Читать книгу Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher - Thomas Franke - Страница 12

Zeugenvernehmung

Оглавление

Offiziell war Linas Dienst beendet, als sie ein paar Stunden später in der WG-Küche stand und eine beeindruckende Kontraktion ihrer Lungen verspürte, als Lene sie an ihren Busen drückte.

„Is echt lieb, dass de noch mal vorbeijekomm bist.“

„Gerne“, krächzte Lina.

„Du bist eene von die wenigen Leute, die uns ma besuchen kommt.“

„Aber nicht mehr lange, wenn du mich weiter so quetschst“, presste Lina hervor. „Ich würde gerne wieder … atmen.“

„Tut ma leid.“ Lene löste ihre Umarmung. „Ick bin doch immer noch so jeschockt, weil der Mike jestorben is.“

„Das verstehe ich. Wir alle stehen unter Schock.“

„Ja.“ Lene nickte eifrig. „Heut auf Arbeit hab ick nischt Vernünftiget zustande jekricht. Schließlich hat der Uwe mich inne Mensa jesetzt und jesagt, ick soll Mandalas ausmalen.“

Lina nickte. Dass Theo ihr von der Einstichwunde erzählt hatte, gab dieser etwas ungewöhnlichen Zeugenbefragung eine neue Dringlichkeit. Behutsam versuchte sie, das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken. „Weißt du, Lene, ich würde gerne besser verstehen, warum der Mike gestorben ist. Ist es okay, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?“

„Klar.“

„Wollen wir uns setzen?“

Lene nickte. „Ick brauch jetzt ’n Kaffe. Willste och eenen?“

„Gerne.“

Lina setzte sich und startete ihr Tablet.

Indessen schob Lene mit beachtlicher Behändigkeit ihre imposanten Hüften durch die Küche und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

Lina gab ein paar Basisdaten ein. Helene Schmidt, Prader-Willi-Syndrom, Lernbehinderung, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig, Alter …?

„Mit Milch?“, fragte Lene.

Lina hob den Kopf und lächelte. „Nein, danke.“

Wenig später saßen beide am Tisch, zwei Pötte mit dampfendem Kaffee und eine Schüssel mit Doppelkeksen vor sich.

„Willste eenen?“ Lene wies großzügig auf die Keksschüssel.

„Nein, danke.“

„Nich schlimm, dann übernehme ick den Job.“ Lene zwinkerte ihr zu und griff sich einen Keks.

„Wie alt bist du eigentlich, Lene?“, fragte Lina. Es war nicht wirklich wichtig, aber es half ihr, unverfänglich ins Gespräch zu kommen.

„Einundfuffzig. Sieht man mir jar nich an, wa?“ Lene fuhr sich mit einer gezierten Bewegung durchs Haar. „Nich eene Falte findste in meene Visage, allet schön mit Fett ausjepolstert.“

Lina unterdrückte ein Schmunzeln. Rasch ergänzte sie ihre Notizen. „Und wie lange kennst du Mike schon?“

„Keene Ahnung, schon ewig.“ Lene winkte ab und nahm sich einen zweiten Keks. „Ick wohn hier ja schon von Anfang an. Der Mike kam erst später, und am Anfang konnta noch loofen. Aber nur mit so ’nem Dingsbums.“

„Rollator?“, schlug Lina vor.

„Richtich.“ Sie griff in die Keksschüssel. „Oh Mann, ick bin echt am Verhungern. Willste nich doch einen? Die sind echt jut, die Dinger.“

„Nein, danke.“

„Uff jeden Fall jings irgendwann nich mehr mit dem Loofen, und Mike musste in ’nen Rollstuhl.“

„Hattest du den Eindruck, dass es Mike in letzter Zeit schlechter ging?“

„Nö. Der hat ja sogar bei der Grillparty mitjemacht. Dit kam für uns alle voll überraschend.“ Lene blickte zur Seite. Eine Träne rann über ihre runde Wange und fiel zu Boden.

Lina reichte der beleibten Frau ein Taschentuch. Diese schnäuzte sich geräuschvoll und griff dann erneut in die Keksschüssel.

„Ist dir letzte Nacht irgendetwas Besonderes aufgefallen?“, fragte Lina.

