Читать книгу Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher - Thomas Franke - Страница 11
Der Stich
ОглавлениеDie Tür schloss sich, und die Erinnerung überfiel Theo wie ein Flashback. Sie war so plötzlich da und so intensiv, dass er sich nicht gegen sie wehren konnte.
Die Frühlingssonne scheint warm auf die Terrasse. Eine Biene kommt herbeigeflogen und macht sich eifrig an den Bellis zu schaffen, die in einer gemeinsamen Aktion in die Blumenkübel gepflanzt wurden. Theo spürt Mikes Blick auf sich ruhen. Wegen der ungewohnten Helligkeit hat er die Augen zu engen Schlitzen zusammengekniffen. „Was glaubst du – wie viele hast du noch?“, fragt sein Mitbewohner.
„Was?“
Offenbar spiegelt sich Theos Verblüffung deutlich in seinem Gesicht wider, denn Mike schmunzelt leise. „Wie viele Frühlinge?“
Theo runzelt die Stirn. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“
„Ich schon“, erwidert Mike. „Ziemlich oft sogar.“ Er lässt seinen Blick zum Horizont schweifen. „Ich glaube nicht, dass ich noch viele haben werde.“
„Wie kommst du darauf?“, fragt Theo.
Mike zuckt mit den Achseln – eine langsame, schwerfällig anmutende Bewegung. Dann legt er seine bleichen Arme auf den Tisch seines Rollstuhls. „Ah“, seufzt er. „Ich liebe den Frühling.“
„He, alles in Ordnung?“, drang plötzlich eine weibliche Stimme an Theos Ohr. Er zuckte erschrocken zusammen. „Was?“
Marthas gutmütiges Gesicht blickte sorgenvoll auf ihn hinab. „Seit deine Schwester und ihr Kollege gegangen sind, sitzt du einfach da und starrst die Tür an.“
„Entschuldige … Ich war in Gedanken“, erwiderte Theo.
Martha legte eine Hand auf seine Schulter und seufzte leise.
„Das kommt alles so unerwartet, so plötzlich …“ Er verstummte.
„So ist es immer“, sagte Martha.
„Aber er war noch nicht so weit!“, entfuhr es Theo.
Die erfahrene Betreuerin lächelte mitleidig.
„Ich … ich würde ihn gerne noch mal sehen. Meinst du, das wäre möglich?“
Martha zögerte einen Moment, dann nickte sie. „Natürlich, Theo. Nimm Abschied von ihm.“ Sie öffnete die Tür für ihn.
„Danke.“
„Gib mir Bescheid, wenn du fertig bist.“
„Mach ich.“
Es war still in Mikes Zimmer. Totenstill! Theo lief ein Schauer über den Rücken. Sonnenstrahlen stahlen sich durch die halb geöffnete Jalousie und erhellten den Raum. Winzige Staubteilchen tanzten wie Glühwürmchen im flirrenden Licht.
Er fuhr auf Mikes Bett zu. Das Surren des Motors erschien ihm unnatürlich laut. Eine Entschuldigung lag ihm auf den Lippen. Dann machte er sich bewusst, dass niemand da war, der sich an dem Geräusch stören konnte.
Mike lag im Bett, fast so, als würde er schlafen. Theo fuhr näher heran, bis sein Rollstuhl gegen das Bett stieß. Es roch ein wenig seltsam. War das der Geruch des Todes?
Theo zwang sich, den leblosen Körper seines Mitbewohners anzusehen. Seine Haut war weiß und wächsern. Der Mund stand offen, die Augäpfel lagen wie bemalte Kiesel in den Höhlen. Er erinnerte sich, dass Lene davon gesprochen hatte, Mikes Körper sei ganz starr gewesen. Die Totenstarre hatte demnach bereits eingesetzt, bevor man ihm Mund und Augen hatte schließen können.
