distanzierte Verbindlichkeit ohne jegliche Liebenswürdigkeit. »Heute?« hatte Devoy zu Beginn ihrer Mahlzeit gesagt. »Heute bin ich ein höchst respektabler alter Geselle. Meine Zeitung hat versucht, das Interesse an irischen Fragen wachzuhalten, wir haben einen Korrespondenten in Dublin, es gibt viele Schwesterorganisationen, hier und in Jersey. Gedenkveranstaltungen. Irland ist im Moment sehr ruhig, wissen Sie, sehr verfassungstreu. Es hat Mr. Redmond und Mr. O’Brien und Mr. Healy seine Zukunft anvertraut.«

Prentiss wußte es besser. Selbst jetzt gab es eine schattenhafte Fenier-Organisation, und Devoy stand ihrem Zentrum nahe.

»Mr. Healey«, fuhr Devoy mit sanfter Stimme fort, »der Mann, der Parnell verraten hat. Und der kleine Johnny Redmond. Es gibt keine Ned Nolans mehr. Das alles ist 1891 in den Hügeln von West Cork gestorben.«

Während des Essens – klare Brühe und Hammelkoteletts für Devoy, die Folge seiner Verdauungsstörungen – hatte der alte Mann lässig über den Aufstand von 67 Auskunft gegeben, ein abgeschlossenes und in der Vergangenheit versiegeltes Ereignis. Aber seine Bemerkungen über die kürzer zurückliegende Geschichte waren ausweichend, gewunden, ab und zu mit einem Hauch von Schwefel befangen – Fraktionen, Spaltungen, Sullivan und der verräterische »Dreiecksflügel«, die Invincibles, Rossas Kämpfer.

»Lomasney«, wagte sich Prentiss vor, »der Mann, der unter der London Bridge die Sprengladungen angebracht hat, hatte Rossa den beauftragt?«

»William Mackey Lomasney«, antwortete Devoy. »Der Kleine Captain, so haben seine Leute ihn immer genannt. Ein gedrungener Mann. Ich kannte seine Witwe gut, sie lebt drüben in Brooklyn.«

»Hatte Rossa ihn beauftragt?« wiederholte Prentiss amüsiert.

»Seien Sie sich da nicht zu sicher, Mr. Prentiss«, sagte Devoy und fixierte ihn mit seinen harten grauen Augen, Messer und Gabel hingen in der Schwebe über dem Kotelett. »Die Organisation ruft ab und zu auf eigene Faust eine Kampagne ins Leben.« Die Gabel spießte auf, das Messer schnitt energisch ins Fleisch. »Lomasney und Ihr Nolan waren Freunde, und keiner stand Rossas Operationen nahe. Das habe ich jedenfalls gehört.«

»Warum Ned Nolan?« fragte er später und nippte mit der Wachsamkeit des Temperenzlers an seinem Weine. »Warum über Nolan schreiben? Ein guter Mann, aber kein Führer. Abgesehen von Clonbrony Wood.«

»Vielleicht gerade deshalb«, sagte Prentiss. »Oder vielleicht, weil ich jemanden wie Nolan nicht verstehen kann, jemanden, der hart wie ein Diamant geworden ist. Er ist wie einer der Männer, über die Plutarch schreibt.«

»Plutarch«, wiederholte Devoy und kostete die schweren Vokale aus wie ein Stück Hammelfleisch. »Wenn ich mich richtig an Mr. Plutarch erinnere, dann wollte er das Leben der Menschen, der Schurken und Patrioten von Griechenland und Rom glasklar darstellen.«

Aber es war Devoy selber, der Prentiss an Plutarch erinnert hatte – exiliert, ein unerschütterlicher Patriot, mit sauberer, aseptischer Ausstrahlung, Zigarren, pro Abend zwei Whiskeys. Sein Gemüt hatte sich so verhärtet wie Nolans, wenn auch mit weniger katastrophalen Folgen. Jetzt war er ein alternder Junggeselle, der sich zwischen den Fraktionen seinen Weg suchte und wie ein Pokerspieler seine Geheimnisse für sich behielt, mit glattem, nichts preisgebendem Lächeln.

