Читать книгу Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher - Thomas Franke - Страница 13
Theory of Mind
ОглавлениеTheo starrte auf den Bildschirm. Er hatte das Gefühl, dieselbe Zeile zum zehnten Mal zu lesen, ohne auch nur ansatzweise den Sinn des Ganzen zu begreifen. Es war interessanter, eine Staubfluse auf dem Fensterbrett zu beobachten, als diesen Artikel über verhaltensorientierte Finanzmarkttheorie zu lesen. Er hätte sich in den Hintern beißen können, dass er sich für dieses Seminar angemeldet hatte, um einen Schein nachzuholen.
Theo stützte mit der linken Hand den rechten Ellenbogen, damit er die rechte Hand weit genug anheben konnte, um sich die müden Augen zu reiben. Er seufzte. In den Hintern beißen war illusorisch. Er konnte sich ja noch nicht mal richtig am Kopf kratzen.
Es klopfte. Nur allzu gern ließ Theo sich von seiner Arbeit ablenken.
„Ja?“
Es war Lina. Sie trat ein, zog die schwere Uniformjacke aus, ließ sich aufs Bett plumpsen und versank ächzend in den Lagerungskissen.
„Du siehst ungefähr so fertig aus, wie ich mich fühle“, bemerkte Theo.
„Noch so’n Kompliment und ich zieh mir die Stiefel aus.“
Theo ließ seinen Blick zu ihren klobigen Polizeistiefeln wandern. „Ich kann mir vorstellen, dass im Inneren dieser Moonboots ein olfaktorisch beeindruckendes Mikroklima herrscht … Aber ich würde auf ein persönliches Kennenlernen lieber verzichten.“
Lina hob die Brauen.
„Hast du etwas herausfinden können?“, wechselte Theo rasch das Thema.
„Du hast … wirklich originelle Mitbewohner.“
„Das wusste ich vorher schon.“
Lina richtete sich auf. „Ich bin keine Expertin, aber so habe ich Keno noch nie erlebt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er ist völlig von der Rolle.“
„Irgendetwas jagt ihm eine schreckliche Angst ein“, bestätigte Theo.
„Könnte nicht einfach der Tod von Mike die Ursache sein? Vielleicht war Keno bei ihm, als er starb?“
„Vielleicht … Aber warum spricht er dann ständig von diesem Taucher?“
„Was weiß ich? Vielleicht bedeutet es einfach gar nichts?“ Theos Schwester zuckte mit den Achseln. „Als ich mit ihm gesprochen habe, erzählte er mir wieder etwas von Tims rotem Auto. Und zum Schluss brüllte er Wo ist es? und Der Taucher! Das ist doch völlig sinnlos.“
„Das sehe ich anders.“ Theo nagte nachdenklich an der Unterlippe. „Wie genau lief das Gespräch ab?“
Lina erzählte es ihm.
„Ich weiß natürlich nicht, ob ich richtig liege, aber ich gehe davon aus, dass Keno genauso reagiert wie jeder andere Mensch auch, wenn dieser andere Mensch die Welt genauso erleben würde wie Keno.“
„Und was genau willst du damit sagen?“, fragte Lina.
Theo schürzte für einen Moment nachdenklich die Lippen. Er hatte sich intensiv mit den unterschiedlichen Diagnosen seiner Mitbewohner beschäftigt, und das nicht nur im Rahmen seines Studiums. Er wollte seine Freunde verstehen, so wie auch er selbst verstanden werden wollte. Aber er wusste auch, dass Lina ungeduldig werden konnte, wenn sie das Gefühl hatte, er wolle sie belehren. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie als ältere Schwester immer noch der Ansicht war, sie müsse ihm die Welt erklären und nicht umgekehrt.
„Ich will damit sagen“, fuhr er fort, „dass das, was von außen betrachtet sinnlos erscheint, aus der Perspektive der Innenwahrnehmung ein völlig normales menschliches Verhalten ist. Wir wissen, dass Autisten die Welt häufig viel intensiver und chaotischer wahrnehmen als wir neurotypischen Menschen.“
Lina hörte mit unbewegter Miene zu, was ein gutes Zeichen war.
„Außerdem wissen wir, dass es ihnen sehr schwerfällt, Zusammenhänge zu erkennen. Dafür haben sie aber einen erstaunlichen Blick fürs Detail.“
„So weit, so klar“, unterbrach Lina. „Was hat das mit Tims rotem Auto und dem Taucher zu tun?“
„Gib mir ein bisschen Zeit“, bat Theo. „Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den Denkprozessen von autistischen und neurotypischen Menschen ist die Theory of Mind.“
Lina verkniff sich den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, und sah ihn auffordernd an.
„Theory of Mind ist die Fähigkeit, eine Annahme darüber zu treffen, welche Bewusstseinsvorgänge in einem anderen Menschen vorgehen. Sie ist unabhängig von der Intelligenz und entwickelt sich bei neurotypischen Menschen im Alter von drei bis fünf Jahren. Autisten hingegen befinden sich diesbezüglich meist auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe.“
„Das bedeutet, es fällt Autisten schwer, sich in andere hineinzuversetzen. Das wusste selbst ich vorher schon.“
„Es ist viel komplexer, als es den Anschein hat. Lass mich das bitte an einem Beispiel verdeutlichen.“ Er nickte in Richtung Regal. „Was befindet sich deiner Ansicht nach in dieser Kaffeedose?“
Lina verdrehte die Augen. „Kaffee?“
„Wirf bitte einen Blick hinein.“
Seufzend erhob sich seine Schwester, nahm die Dose vom Regal und öffnete sie. „Legosteine? Wieso bewahrst du Legosteine in einer Kaffeedose auf?“
„Das spielt doch jetzt keine Rolle …“
Lina schüttete ein paar der bunten Bausteinchen in ihre Hand. „Sag mal, sind das etwa unsere alten Star-Wars-Figuren?“ Sie verzog missbilligend die Lippen. „Du weißt schon, dass Luke Skywalker mir gehört, oder?“
„Lina, bitte, es geht nicht um die Legosteine. Entscheidend ist, dass sich etwas anderes in der Dose befindet, als man erwarten würde. Können wir jetzt bitte weitermachen?“
Sie nickte.
