Читать книгу Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher - Thomas Franke - Страница 10

Vergangenheit

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Es fühlte sich an, als wäre nicht nur sein ganzer Körper, sondern auch sein Gehirn in Watte gepackt. Er hörte etwas, konnte die Geräusche aber nicht zuordnen. Er blinzelte. Seine Augenlider waren verklebt und juckten. Doch als er darüberreiben wollte, stellte er fest, dass er seine Hände nicht bewegen konnte. Irgendetwas hielt sie fest. Wie durch dichten Nebel hindurch drang ein Schmerz in sein Bewusstsein. Instinktiv wollte er gegen die Umklammerung ankämpfen, doch eine Stimme in seinem Inneren mahnte ihn: Warte! Bleib ruhig.

Die Stimme war alt. Sie stammte aus der Zeit, als er noch einen Namen gehabt hatte. In all den Jahren hatte er sie nur sehr selten und undeutlich vernommen. Irgendetwas musste sie wachgerufen haben. Er erinnerte sich an Schmerz, Todesangst und daran, dass jemand ihm immer und immer wieder die gleiche Frage stellte. „Wo ist es? Wo ist es?“

Der Mann ohne Namen versuchte, sich aufzurichten – vergeblich. Warte, mahnte die Stimme in ihm. Erst beobachten, dann analysieren, dann handeln.

Er kniff die Augenlider zusammen, bis Tränenflüssigkeit die verklebten Stellen löste. Blinzelnd blickte er sich um. Er lag in einem alten Krankenhausbett. Seine Handgelenke waren mit Kabelbindern an die Stahlrohre des Bettgestells gefesselt. In seinem Arm steckte eine Kanüle, die mit einem Infusionsbeutel verbunden war. Ihm war kalt. Unter der alten Wolldecke, die jemand achtlos über ihn geworfen hatte, war er offenbar nackt. Neben dem Bett stand ein mit beigebraunem Kunstleder bezogener Drehstuhl. Etwas abseits sah er einen abgenutzten Schrank aus grau lackiertem Blech und einen Metalltisch, der auch in einem Operationssaal hätte stehen können, wären da nicht die massiven Befestigungsschnallen für Arm- und Fußgelenke.

Der Namenlose schluckte trocken. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Furcht schnürte ihm die Kehle zu.

Atme ruhig, befahl ihm die Stimme. Denk daran: Beobachten, analysieren, handeln. Er ließ seinen Blick weiterwandern. Die Wände waren grau und trugen ein seltsames Muster. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass sie mit Schaumstoff verkleidet waren. Schallisolierung, ging es ihm durch den Kopf. Im Gesamtkontext war das kein ermutigendes Detail.

Die Tür war mit dem gleichen Material verkleidet und wäre nicht zu erkennen gewesen, hätte sie nicht einen Spalt offen gestanden. Draußen sprach jemand. Hin und wieder waren Schritte zu hören. Da lief jemand auf und ab – nervös, wütend, angespannt. „… warum meldest du dich erst jetzt?!“, vernahm er undeutlich eine Stimme. Erneut Schritte. Die Stimme sprach wieder, war aber zu leise für ihn, um sie verstehen zu können.

Was soll das alles?, ging es ihm durch den Kopf. Warum bin ich hier?

Der Namenlose versuchte, seine letzten Erinnerungen hervorzukramen. Er war im Hinterhof des Restaurants gewesen. Ein Mann war plötzlich aufgetaucht: groß, breitschultrig, schütteres Haar. Er hatte ihn Peter genannt. Und dann? War da nur noch grauer Nebel …

Der Breitschultrige hatte geglaubt, ihn erkannt zu haben. Hatte ihn seine verschüttete Vergangenheit mit diesem Typen eingeholt oder war es eine Verwechslung gewesen?

Peter. Er versuchte, der Wirkung dieses Namens nachzuspüren. Doch er löste keinen Widerhall in ihm aus.

Hör auf damit!, blaffte die Stimme in seinem Inneren. Konzentrier dich auf das Wesentliche! Sein Hirn arbeitete fieberhaft, während seine Augen durch den Raum huschten und versuchten, jedes Detail wahrzunehmen. Eine Kamera war nirgends zu sehen, kein Laptop, kein Smartphone, keine Uhr. Nirgendwo war Technik zu erkennen. Die Einrichtung des Raums war alt, aber der Stil war ihm nicht unvertraut. Diese Gegenstände entstammten einer Zeit, in der er noch jung gewesen war.

Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf: ein Schlafsaal, junge Gesichter, rasierte Schädel und graue Uniformen … Unwichtig!, bellte die Stimme in ihm. Konzentrier dich! Stell die wesentlichen Fragen.

Er betrachtete die Kanüle und die Infusionsnadel. Warum bin ich wach? Sein Blick wanderte den Infusionsschlauch entlang nach oben. Der Beutel war voll. Aber keine Flüssigkeit rann durch den durchsichtigen Plastikschlauch. Die Stellschraube war nicht gelöst worden. Mit Absicht? Er blickte wieder zur leicht geöffneten Tür. Oder jemand war bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Wie auch immer – einfach abzuwarten, war die schlechteste aller Optionen.

Versuchsweise zog er an seinen Fesseln. Das alte Bettgestell klapperte. Sofort hielt er inne. Es wäre fatal, wenn seine Bewacher mitbekämen, dass er bei Bewusstsein war. Sein Blick fiel auf die Kanüle. Rohe Gewalt war nicht die einzige Möglichkeit, die Fesseln loszuwerden.

Er ignorierte die Frage, woher er wusste, was genau zu tun war, und richtete sich auf. Es bot sich ihm eine winzige Chance, und die musste er nutzen. Sein ganzer Körper schmerzte, und er stellte fest, dass man ihn katheterisiert hatte. Unbedeutend! Mühsam kämpfte er sich so weit hoch, dass er die Infusionsnadel mit den Zähnen zu packen bekam. Es gab einen kleinen stechenden Schmerz, als er sie herauszog. Er spürte ihn kaum. Sein Körper hatte schon weit Schlimmeres erlebt.

Blutstropfen rannen seinen Arm hinab und perlten auf die gummierte Matratze. Er beugte sich tief über seinen gefesselten Arm und schielte über seine Nasenspitze hinweg auf den Kopf des Kabelbinders. Es brauchte seine ganze Konzentration und ein Dutzend vergeblicher Versuche, ehe es ihm endlich gelang, die Nadelspitze unter die Kunststoffzunge zu drücken, mit der die Zähne des Zugbandes fixiert wurden. Vorsichtig drückte er die Zunge hoch und übte dann mit dem Handgelenk Druck aus. Zahn um Zahn löste sich der Kabelbinder, schließlich fiel er mit einem leisen Klacken zu Boden.

Der Namenlose unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen. Er schüttelte seine Hand, um die stockende Durchblutung wieder in Gang zu bringen, und griff nach der Nadel, sobald er wieder genügend Gefühl in den Fingerspitzen hatte. Nach wenigen Sekunden hatte er sich auch vom zweiten Kabelbinder befreit.

Er schlug die Decke beiseite. Man hatte ihn tatsächlich vollkommen entkleidet.

Während er den Katheter zog, lauschte er. Ein leises Murmeln war zu hören. Der Unbekannte hatte sein ruheloses Auf- und-ab-Gehen vor der Tür wieder aufgenommen, und von Zeit zu Zeit waren einzelne Sätze zu verstehen. „… bin schon seit zwölf Stunden im Einsatz. Ich brauch ’ne Pause.“

Unendlich behutsam glitt der Namenlose aus dem Bett. Das leise Quietschen der Bettfedern ließ ihn erschaudern. Alle seine Muskeln spannten sich an, da er erwartete, gleich seinen Entführer durch die Tür stürmen zu sehen.

Doch alles blieb ruhig. Er schlich näher an die Tür heran.

„Was? Natürlich habe ich das!“, empörte sich der Mann.

Die Stimme kam ihm nicht bekannt vor.

Leise schlich er vorwärts und spähte durch den Türspalt in den Vorraum. Der Typ war untersetzt und ziemlich korpulent. Sein fettiges dunkles Haar hatte er zu einem Zopf gebunden.

„Ja, es ist alles normal … Vor zehn Minuten. Ich war nur kurz pinkeln und dann hast du angerufen … Selbstverständlich sehe ich sofort nach.“ Der Typ salutierte spöttisch und beendete das Gespräch. „Was für ein Scheißjob“, schnaufte er und stopfte das Handy in seine Hosentasche. Dann wandte er sich um und ging direkt auf die Tür zu.