»Wir haben manchmal eng zusammengearbeitet«, erzählte Devoy, »aber wir sind uns nie nahe gestanden, wenn Sie den Unterschied begreifen. Ich habe ihm vertraut. Er brach mit uns, als Davitt und ich uns mit Parnell geeinigt hatten. Er gehörte zu den Unversöhnlichen. Er ging danach zu den harten Männern über, den Männern, die am äußersten Rand standen – Dynamit, Revolver. Die Geschichte hat bewiesen, daß er im Unrecht war. Unsere Methoden haben die Grundbesitzer zerschmettert.«

Prentiss wartete wortlos. Er drehte sein Weinglas auf dem weißen, steifen Damast.

»Er brach mit uns, habe ich gesagt. Aber die Aktion haben wir zusammen geplant. Ned war… obskur. Er war ein Kurier zwischen zwei Orten, und manchmal hatte die Organisation ein kleines Gehalt für ihn. Aber meistens mußte er sich nach besten Kräften selber versorgen. Eine Zeitlang hat er hier in der Stadt bei der Straßenbahn gearbeitet, und Ende der 70er Jahre war er eine Zeitlang für Tom Bonner Vorarbeiter in einer Ziegelei oben am Hudson, bei Verplanck. 67 schien lange her.«

Held auf halbem Sold, dachte Prentiss. Die Vergangenheit tot und bleich wie der Schnee von Clonbrony Wood. Aber noch nicht am Ende.

»Der Mann, der in Clonbrony Wood zum Vorschein kam«, sagte Devoy, »war Bob Delaney. Das wäre der richtige Mann für Sie. Ich erinnere mich noch gut an ihn von Parnells Besuch in New York her, Parnell so kühl und gutaussehend wie ein Herzog mit langem Stammbaum in einem Melodram im Theater, und neben ihm Dillon, und Bob Delaney zwei Schritte hinter ihm. Ich mochte ihn sofort leiden, er war ein Mann für alle Eventualitäten. Diese kleine Ratte Healy war bei ihnen, dieser Judas, der seinen Chef verraten hat. Aber nicht Bob Delaney, bei Gott! Delaney hielt zu Parnell, als die geballte Macht von England und der Kirche ihn zerschmettern wollte.«

»Seine letzten Jahre waren unglücklich«, sagte Prentiss. »Ein Dorfanwalt, der ab und zu einen Auftrag finden konnte. An den Anfang von allem zurückgekehrt, nach Kilpeder.«

»Ja«, sagte Devoy. »Und wir wissen warum. Er hatte dieselbe Schwäche wie sein Chef. Eine gewisse fatale Schwäche.«

»Es war nicht nur die Frau«, widersprach Prentiss. »Sie haben es selber gesagt. Die Männer, die zu Parnell gehalten haben, sind mit ihm gestürzt.«

»Nicht alle. Johnny Redmond geht es sehr gut. Es war ein offener Skandal, auf seine Weise genauso schlimm wie die Sache mit Parnell und Katharine O’Shea. Nein, noch schlimmer. Delaney war verheiratet und hatte Kinder, und der Ehemann dieser Frau war sein Freund, ein anständiger Bursche. Parnell war ein Aristokrat, ein Protestant. Bob Delaney dagegen war einer von uns.«

Prentiss zuckte die Schultern. »Es war doch wohl seine Privatsache.«

»Privat?« Die Zähne zwischen den dünnen Lippen wurden gebleckt. »Ehebruch haben als erstes die Engländer in Irland eingeführt. Dermot und Dervorgilla – lesen Sie die Geschichte Ihres Volkes, Mr. Prentiss. Es ist die schlimmste aller Sünden, die Sünde des Fleisches. Delaney hatte eine große Zukunft vor sich, ehe er sich in diese parfümierten Laken verirrte.«