„Nö, allet wie immer.“ Sie wischte sich einen Kekskrümel vom Kinn und blickte ihr Gegenüber ernst an. „Ick schlafe ja nachts meistens. Da krieg ick nich so viel mit.“

„Verstehe.“

„Moment!“ Lene hob einen Finger. „Einmal war ick uffm Klo – musste mal pieseln. Irgendjemand hat jeschnarcht, als wollte er den janzen Grunewald absägen, und unsere Nachtwache saß inne Küche und hat uffs Handy jeglotzt. Aber dit is nischt Besonderet, dit machen die alle.“ Ein weiterer Keks verschwand zwischen ihren runden Wangen. Sie deutete auf die Schüssel. „Greif lieber zu. Wennde dich nich beeilst, musste mir den Magen auspumpen, wenn du doch noch eenen haben willst.“

Lina verzog das Gesicht. „Danke, Lene, jetzt habe ich garantiert keinen Hunger mehr.“

„Alter Trick von mir.“ Lene zwinkerte. „Funktioniert imma.“ Sie griff erneut zu. Die Schüssel war bereits halb leer.

„Ist dir noch etwas aufgefallen?“

„Der Keno ist durch die Jänge jeschlichen.“

Lina horchte auf. „Er war wach?“

„Ja, aber dit is eijentlich nischt Besonderet. Der is ständig wach.“

„Hast du mal mitbekommen, dass Mike eine Spritze bekommen hat?“

„Wie bei so ’ne Impfung meinste?“

„Genau.“

Lene erschauerte. „Nee. Zum Glück nich. Wir sind ja ooch ’ne WG und keen Krankenhaus.“

„Okay, danke. Wenn dir noch etwas einfällt, sag mir Bescheid.“

„Mach ick. Willste och mit Scotti reden?“

„Ja, gerne.“

„Ick schick ihn dir rein, okay?“

„Ja, bitte.“

„Keen Problem. Sie erhob sich behände, griff sich zwei Kekse und ging in Richtung Tür. Nach zwei Schritten machte sie kehrt und griff sich mit der anderen Hand noch zwei Kekse. „Reiseproviant“, erklärte sie mit vollem Mund.

Eine halbe Minute später kam Scott Schulze um die Ecke geschlichen. Er musste sich bücken, um durch den Türrahmen zu passen. Sein grobschlächtiges, riesenhaftes Gesicht zeigte wenig Regung, nur die wulstigen Lippen waren zu einem winzigen nervösen Lächeln verzogen.

„Hallo, Scott.“ Linas Hand verschwand fast in der Pranke des Hünen. „Setz dich doch bitte.“ Sie deutete auf den Stuhl.

Es dauerte einen Moment, bis er seinen 2,19 Meter großen Körper so weit zusammengefaltet hatte, dass er auf dem Küchenstuhl Platz nehmen konnte. Es sah ein bisschen so aus wie ein müder Vater auf dem Elternabend seines frisch eingeschulten Kindes. Scott hatte das Weaver-Syndrom, eine auf einem Gen-Defekt beruhende Erkrankung, die extreme Großwüchsigkeit und geistige Einschränkungen zur Folge hatte. Er arbeitete in derselben Einrichtung wie Helene. Seine Mutter war Britin, sein Vater Deutscher.

Es war nicht ganz einfach, einen Draht zu ihm zu bekommen. Bislang hatte Lina kaum mehr als ein Dutzend Worte mit ihm gewechselt. „Danke, dass du dir Zeit für mich nimmst“, eröffnete sie behutsam das Gespräch. „Möchtest du vielleicht einen … Keks?“ Sie wies auf die Schüssel, in der noch zwei kümmerliche Exemplare übrig waren.

Er schüttelte den Kopf.

„Bist du damit einverstanden, wenn wir ein bisschen über Mike reden?“

Scott atmete tief ein und aus, dann nickte er so vorsichtig, als habe er Angst, eine zu hastige Bewegung seinerseits könnte eine Katastrophe auslösen.

Mitleidig sah Lina ihn an. „Es muss ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein, als du davon gehört hast.“

Die Augen des Hünen wurden groß. Seine Unterlippe zitterte leicht. Lina lächelte beruhigend und legte ihre Finger auf die riesige Pranke des jungen Mannes. Als seine Augen daraufhin noch ein wenig größer wurden, zog sie ihre Hand rasch wieder zurück. „Ist dir in der vergangenen Nacht irgendetwas Besonderes aufgefallen?“

Er starrte an ihr vorbei an die Wand.

„Scott, hast du irgendetwas Besonderes bemerkt? Vielleicht ein Geräusch oder so?“

Langsam schüttelte er den Kopf.