Der Namenlose reagierte, ohne nachzudenken. Als der Typ die Tür aufstieß, sprang er vor und verpasste dem Mann einen gezielten Schlag auf das Karotisdreieck unterhalb des Kiefers. Der Getroffene sackte lautlos zusammen.

Er zog dem ohnmächtig Daliegenden Hose, Hemd und Schuhe aus, dann wuchtete er ihn auf das Krankenhausbett und fesselte ihn mit den Kabelbindern. Der Mann war ganz offensichtlich nur ein Handlanger; es hätte wenig Zweck, ihn zu befragen.

Zuerst musste er von hier verschwinden, alles Weitere würde sich zeigen. Er schlüpfte in die Kleidung des Dicken. Die Hose war zu kurz und das Hemd wirkte an seinem drahtigen Körper wie ein Kartoffelsack. In der Hosentasche fand er ein Smartphone und einen Schlüsselbund mit einem programmierbaren Schlüssel. Ein sicheres System, da der Besitzer des Masterkeys per App steuern konnte, welche Schlösser mit dem Schlüssel geöffnet werden konnten. Außerdem konnte er den Schlüssel jederzeit sperren, sollte er verloren gehen. Das bedeutete, dass der Namenlose nur ein enges Zeitfenster hatte. Sollte der Strippenzieher im Hintergrund Verdacht schöpfen, würde ihm der Schlüssel nichts mehr nützen.

Er erwog, das Handy hierzulassen, entschied dann aber, dass die Informationen, die er möglicherweise dadurch gewinnen konnte, wichtiger waren als die Gefahr der Überwachung. In der schallisolierten Zelle schien es keine Kamera zu geben. Ob das auch für den Vorraum galt, war zweifelhaft.

Der Namenlose polsterte das Hemd mithilfe der Decke aus, um zumindest eine ähnliche Statur wie der Dicke zu haben, und ging mit gesenktem Kopf durch den zweiten Raum direkt auf die dicke Stahltür zu, die ihm den Weg nach draußen versperrte. Seine Verkleidung war mehr als improvisiert, aber vielleicht hatte er ja Glück.

Das Handy in seiner Hosentasche klingelte im selben Moment, in dem er den Schlüssel ins Schloss steckte. Hastig schloss er auf. Mit einem leisen Klacken glitt der Riegel zurück. Die Tür ließ sich öffnen, stieß jedoch auf festen Widerstand. Er lugte durch den schmalen Spalt von ungefähr fünf Zentimetern.

Spätestens jetzt musste seinem unbekannten Beobachter klar geworden sein, dass er nicht der Dicke war. Das Klingeln des Handys verstummte und setzte wenig später erneut ein. Er ignorierte es. Schemenhaft erkannte er eine Bretterwand. Hatte man den Ausgang versperrt? Das erschien ihm reichlich unlogisch. Eine schwer gesicherte Stahltür, die man nicht verwenden konnte, war ziemlich sinnfrei. Es musste eine Möglichkeit geben, das Hindernis von hier drinnen aus zu beseitigen.

Sein Blick fiel auf einen altmodischen Doppelschalter neben der Tür. Doch ehe er danach greifen konnte, ging das Licht aus, und das leise Summen der Belüftungsanlage verstummte. Er betätigte dennoch die Schalter. Erwartungsgemäß geschah nichts. Dem Klingeln des Handys in seiner Hosentasche schien etwas Spöttisches anzuhaften. Nach kurzem Zögern fischte er das Gerät heraus und nahm das Gespräch an. „Ja?“

„Gefällt es dir nicht mehr bei mir, Peter?“, fragte eine tiefe Stimme. Ihr Klang jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Bilder huschten schlaglichtartig an seinem inneren Auge vorbei. Ein jungenhaftes Gesicht grinst über die Kante eines Doppelstockbetts hinweg auf ihn herunter … Der Mann neben ihm raunt: „Lass los“, während eiskalte Gischt in sein Gesicht peitscht und um ihn herum die nachtschwarzen Wogen des Meeres brausen … Zornig blitzen die Augen im bärtigen Gesicht des Mannes, während bleiches Mondlicht seine Haut so fahl wie das Fleisch eines toten Fischs erscheinen lässt. „Wo ist es?“, knurrt er mit heiserer Stimme.