„Gut, dann stell dir jetzt vor, Lene käme herein. Was würde sie wohl in der Dose vermuten?“
„Kaffee, genau wie ich.“
„Aber du weißt doch jetzt, dass Legosteine darin sind.“
„Ich schon, aber Lene nicht.“
„Ha!“, stieß Theo aus.
„Was ist?“, fragte Lina.
„Diese Unterscheidung kannst du nur treffen, weil du eine ausgeprägte Theory of Mind hast. Stell dir vor, du wärst zweieinhalb Jahre alt und ich hätte dir den Inhalt der Büchse gezeigt, sie dann wieder zugemacht und dich gefragt, was Lene wohl darin vermuten würde. Was hättest du geantwortet?“
„Luke Skywalker“, erwiderte Lina.
Theo schmunzelte.
Seine Schwester nickte langsam. „Ich glaube, ich verstehe. Ohne die Theory of Mind können wir nicht zwischen unserem eigenen Wissen und dem anderer Menschen unterscheiden.“
„Was jede Menge Missverständnisse und Frustration hervorrufen kann“, ergänzte Theo.
„Okay, Autisten haben’s wirklich nicht leicht“, resümierte Lina. „Aber das hilft mir leider immer noch nicht, Kenos seltsame Sätze zu verstehen.“
„Kannst du dich noch an deinen ersten Silvester-Einsatz kurz nach dem Ende deiner Ausbildung erinnern?“, fragte Theo.
„Natürlich.“ Ein Schatten huschte über Linas Gesicht. Ihr Einsatzwagen war zu einem angeblichen Notfall gerufen und in eine Sackgasse gelockt worden. Dort hatte sie eine Horde Betrunkener mit Raketen und illegalen Böllern attackiert. Ihr Kollege war im Gesicht getroffen worden. Seine Schreie hatten sie monatelang in ihren Träumen verfolgt.
„Und weißt du noch, dass Tante Claudia dich auf Mamas Geburtstagsfeier ständig darauf angesprochen hat und dich ausfragen wollte?“
„Oh ja.“ Lina nickte ernst. Die Erinnerungen waren augenblicklich wieder da. Ihre Tante hatte sich an diesem Abend von ihrer unangenehmsten Seite gezeigt. Zuerst hatte Lina die penetranten Fragen ihrer neugierigen Verwandten ignoriert. Als das nicht fruchtete, hatte sie versucht, vom Thema abzulenken, und als Tante Claudia nicht aufhörte, nachzubohren, war sie ausgerastet. Es hatte einen kleinen Eklat gegeben, und Theos Schwester hatte mit Tränen der Wut in den Augen die Party verlassen.
Lina runzelte nachdenklich die Stirn. „Willst du damit sagen, ich hätte mich genauso danebenbenommen wie Tante Claudia?“
„Nein.“ Theo schüttelte den Kopf. „Aber ich glaube, Keno muss sich ganz ähnlich gefühlt haben wie du damals. Aus seiner Sicht muss dir klar gewesen sein, wie er sich fühlte. Er wollte nicht über das Schlimme reden. Im Gegenteil, um keinen Preis wollte er an diese traumatische Erfahrung, wie auch immer sie ausgesehen haben mag, erinnert werden. Also hat er versucht, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Aber das hat nicht funktioniert, du warst zu hartnäckig, und irgendwann hat er es nicht mehr ausgehalten.“
Lina betrachtete ihn mit einem seltsamen Blick, den er nicht deuten konnte.
„Was?“ Theo hob die Brauen.
Sie nickte langsam.
„Was ist?“, fragte er verunsichert. „Sag mir einfach, wenn du das für Blödsinn hältst.“
„Manchmal“, sagte sie schließlich, „überraschst du mich wirklich, kleiner Bruder. Vielleicht hättest lieber du das Gespräch führen sollen.“
„Auf keinen Fall“, erwiderte er. „Ich bin nur ein Klugscheißer. Wenn es darauf ankommt, weiß ich nie, was ich sagen soll.“
Lina grinste und wuschelte in seinem Haar.
Theo konnte es nicht leiden, wenn sie seine Frisur verwuschelte, wusste aber, dass es eine Geste der Zuneigung war, also ließ er es über sich ergehen. Bei dem Stichwort „verwuschelte Frisur“ kam ihm plötzlich eine Idee. „Vielleicht solltest du mal mit Bastian sprechen.“
„Klar, warum nicht?“, erwiderte Lina. „Und wer zum Henker ist das?“
„Der Einzelfallhelfer von Keno.“
„Er hat einen Einzelfallhelfer?“
„Ja.“
„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
„Ist mir gerade erst eingefallen.“
„Okay, hast du seine Nummer?“
„Nein, aber die kriegen wir raus.“ Theo bediente den Joystick seines E-Rollstuhls. „Folge mir unauffällig.“