Es war noch nicht lange her, kaum mehr als ein paar Stunden, da hatte dieser Mund gelächelt, geredet und gelacht, und in den Augen hatte eine wache Intelligenz gelegen.
Ungerufen schwappten erneut die Erinnerungen in Theos Bewusstsein.
Mike und er sitzen auf der Dachterrasse des Hauses und lassen den Blick über die Skyline der Hauptstadt schweifen. Die Sonne glüht ein letztes Mal auf, bevor der Horizont ihre Strahlen verschluckt. Lichter flammen in den Häusern auf.
„Siehst du das?“, fragt Mike. „Manchmal stelle ich mir vor, dass jedes Licht, das am Abend aufflammt, für eine Seele steht. Hinter jedem dieser Fenster hockt irgendein Mensch. Er schaltet die Glotze ein, starrt auf sein Smartphone, unterhält sich, ärgert sich, fühlt sich einsam oder feiert einen Triumph. Jeder von ihnen ist der Mittelpunkt seiner eigenen kleinen Welt.“ Melancholie stiehlt sich in sein Gesicht. „Aber was ist der Sinn dahinter? Millionen von Seelen in einer riesigen Stadt, und jede von ihnen glaubt, dass sie von Bedeutung ist. Aber nichts bleibt für immer. Die meisten von uns bewirken rein gar nichts. Jetzt in diesem Moment sterben Menschen und andere werden geboren. Es ist ein Kommen und Gehen. Wofür? Was bringt das alles?“
Theo starrt in die beginnende Nacht. „Das war eine rhetorische Frage, oder?“
Mike schmunzelt. „Nee, so einfach kommst du mir nicht davon, Theo. Ich will wissen, was du denkst. Hat das Leben einen Sinn?“
„Das ist eine ziemlich große Frage für ein ziemlich kleines Gehirn“, erwidert Theo.
„Hör auf, dich herauszuwinden.“
„Manche sagen, der Sinn des Lebens sei das Leben selbst.“
„Eine elegante Formulierung.“ Mike nickt anerkennend. „Aber was heißt das konkret?“
„Ich denke, damit ist im Grunde gemeint, dass wir das Leben wertschätzen sollen und dass wir selbst ihm einen Sinn verleihen müssen.“
„Klingt nicht schlecht.“ Mike schürzt nachdenklich die Lippen. „Aber verliert das Wort Sinn dadurch nicht jede Bedeutung?“
„Was meinst du damit?“, hakt Theo nach.
„Na ja, eine Kompassnadel, die in jede beliebige Richtung ausschlägt, bietet keinerlei Orientierung mehr. Für den Hedonisten ist der Sinn des Lebens, so viel Spaß wie möglich zu haben, der Asket sieht im Verzicht das höchste Ziel, der Kapitalist sucht Reichtum, der Instagram-Star Follower, der Dschihadist will alle Ungläubigen massakrieren, der Nazi … Ach, weiter will ich mir diesen Mist gar nicht ausmalen. Wenn jeder den Sinn des Lebens für sich selbst bestimmt, kommt vielleicht manchmal etwas heraus, das ehrenwert ist, manchmal etwas Banales, manchmal Blödsinn und nur allzu oft etwas abgrundtief Schreckliches. Wenn alles irgendwie Sinn ergibt, auch die Dinge, die sich absolut widersprechen, wenn die Frage nach dem Sinn im Grunde zu einer Frage des persönlichen Geschmacks wird, hat dieses Wort dann überhaupt noch irgendeine Bedeutung?“
Theo nickt nachdenklich. „Gute Frage. Wahrscheinlich wirst du so viele unterschiedliche Antworten darauf bekommen, wie es Menschen gibt.“
„Ganz bestimmt“, erwidert Mike. „Mich würde interessieren, was du dazu sagst. Findet der Mensch den Sinn des Lebens in sich selbst oder außerhalb von sich?“
„Na ja“, erwidert Theo, „wenn du mich so fragst, würde ich sagen: In gewissem Sinn gehört beides zusammen.“
„Hä?“
„Ich sagte doch, es ist nicht leicht.“
„Versuch’s trotzdem!“