„Verstehe ich das richtig? Du hast nichts mitbekommen, bis Martha dich geweckt und dir von Mikes Tod erzählt hat?“

Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Lina schluckte. Es fiel ihr schwer, ihn so leiden zu sehen und nichts tun zu können. „Es tut mir so leid. Wir können auch ein andermal weiterreden.“

Scott zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, faltete es umständlich auseinander und putzte sich lautstark die Nase. Dann faltete er das Tuch wieder zusammen, steckte es zurück in die Tasche und blickte Lina fragend an. Offenbar war er bereit, das Gespräch fortzuführen.

„Hast du jemals gesehen, wie Mike eine Spritze bekommen hat?“

Scotts Augen wurden groß, dann schüttelte er langsam den Kopf.

„Ist dir sonst noch irgendetwas Besonderes an ihm aufgefallen? War er anders in letzter Zeit? Hat er irgendetwas gesagt?“

Scott senkte den Blick und schwieg.

Lina versuchte, in seiner Miene zu lesen. Wusste er etwas? Wollte er nichts sagen oder konnte er nicht? Schließlich lächelte sie und sagte: „Gut, Scott. Vielen Dank. Das war’s. Du kannst jetzt gehen.“

Der Hüne nickte bedächtig, dann stemmte er die Hände auf die Knie und schraubte sich wieder zu seiner vollen Größe empor. Als er mit gesenktem Kopf zur Tür ging, sagte er plötzlich: „Mike war mein Freund.“

Seine Stimme war so tief, dass der Boden unter Linas Füßen zu vibrieren schien.

„Ich weiß.“ Lina erhob sich und blieb unschlüssig stehen. Am liebsten hätte sie diesen riesigen Kerl umarmt. Aber sie spürte, dass ihre Berührungen ihn nervös machten. „Mike war wirklich ein ganz besonderer Mensch“, sagte sie leise.

Scott nickte bedächtig. Dann bückte er sich unter dem Türrahmen hindurch und verschwand im Flur.

Lina wollte hinausgehen, um die nächste Bewohnerin zum Gespräch zu bitten, doch da stand Paula Huthmann schon in der Tür. Dicke Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie streckte beide Arme aus. „Du musst mich trösten!“, schluchzte sie.

Lina nahm sie in den Arm und fischte ein Taschentuch aus der Hosentasche. Es war binnen weniger Sekunden durchnässt. „Komm, wir setzen uns“, schlug Lina drei Taschentücher später vor.

Paula nickte stumm und setzte sich dann im Schneidersitz auf den Küchenstuhl. Die junge Frau hatte Trisomie 21. Ihr einundzwanzigstes Chromosom war statt doppelt dreifach vorhanden. Diese Veränderung des Genoms bewirkte unter anderem die für die Erkrankung typischen Gesichtszüge, weshalb das Syndrom früher auch Mongolismus genannt worden war. Eine weitere heute noch gebräuchliche Bezeichnung war Down-Syndrom, benannt nach dem Arzt, der die Folgen dieser besonderen Chromosomenkonstellation als Erster beschrieben hatte.

Paula war die jüngste und vermutlich auch berühmteste WG-Bewohnerin. Die Neunzehnjährige war Mitglied im TheMiHa-Ensemble, einer Theatergruppe, in der Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam spielten. Lina hatte einmal eine Vorstellung besucht, dann aber festgestellt, dass ihr die Stücke zu modern und abstrakt waren. Sie hatte sich die ganze Zeit vergeblich gefragt, worum es in dem Stück eigentlich ging.

Paula wischte sich mit dem Handrücken über die rot geweinten Augen und spähte auf die Keksschüssel.

„Du kannst dir gerne einen nehmen.“

Die junge Frau griff zu.

„Du weißt sicher, worüber ich mit dir reden möchte?“

Paula nickte. Ihre Unterlippe zitterte.

„Mike ist letzte Nacht gestorben und –“

„Mein Opa ist vor einem Jahr gestorben“, unterbrach Paula. „Das war so traurig.“

„Ja, das ist nicht leicht.“ Lina räusperte sich. „Paula, –“

„Lebt dein Opa noch?“, fragte die junge Frau.

„Einer meiner Opas ist gestorben, aber der andere lebt noch.“

„Das ist gut!“ Paula nickte und warf ihr langes Haar über die Schulter zurück.

„Pass auf –“, setzte Lina an, doch die junge Frau unterbrach sie ein weiteres Mal.