Junggeselle, verheiratet mit Irland, eifersüchtig auf Rivalinnen. In den kalten grauen Augen sah Prentiss einen Moment lang unbarmherzigen, privaten Zorn aufflackern. Dann sagte Devoy, »auch egal, er ist jetzt tot. Möge die Erde nicht zu schwer auf ihm lasten.«

»Er muß Ihnen den Kampf von Clonbrony beschrieben haben«, sagte Prentiss. »Edward Nolan, meine ich.«

»Beschrieben? Ja, das hat er sicher, irgendwann im Laufe der Jahre. Ich kann mich aber nicht erinnern, wenn ich ehrlich sein soll. Ned war niemals so ein Aufschneider wie einige andere. Ich weiß noch, daß er, als er nach seiner Entlassung aus Portland hier landete, bitter genug war, über die verpfuschten Befehle, über all die Feiglinge und die Denunzianten. Aber das waren wir alle. Er hegte kalten Zorn gegen die Denunzianten. Und er hatte in diesem Wald Männer verloren, wissen Sie. Vier von seinen Jungs erschossen, und ein anderer lag tot in den Straßen von Kilpeder. Ich glaube, es waren vier.«

»Ja«, antwortete Prentiss. »Vier.«

Später standen sie im Winterabend von Manhattan. Pudriger Schnee wurde vom Wind im gelben Licht der Straßenlaternen herumgewirbelt, es gab einen sich rasch bewegenden Fußgängerverkehr. Auf der Straße fuhr ein gelbbemalter überfüllter Bus nach Westen, zum Fluß. Eine Polizeistreife, die Devoy erkannte, berührte schmissig den Helm mit der Hand, und Devoy, die Hände in den Taschen seines kurzen Überziehers vergraben, nickte als Antwort. In dieser Stadt gab es keine Peeler – die Polizei rekrutierte sich aus den Schiffsladungen kräftiger Burschen aus Mayo, Leitrim. Devoy, ein Mann mit Beziehungen, kannte ihre Herren, in der Innenstadt, in der Centre Street, und er hatte innerhalb der Truppe seine Clann-na-nGael-Zirkel.

»Ich würde viel darum geben, Mr. Prentiss, mit Delaney und Ned Nolan in Clonbrony Wood gewesen zu sein.« Er hatte sich eine neue Zigarette angezündet und hielt sie fest zwischen den Zähnen.

»Ein Fiasko«, sagte Prentiss skeptisch. »Eine Schießerei im Schneegestöber, fünf Bauernburschen tot. Und danach mußten sie mit erhobenen Händen zu den Constables hinausgehen.«

»Der einzige Schlag seit Emmets Rebellion, der getroffen hat«, sagte Devoy. »Und bisher der letzte.«

In unerbittlicher Winterluft, die durch den Schnee gemildert wurde, im Gaslicht stand er da nach vierzig Jahren im Exil, tüchtig und eingeschrumpft, unversöhnlich. Umgeben von den Straßen einer Stadt, die die seine geworden war, ihre Gerüche und Geräusche gehörten jetzt ihm. Er lächelte und reichte Prentiss die Hand. Die weißen regelmäßigen Zähne waren falsch, die harten Kanten dieses Gebisses wurden von einem gepflegten Militärbart verborgen.

Prentiss jedoch erinnerte sich, in einem anderen Winter an der Themse, lebhafter an West Corks späten Frühling und an Hugh MacMahons Stimme neben ihm, als sie in den Hügeln spazierengingen. Die Hecken hatten frische Blätter, blaßgrün, durchscheinend, und die Sonne fiel auf die Grenzzäune in der Ferne, die das Grün des Weidelandes aufteilten, wo das Vieh graste.

»Ich erinnere mich gut an die Nacht«, sagte MacMahon, in dem höflichen Tonfall eines Menschen, für den es keine wirkliche Rolle mehr spielt, ob er sich gut oder schlecht erinnert, solange die Zuhörer zufrieden sind, solange die Vergangenheit ans Licht kommt, eine Trophäe, die an ihre eigene verlorene Zeit gemahnt.

Pächter der Zeit

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