„Ich glaube, dieses Paradox begegnet uns immer wieder. Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt. Jeder ist einzigartig, vollkommen individuell, und doch sind wir alle Menschen. Wir haben unterschiedliche Geschmäcker, aber die gleichen Grundbedürfnisse, und damit meine ich nicht nur die körperlichen Aspekte. Jeder Mensch trägt das Bedürfnis in sich, etwas zu schaffen, ursächlich zu sein in einem tieferen Sinne. Jeder will geliebt werden und zurücklieben. Jeder trägt tief in sich das Bewusstsein für das, was wir Schönheit nennen, und jeder hat eine Ahnung von Recht und Unrecht, und sei sie noch so rudimentär.“
„Ich habe den Eindruck, dass dieses Bewusstsein manchmal sehr rudimentär ist“, bemerkt Mike. „Aber gut. Lassen wir das mal so stehen. Was hat das nun mit dem Sinn des Lebens zu tun?“
„Alles, was ich eben aufgezählt habe, kann ich nicht für mich allein tun. Ich kann mich nicht selbst essen und trinken. Wenn mein Empfinden für Schönheit sich auf mein eigenes Spiegelbild beschränkt, habe ich ein ernsthaftes Problem. Sich selbst zu lieben, ist zu wenig, und Recht und Unrecht ist per Definition ein Aspekt von Beziehung. Manchmal sind wir selbst die Frage, manchmal die Antwort. Aber wir sind nie beides zugleich, verstehst du, was ich meine?“
„Ich denke, schon. Worauf willst du hinaus?“
„Ich glaube, dass es bei der Frage nach dem Sinn des Lebens nicht anders ist. Wenn wir den Sinn unseres Lebens allein in uns selbst suchen, werden wir letztendlich enttäuscht werden. Er existiert aber auch nicht unabhängig von uns, wie ein vergrabener Schatz, den wir ausbuddeln müssen. Er ist unsere Antwort auf eine Frage …“
Das Telefon klingelte und riss Theo aus seinen Gedanken. Im Hintergrund konnte er hören, wie Martha den Flur entlangeilte und an den Apparat ging.
„Theo?“, drang Marthas Stimme durch die geschlossene Tür. „In WG 2 gibt es ein Problem. Sie brauchen meine Hilfe. Ich nehme Keno mit. Du bist dann allein hier!“
„Okay.“
„In dringenden Fällen kannst du mich dort erreichen.“
„Alles klar!“
Marthas Schritte eilten den Flur entlang. Theo hörte, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde.
Sein Blick wanderte zurück zu dem Leichnam. Es war nicht Mike, der dort regungslos im Bett lag, es war nur eine leere Hülle, die nach und nach vergehen würde. Und dennoch erinnerte so schmerzlich viel an den Menschen, der sein Freund gewesen war.
Mike trug einen altmodischen Schlafanzug mit Knopfleiste und Kragen. Wahrscheinlich war er der einzige unter Siebzigjährige in der Stadt, der das tat … getan hatte, korrigierte sich Theo. Auch tagsüber hatte Mike stets Hemden getragen, langärmlige Hemden, die er vom Frühjahr bis zum Spätsommer akkurat hochgekrempelt hatte, so wie Jogi Löw und Jürgen Klinsmann beim Sommermärchen 2006.
Theos Blick fiel auf Mikes rechten Arm, der Ärmelsaum hing ihm irgendwo zwischen Ellenbogen und Handgelenk. Das war merkwürdig. Als ob jemand versucht hätte, den Ärmel herunterzukrempeln, um dann auf halber Strecke aufzuhören. Ob das bei der Untersuchung des Leichnams passiert war? Aber warum sollte ein Arzt das tun? Ohnehin sah es nicht so aus, als hätte Dr. Behrends allzu viele Anstrengungen unternommen, um die Todesursache festzustellen. So wie Mike dalag, hatte sich der Mann nicht mal die Mühe gemacht, ihn zu entkleiden.