Der Namenlose schüttelte die Bilder von sich ab. „Vielen Dank für deine Gastfreundschaft“, erwiderte er der Stimme, die fremd und vertraut zugleich klang. „Aber ich brauche meinen Freiraum.“ Er stellte das Handy auf Lautsprecher und steckte es in die Hemdtasche. Anschließend rammte er die Schulter gegen die Tür. Sie stieß mit einem dumpfen Laut gegen den Widerstand. Täuschte er sich oder hatte dieser für einen Moment nachgegeben?

„Das verstehe ich natürlich“, erwiderte die Stimme sanft. Das Knallen einer Autotür war zu vernehmen, und ein Motor wurde angelassen. „Ich hoffe, du verstehst auch, dass ich dich erst ziehen lassen kann, wenn du mir wiedergegeben hast, was mir gehört!“

Den Namenlosen überlief eine Gänsehaut. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest“, erwiderte er. „Ich besitze gar nichts!“ Er ging ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. Auf der anderen Seite krachte und schepperte es.

„Wenn du weiter solchen Lärm machst, bekommst du noch Ärger mit den Nachbarn“, bemerkte die Stimme. „Und glaub nicht, dass du mich durch dein Obdachlosengehabe hinters Licht führen kannst. Du warst schon immer ein Meister der Tarnung. Aber mich kannst du nicht täuschen. Ich kenne deine Abgründe.“

Der Namenlose rieb sich die schmerzende Schulter. Abgründe? Wovon redete der Kerl? Der einzige Abgrund, der sich in ihm auftat, war das klaffende schwarze Loch in seiner Erinnerung. Er versuchte, sich nicht ablenken zu lassen, und lugte durch den größer gewordenen Spalt. Die Bretterwand war umgestürzt, und wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich dabei um die Rückseite eines Schranks. Nun konnte er auch sehen, dass im Boden Metallschienen eingelassen waren. Offenbar konnte man die Schrankwand verschieben, zumindest wenn man Strom hatte.

„Du redest im Schlaf, wusstest du das schon?“

Der Namenlose zuckte mit den Achseln. „Wen interessiert’s?“ Die Schrankwand war groß und schwer, aber wenn er den richtigen Winkel fand, müsste es möglich sein …

Er umfasste den Türrahmen mit den Händen und presste die Füße gegen das Türblatt. Dann spannte er die Muskeln an und drückte mit aller Kraft. Es knirschte und quietschte, als die Schrankwand Zentimeter um Zentimeter über den Boden rutschte. Seine Muskeln waren fast bis zum Zerreißen gespannt, und sein Herz pochte schnell.

„Du hast mir seinen Namen verraten, Peter“, sagte der Fremde. „Dabei solltest du doch wissen, wie gefährlich Namen sind.“

Erschöpft hielt der Namenlose inne. Die Anstrengung hatte ihn seine ganze Kraft gekostet. Einen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen. Er lehnte sich an den Türrahmen und rang keuchend nach Atem.

„Ich habe ihn gefunden!“, sagte die Stimme. „Wer hätte gedacht, dass du ihn so nah bei unserem alten Hauptquartier verstecken würdest.“

Der Namenlose stutzte. Hauptquartier? Dieses Wort brachte eine Saite in ihm zum Schwingen. Bilder huschten an seinem inneren Auge vorbei. Berlin. Er quetschte sich durch den Türspalt und kletterte über den umgestoßenen Schrank hinweg in einen düsteren Wohnraum, der vollgestopft war mit Bücherregalen und Bildern. In einer Ecke stand eine mit dunkelbraunem Kunstleder bezogene Couchgarnitur. Nichts in diesem Raum war jünger als dreißig Jahre. Es war fast so, als befände er sich in einem Museum. Ein Museum mit einem versteckten, schallisolierten Verhörraum aus den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts.

„Wen hast du gefunden?“, fragte er, während er die Tür zum Flur öffnete.

„Das weißt du ganz genau!“, sagte die Stimme.