„Als Carsten gestorben ist, habe ich nur noch geheult, tagelang.“

„Carsten?“

„Mein Wellensittich.“ Erneut schossen ihr Tränen in die Augen. „Das war so schlimm!“ Sie schluchzte auf.

Lina räusperte sich. „Paula, ich wollte –“

„Kann ich noch einen Keks?“

„Natürlich, bediene dich.“

Paula griff zu. „Wo sind denn die andern abgeblieben?“

„Wer?“

„Na, die Kekse. Bestimmt hat Lene die wieder alle gemampft, stimmt’s? Die isst immer alles auf!“

„Paula, es geht im Moment nicht wirklich um die Kekse.“

„Ja, ich weiß, ich weiß. Ich bin auch ganz traurig. Bei Menschen ist es auch viel schlimmer.“

„Wie bitte?“, fragte Lina, vom plötzlichen Themenwechsel überrascht.

„Na, viel schlimmer als bei Wellensittichen.“

„Du meinst, wenn sie sterben?“

„Na klar.“

„Das stimmt.“ Lina räusperte sich. „Paula, ist dir letzte Nacht etwas Besonderes aufgefallen?“

Die junge Frau schniefte und schürzte nachdenklich die Lippen. „Hm … Ich hab Füße gehört.“

„Füße?“

Paula nickte. „Im Flur. Aber wahrscheinlich war das nur Keno. Der latscht immer die halbe Nacht durch die Gegend.“

„Ja, das habe ich schon öfter gehört …“

„Und es hat gescheppert.“

Lina wurde hellhörig. „Tatsächlich?“

„Ja, irgendwo draußen. Wahrscheinlich war das bei den Mülltonnen. Da kloppen sich manchmal die Katzen.“

„Verstehe.“ Lina unterdrückte ihre Enttäuschung. Was hatte sie erwartet?

„Ich könnte jetzt noch einen Keks vertragen.“

„Paula, ist dir an Mike irgendetwas Besonderes aufgefallen? Ich meine, war er anders in letzter Zeit, hat er irgendetwas Ungewöhnliches gesagt?“

Ein Lächeln huschte über Paulas verweinte Züge. „Mike war süß. Er hat gesagt, er findet mich hübsch.“

Lina betrachtete das Gesicht der jungen Frau. Sie hatte ein niedliches Lächeln. Tat sich da möglicherweise doch noch eine Spur auf?

„War er in dich verliebt?“, hakte sie nach.

Paula warf sich schwungvoll die langen Haare über die Schulter. „Ja.“ Sie nickte ernst.

„Bist du dir sicher?“

„Klar.“ Ärger blitzte in ihren Augen auf.

„Hat er das gesagt?“

„So was merkt man doch.“

„Und, warst du auch in ihn verliebt?“

„Ich?“ Paula schniefte, linste in die leere Keksschüssel, presste verärgert die Lippen zusammen und erwiderte dann: „Nee, nicht so richtig. Der Miky war schon süß, aber ich war nicht in den verknallt oder so.“

„Und war Mike deshalb traurig?“

Paula nickte. „Bestimmt.“

Lina kniff zweifelnd die Augen zusammen.

„Der war bestimmt voll traurig.“ Paula klang aufrichtig betroffen. „Und jetzt bin ich traurig.“ Erneut traten Tränen in ihre Augen. Sie schüttelte energisch den Kopf. „Aber das Leben muss ja weitergehen. Wir haben bald Premiere, willst du eine Freikarte?“

„Äh, das ist wirklich lieb von dir, Paula, aber ich muss erst mal arbeiten.“ Lina räusperte sich. „Sag mal, hast du hier in der WG schon mal eine Spritze gesehen?“

„Du meinst, wie beim Arzt?“

„Ja.“

Paula schüttelte den Kopf. „Hier kriegt keiner Spritzen. Zum Glück! Ich hab nämlich Angst vor Spritzen. Mama sagt, ich hab bestimmt ’n Trauma, weil ich als kleines Kind einmal im Krankenhaus wie verrückt geschrien habe, als der Arzt mich gepiekt hat. Wie ein Spieß hab ich geschrien, hat sie gesagt.“

„Ich verstehe. Vielen Dank, Paula. Du hast mir sehr geholfen.“

„Null Problemo. Soll ich noch mehr Fragen beantworten?“

„Nein, danke, das war’s erst mal.“

„Dann schick ich dir jetzt den Keno.“

„Nein, danke.“

„Kann ich ruhig machen. Ich bin nett!“

„Ich weiß.“ Lina lächelte. „Aber ich glaube, es ist besser, ich besuche ihn.“

„Na gut.“ Die junge Frau huschte aus dem Raum.