Theo nahm seinen Greifer und ließ ihn um den Ärmelsaum schnappen. Es war mühsam, den Stoff nach oben zu schieben. Theo musste seine ganze Kraft aufwenden. Was machst du da, du Trottel?, beschimpfte er sich selbst. Mike ist nicht mehr hier. Ihm ist es völlig schnuppe, wo sein Ärmel hängt.
„Aber mir nicht“, stieß Theo zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wenigstens etwas, was ich für ihn tun kann.“
Endlich hatte er es geschafft. Es sah nicht so ordentlich aus, wie Mike es sich gewünscht hätte, aber besser bekam er es nicht hin.
Theo legte den Greifer zurück auf den Rollstuhltisch. Ein kleiner Schweißtropfen rann ihm von der Stirn in die rechte Augenbraue. „So ist es besser“, schnaufte er zufrieden.
Sein Blick fiel auf den bleichen Arm des Toten. Da war etwas Seltsames. Eine winzige, leicht bläuliche Wölbung in der Armbeuge. Theo beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. In der Mitte der Wölbung befand sich ein rötlicher Punkt.
„Seltsam“, murmelte er. Das sah ganz danach aus, als habe man Mike Blut abgenommen oder ihm etwas in die Vene gespritzt. Theo biss sich auf die Unterlippe. Woher kam das? War Mike in den letzten Tagen beim Arzt gewesen?
Eine seltsame Unruhe erfasste ihn. Nach einem letzten Blick auf den Toten schaltete er den Motor wieder ein und verließ den Raum. Die Zimmertür ließ sich per Taster schließen.
Theos Gummireifen quietschten auf dem Linoleumbelag des Flurs. Er ertappte sich dabei, wie er unbewusst den Atem anhielt, als fürchte er, beobachtet zu werden. Dabei tat er doch gar nichts Verbotenes – bis jetzt.
Das Büro war nicht abgeschlossen. Er atmete tief durch und fuhr zum Schreibtisch. Der Bildschirmschoner zeigte Bilder von Marthas sechs Monate alter Enkelin – kleine Wurstfingerchen und ein breites zahnloses Grinsen.
Es dauerte einen Moment, bis es Theo gelang, die Tastatur mithilfe des Greifers auf den Rollstuhltisch zu ziehen.
Er drückte Strg-Alt-Entf.
Der Computer verlangte das Passwort. Theo tippte daria ein.
Falsch.
Er kniff die Lippen zusammen und versuchte, sich an die Vorgaben der IT zu erinnern, die vor einiger Zeit die Runde gemacht hatten. Dann tippte er Daria2020.
Die Festplatte fing an zu rattern. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. Das war leicht gewesen. Als Marthas Account hochgefahren war, öffnete er die Pflegedokumentation und klickte auf „Mike Lörke“. Es dauerte eine Weile, bis er sich durch die Eintragungen gescrollt hatte. Der letzte Arztbesuch von Mike lag über vier Wochen zurück. Der Einstich im Arm konnte unmöglich so alt sein.
Theo öffnete den Medikationsbogen. Wie er selbst hatte auch Mike eine ganze Reihe von Medikamenten erhalten. Keines der regelmäßig verabreichten Medikamente wurde intravenös injiziert, aber wie war es mit der Notfallmedikation? Da es im Zuge seiner Erkrankung zu Atemnot und damit auch zu Angstzuständen kommen konnte, hatte der Arzt Mike Lorazepam verordnet. Laut Beschreibung in der Dokumentation sollte es oral eingenommen werden – Theo scrollte sich weiter durch den Medikationsbogen –, und zwar in Form von Tabletten. Damit schied eine intravenöse Verabreichung aus.