Im Gegensatz zum Wohnzimmer war der Flur nahezu leer. Das einzig Auffällige war die stahlverstärkte, mehrfach verriegelte Tür. Der Schlüssel passte, aber er ließ sich nicht herumdrehen. Wie erwartet, hatte der Fremde ihn mittlerweile gesperrt. „Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss“, sagte der Namenlose. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.“

Er öffnete die Tür zum nächsten Raum. Es war ein Schlafzimmer. Eine staubige Tagesdecke lag auf dem altmodischen Doppelbett. Er trat ans Fenster, dessen Griff entfernt worden war, und sah hinab auf einen verwahrlosten Innenhof. Die Wohnung, in der er sich befand, lag im zweiten Stock eines Plattenbaus. Im Hof stand ein verrosteter Lkw. Die Räder waren abmontiert, die Scheiben eingeschlagen.

„Immer noch der alte Taktierer“, sagte die Stimme. Es war zu hören, dass der Mann lächelte. Das Motorengeräusch, das während ihres ganzen Gesprächs zu hören gewesen war, verstummte.

Der Namenlose schluckte trocken, eilte zurück ins Wohnzimmer und warf einen Blick aus dem Fenster. Ein schwarzer SUV hatte vor dem Haus geparkt. Zwei Männer stiegen aus. Einer davon telefonierte. Der andere starrte zu ihm hoch. Es war derselbe Mann, den er im Hinterhof des Restaurants gesehen hatte.

Hastig trat er vom Fenster zurück.

„Sei vernünftig, Peter. Sag mir, was du weißt, und ich lass dich gehen.“

Der Namenlose eilte zurück ins Schlafzimmer und sah sich um.

„Wenn du es mir nicht sagst, wird er es uns verraten. Wir erfahren immer, was wir wissen wollen. Niemand weiß das besser als du!“

Er lügt, schoss es ihm durch den Kopf. Zwar konnte er nicht sagen, an welcher Stelle der Fremde gelogen hatte. Aber irgendwie spürte er, dass der Mann selbst nicht glaubte, was er da gerade gesagt hatte.

Er schaltete das Handy aus, dann ergriff er ein mit Eichenfurnier verkleidetes Nachtschränkchen und schleuderte es durch die Fensterscheibe. Anschließend trat er die Scheibenreste aus dem Rahmen und kletterte hinaus auf das Fensterbrett. Er glaubte, hinter einer der Scheiben ein Gesicht erkennen zu können, ansonsten schien niemand auf den Lärm zu reagieren. Er holte Schwung und sprang.

Obwohl er sich mit aller Kraft abgestoßen hatte, verfehlte er beinahe das Dach des Lkw. Ein scharfer Schmerz schoss in seinen Knöchel, als er aufkam. Ungeschickt rollte er über einen Arm ab, schoss über das Dach hinaus und landete unsanft auf der Motorhaube. Das konnte ich mal besser, kam es ihm in den Sinn, während er sich aufrappelte und über den Hof zum Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite humpelte.

Im Laufen zog er das Handy aus der Tasche und warf es über eine kleine Mauer auf den benachbarten Hof.

Er hastete die Treppe zum Keller hinab. Ein kräftiger Stoß, und die Tür sprang auf. Eilig lehnte er sie wieder an und warf einen Blick zurück durch die schmierige Scheibe. Zwei Gestalten rannten auf den Hof. Einer sah sich um, der andere starrte auf das Display seines Handys.

Der Namenlose wartete nicht ab, wo sie nach ihm suchen würden. So rasch es sein malträtierter Fuß zuließ, hetzte er das Treppenhaus hinauf und gelangte durch die Haustür wieder hinaus auf die Straße. Ein Mann mit einem Amazon-Paket unter dem Arm sprang hastig beiseite und schnaufte: „Ey Alter, bist du irre?“

„Tut mir leid.“ Der Namenlose nickte dem Mann zu und ging weiter. Als der Paketbote im Hausflur verschwunden war, machte er kehrt, stieg in den Lieferwagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand, und brauste davon.

Während er um die Ecke bog und im Rückspiegel den fluchenden Mann aus dem Haus spurten sah, fragte er sich, warum sich bei ihm kein Triumphgefühl einstellte. Anstatt sich über seine gelungene Flucht zu freuen, verspürte er ein nagendes Gefühl der Unruhe. Hier stimmt was nicht, ging es ihm durch den Kopf. Das war zu leicht!

Er musste vorsichtig sein, verdammt vorsichtig. Er würde über einige Umwege nach Berlin reisen. Wenn er herausfinden wollte, wer er war, musste er dort beginnen.

Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher

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