Seufzend erhob sich Lina. Keines der Gespräche hatte Theos Verdacht irgendwie bestätigt. Und dass Mike sich aus Liebeskummer selbst etwas angetan hatte, war eine mehr als waghalsige Theorie.

Keno saß an seinem Schreibtisch und zeichnete. Es schien ihn nicht zu stören, dass Lina sein Zimmer betrat. Zumindest zeigte er keinerlei Reaktion.

„Hallo, Keno, ist es okay, wenn ich kurz reinkomme?“

Er sah nicht auf, schaukelte nur sanft mit dem Oberkörper vor und zurück und zeichnete. Sie trat näher und linste über seine Schulter. Ihre Hoffnung, in der Zeichnung irgendeinen Hinweis zu finden, zerstob. Keno zeichnete einen Müllwagen. Das war, wie Theo ihr gesagt hatte, seine Leidenschaft und seine Begabung. Er konnte nahezu perfekte dreidimensionale Zeichnungen von Müllwagen anfertigen.

„Keno“, begann Lina, „darf ich dir eine Frage stellen?“

Keine Reaktion.

„Es geht um Mike.“ Sie beobachtete die Gesichtszüge des jungen Mannes genau. Er schien unberührt, aber sie hatte den Eindruck, dass seine Schaukelbewegungen stärker wurden.

„Theo glaubt, dass dir in der Nacht irgendetwas Besonderes aufgefallen ist. Kannst du mir –“

„Rotes Auto.“

„Rotes Auto?“ Verwirrt hob Lina die Brauen. „Hast du gestern Nacht ein rotes Auto gesehen?“

Das Schaukeln des jungen Mannes wurde stärker. „Rotes Auto. Tim hat ein rotes Auto.“

Mist, dachte Lina. Tims Vorliebe für rote Autos war ihr bereits bekannt. Das war einer von Kenos Standardsätzen. „Ich habe ein blaues Auto“, reagierte sie mit ihrer Standardantwort. Normalerweise gab sich Keno damit zufrieden, doch diesmal wiederholte er: „Tim hat ein rotes Auto.“

Lina seufzte. „Keno, können wir Tims Auto mal kurz vergessen?“

„Tim hat ein rotes Auto!“ Aufgeregt schaukelte Keno vor und zurück.

„Okay, Tim hat ein rotes Auto. Aber kannst du mir sagen, ob du letzte Nacht irgendetwas Besonderes bemerkt hast? War jemand Fremdes hier?“

„Tim hat ein rotes Auto!“ Keno schrie die Worte fast, und er schaukelte nun so heftig mit dem Oberkörper, dass Lina befürchtete, er würde gleich vom Stuhl fallen.

„Tim hat ein rotes Auto“, wiederholte Lina. Sie lächelte und fragte sanft: „Hast du gestern Nacht vielleicht irgendwo eine Spritze gesehen?“

Keno sprang auf. „DER TAUCHER!“, brüllte er so laut, dass Lina erschrocken zusammenzuckte. „WO IST ES?“

„Hey, schon gut.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass dies ein Fehler war.

Keno sprang auf und schrie, als hätte sie ihm ein glühendes Eisen in den Leib gebohrt. Instinktiv ging sie in Abwehrhaltung.

Der Autist war völlig außer sich. Er schlug sich mit beiden Handballen heftig gegen die Schläfen und schrie aus Leibeskräften: „WO IST ES?“

Die Tür wurde aufgerissen. Martha starrte erst den tobenden Keno und dann Lina an. „Ich glaube, das reicht jetzt. Es ist besser, du gehst.“

Lina nickte. „Es tut mir leid, Keno. Ich wollte dir keine Angst einjagen.“

Ihre Worte gingen im Schreien des jungen Mannes unter.

„Bitte verlass den Raum!“, sagte die Betreuerin.

Lina schnappte sich ihr Tablet und ging zur Tür. Kurz bevor sie den Raum verließ, hörte sie Keno sagen: „Der Taucher, der Taucher, der Taucher …“ Es lag eine solche Furcht und Verzweiflung in seiner Stimme, dass ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.

Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher

Подняться наверх