Es dauerte einen Moment, bis das Geräusch, das sein Unterbewusstsein längst registriert hatte, auch in seinem Bewusstsein ankam. Er griff gerade nach dem Joystick, um den Rollstuhl zu wenden, als eine Stimme ihn erschrocken zusammenzucken ließ.
„Was machst du da?“
Martha stand hinter ihm.
Hastig klickte Theo auf „Abmelden“. „Sorry … Ich hab nur was gecheckt. Alles okay in der Zweiten?“
Der Rechner warnte, dass noch Programme geöffnet seien und Daten verloren gehen könnten. Hastig bestätigte Theo seinen Befehl. „Das Büro ist nur für die Mitarbeiter, das weißt du doch!“
„Ja, ich weiß.“ Erleichtert registrierte Theo, dass auf dem Bildschirm nur noch das Anmeldefenster zu sehen war. Er wandte sich Martha zu, vermied es aber, ihr in die Augen zu sehen. „Aber hier im Büro habt ihr eine LAN-Verbindung, und bei uns spinnt das W-LAN ständig.“ Das war zwar nicht falsch, hatte aber herzlich wenig mit dem eigentlichen Grund für Theos Anwesenheit in diesem Raum zu tun.
„Theo, bitte halte dich an die Regeln!“
„Okay, okay.“
„Mist!“ Martha stand inzwischen am Schreibtisch und wühlte in einem altmodischen Karteikasten. „Du weißt nicht zufällig, wo die Notfallnummer vom Chef ist?“
„Seine Karte hängt an der Pinnwand.“
„Danke!“ Sie ergriff hastig das Telefon und wählte.
Theos Gedanken kreisten. Woher kam dieser Einstich in Mikes Arm? War ihm vielleicht das falsche Medikament verabreicht worden? Oder das richtige Medikament auf die falsche Art und Weise?
Vom Flur her drang Kenos aufgeregte Stimme herein. „Der Taucher, der Taucher, der Taucher!“
„Oh Keno. Jetzt nicht“, rief Martha, während sie das Telefon zwischen Ohr und Schulter klemmte.
Theo fuhr zur Tür. Er musste irgendwo in Ruhe nachdenken.
„Hallo, Herr Teriete“, sagte Martha. Zeitgleich stieß Keno draußen im Flur einen unartikulierten Schrei aus. Es wummerte, als würde er gegen die Wand schlagen. „Einen Moment!“, bat Martha, zwängte sich an Theo vorbei und eilte in den Flur. „Keno, was soll denn das?“
Ein schriller Schrei war die Antwort.
„Geh bitte in dein Zimmer. Nein, nicht beißen, Keno, geh in dein Zimmer und beruhige dich.“
Eine Tür wurde zugeschlagen.
Theo fuhr ebenfalls in den Flur, Martha kam ihm mit eiligen Schritten entgegen und sprach in den Hörer: „Nein, nicht wegen Keno. Die kleine Hanna aus der Zweiten hatte schon wieder einen epileptischen Anfall. Wir haben ihr schon zum zweiten Mal Diazepam gegeben, aber sie ist immer noch so unruhig …“
Martha verschwand wieder im Büro. In Kenos Zimmer krachte es. Er schrie, dann sprach er halblaut vor sich hin: „Weg, er ist weg, weggegangen … WEG …“
Theo wusste aus Erfahrung, dass jeder noch so gut gemeinte Versuch, jetzt mit Keno zu sprechen, nach hinten losgehen würde.
„Aber was sollen wir denn machen? Wir sind komplett unterbesetzt!“, rief Martha gerade aufgebracht ins Telefon.
Theo hatte das Gefühl, sein Kopf würde gleich platzen. Er musste raus hier! Kurzentschlossen verließ er die Wohnung.
Im Aufzug schickte er mit dem Handy eine kurze Nachricht an Martha. Damit sie sich keine Sorgen machte.
Zum Glück war der Stadtpark nicht weit entfernt. Während er seine Runden auf dem Spazierweg drehte und sich alle Mühe gab, den vorbeihastenden Joggern nicht in die Quere zu kommen, wanderten seine Gedanken zurück zu Mikes Leichnam.
Dieser Einstich ließ ihn nicht los. War er dem Arzt nicht aufgefallen? Dr. Behrends war ja nur ein paar Minuten im Zimmer gewesen. Vielleicht hatte er einfach das Naheliegendste diagnostiziert, um schnell zu seinem nächsten Termin zu kommen. Mike hatte ALS gehabt und nun war er gestorben. Das Unvermeidliche war eingetreten, vielleicht ein wenig früher als erwartet. Aber so etwas geschah nun mal. Warum also kostbare Zeit auf jemanden verschwenden, dem ohnehin nicht mehr zu helfen war?
Theo spürte, wie Wut in ihm hochkochte, und gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er gerade vorschnell urteilte. Er war nicht dabei gewesen. Weder hatte er dem Arzt über die Schulter geschaut noch konnte er Gedanken lesen. Bislang hatte er nichts außer Unterstellungen vorzuweisen. Zumindest würde eine neutrale Person das so beurteilen.
Im Grunde war klar, was als Nächstes zu tun war. Er musste dafür sorgen, dass Mikes Leichnam noch einmal untersucht wurde.
Theo wendete und fuhr zurück zu seiner Wohnung. Aus der Ferne sah er einen schwarzen Lieferwagen, der in zweiter Spur parkte. Vielleicht eine Paketlieferung oder ein Handwerker? Obwohl diese Leute eigentlich eher weiße Wagen fuhren – warum auch immer.
Als er noch etwa sechzig Meter entfernt war, konnte er die Aufschrift entziffern: Sargdiscount-Berlin.de stand in weißen Buchstaben auf dem schwarzen Lack.
Einen Moment lang reagierte nichts in ihm. Dann sah er zwei Männer, die einen länglichen Kasten aus dem Haus trugen und in den Wagen schoben.
„Was?“, entfuhr es ihm. „Jetzt schon? Aber –“ Er drückte den Joystick nach vorn und sein E-Rollstuhl beschleunigte auf fünfzehn Stundenkilometer. „Halt!“, rief er.
Bedauerlicherweise war seine Stimme nicht besonders laut, was unter anderem an seinem geschwächten Zwerchfell lag. „Warten Sie!“, rief Theo, während er über das Kopfsteinpflaster einer Hofeinfahrt holperte. Er brauste weiter.
Plötzlich schoss ein Lieferwagen aus einer Einfahrt und bildete vor ihm eine schmutzig-weiße Wand aus Blech. Theo bremste abrupt ab, sein Kopf knallte gegen die Handyhalterung seines Rollstuhls. Das Handy polterte zu Boden und Theos Oberkörper touchierte den Joystick. Der Rollstuhl machte einen Satz nach vorn und kam nur wenige Zentimeter vom Lieferwagen entfernt zum Stehen.
Benommen richtete Theo sich auf. Der Lieferwagen gab Gas und fuhr auf die Straße, ohne ihn weiter zu beachten. Vermutlich hatte der Fahrer ihn gar nicht bemerkt.
„Hier!“, meldete sich eine schüchterne Stimme. Eine junge Frau mit Kopftuch stand neben ihm, hatte sein Handy aufgehoben und legte es auf den Rollstuhltisch.
„Danke.“ Theo versuchte zu lächeln.
„Du gut?“, fragte die Frau besorgt und in gebrochenem Deutsch.
„Ja, alles okay. Danke“, erwiderte Theo.
Sie nickte freundlich und ging weiter.
Als Theo den Blick wieder zur Straße wandte, war der schwarze Lieferwagen verschwunden.