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Nacht

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Theo schlug die Augen auf. Unwillkürlich lauschte er. Etwas hatte ihn geweckt – etwas Beunruhigendes. Ein leises Brummen lag in der Luft, doch sonst war alles still. Mit der Benommenheit des gerade Erwachten versuchte er zu begreifen, was ihn aufgeschreckt hatte. Doch die Erinnerung verblasste so rasch wie ein Traumbild in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.

Wo bin ich hier überhaupt? Theo blinzelte ein paarmal und starrte in das verschwommene Zwielicht des Raums. Ohne Brille war er aufgeschmissen. Gedämpftes orangerotes Licht zeichnete bizarre Muster an die weiße Decke. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Stirn. Es war warm, und er hatte seine Atemmaske nicht auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Theo tastete nach seiner Brille. Zu dumm, dass sein Bewegungsradius mittlerweile auf einen knappen halben Meter eingeschränkt war. Anstelle seines Nachttisches ertastete er nur weiche Kissen. Mühsam drehte er den Kopf. Die Matratze unter ihm bewegte sich und blubberte leise. Neben ihm lag etwas, das verdächtig nach einem Plüschherz aussah.

Das ist nicht mein Bett, ging es ihm durch den Kopf. Ich muss auf dem Wasserbett im Snoezelenraum eingeschlafen sein.

Er versuchte, seine trägen Synapsen in Bewegung zu bringen. Gestern Abend hatten die Mitglieder seiner WG ihren monatlichen Karaoke-Abend zelebriert. Theo mochte seine Mitbewohner, er mochte sie sogar sehr. Aber Singen, im Sinne der korrekten Wiedergabe einer vorgegebenen Melodie, zählte nicht zu ihren Begabungen. Im Snoezelenraum war man vor den akustischen Konsequenzen dieses Events einigermaßen sicher. Deshalb hatte er sich aufs Wasserbett legen lassen. Wie spät es wohl war? Er linste in Richtung Uhr. Es war drei Uhr – mitten in der Nacht. Die haben mich hier vergessen.

Ungünstigerweise hatte das Blubbern des Wasserbetts eine inspirierende Wirkung. Er spürte seine volle Blase.

„Hallo?“, rief er. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Wahrscheinlich hatte er geschnarcht wie ein komatöser Seeelefant. „Hallo!“

Waren da Schritte im Flur zu hören? Er war sich nicht sicher.

Angestrengt lauschte er – nichts. Er musste sich getäuscht haben.

Auch auf die Gefahr hin, seine Mitbewohner zu wecken, holte er tief Luft und rief: „Ich bin hier im Snoezelenraum!“

Er hörte eine Tür knarren.

Na endlich, fuhr es ihm durch den Sinn. Dann geschah zwei Minuten lang nichts.

Theo seufzte. Dann brüllte er: „Sorry, aber meine Blase platzt gleich!“

Stille. Theo tastete nach dem Notruf und fand ihn schließlich unter dem Plüschkissen. Im Grunde war es kein richtiger Notruf, eher ein Funkgong, wie er in einer Gartenlaube Verwendung findet. Aber er erfüllte seinen Zweck genauso gut und war erheblich preiswerter. Theo drückte den Knopf.

Stille.

Mist! Vielleicht war die Batterie leer? Er drückte noch mal.

Eine gefühlte Ewigkeit später hörte er erneut eine Tür knarren. Diesmal waren die Schritte im Flur deutlich zu vernehmen. „Was ist los?“, fragte eine Stimme mit osteuropäischem Akzent, sie wirkte nervös.

„Ich bin hier im Snoezelenraum!“

„Wo?“

„Gleich neben dem Büro!“

Das Licht wurde eingeschaltet. Theo kniff die Augen zusammen. In der Tür stand ein junger Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Doch das war nicht das Merkwürdigste. Der Unbekannte schien einen Schatten zu haben, der sich bewegte, obwohl der Mann selbst still dastand. Theo kniff die Augen zusammen. Als er sie erneut öffnete, blieb der Typ ein Fremder, aber zumindest war sein Schatten verschwunden.

„Wer … bist du?“, fragte ihn der Mann und kam näher. Theo konnte sein junges, blasses Gesicht erkennen, aus dem ihn große Augen anstarrten. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und ein Headset lag um seinen Hals wie ein spätmittelalterlicher Sklavenring.

„Ich bin Theo.“

Der junge Mann schien noch blasser zu werden. „Du … bist Theo?“ Er blickte sich nervös um, als erwarte er, jeden Moment mächtig Ärger zu bekommen.

„Ja.“ Theo lächelte nachsichtig. Der Mann war nicht ohne Grund besorgt. Wenn herauskam, dass er einen seiner Schützlinge schlicht vergessen hatte, würde ihm das eine Abmahnung einbringen. Zumal dieses Vergessen in Theos Fall nicht ganz ungefährlich war. „Ich nehme an, du bist die Nachtwache?“, fragte Theo freundlich.

Der junge Mann starrte ihn an. Irgendwo klapperte eine Tür. Er zuckte zusammen und stammelte: „Mein … mein Name ist Marek. Ich komme von der Leasingfirma. Meine Kollegin ist krank, und ich bin spontan eingesprungen.“

„Herzlich willkommen, Marek. Es tut mir leid, aber ich muss mal pinkeln. Dringend!“

„Okay …“ Der Mann schien durch Theo hindurchzublicken.

„Wäre schön, wenn du mir die Ente reichen könntest. Die ist im Pflegebad, zwei Türen weiter.“

„Ach so. Warte hier.“

Theo nickte und lächelte müde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als hier zu warten. Der Grund dafür nannte sich kongenitale Muskeldystrophie. Eine Mutation in Theos Genen verursachte eine mangelhafte Produktion von Proteinen, was eine gravierende und stetig zunehmende Muskelschwäche zur Folge hatte. Erst mit dreieinhalb Jahren hatte Theo mühsam das Laufen erlernt. Ab dem fünften Lebensjahr benötigte er Krücken, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Zwei Jahre später konnte er sich nur noch mithilfe eines Rollators fortbewegen. Seit dem achten Lebensjahr saß er im Rollstuhl. Und seit seinem zwanzigsten Geburtstag vor drei Monaten benötigte er einen Elektrorollstuhl, weil das Antreiben der Räder für ihn zu schwer geworden war.

Theo war bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen. Nachts litt er unter Schlafapnoe. Bedingt durch seine Erkrankung erschlaffte die obere Ringmuskulatur seiner Atemwege so stark, dass sie die Luftröhre verschloss. Es kam kein Sauerstoff mehr in seine Lunge, und der CO2-Partialdruck im Blut stieg deutlich an. Theo drohte in Ohnmacht zu fallen, was dazu führte, dass sein Körper unbewusst eine Weckreaktion auslöste. Er schreckte auf, schnappte nach Luft, schlief wieder ein und der ganze Spaß begann von vorn. Am nächsten Morgen wachte er dann völlig erschöpft auf und fühlte sich müder als am Abend zuvor. Nacht für Nacht bestand die Gefahr, dass sein eigener Körper ihn erstickte. Deshalb musste er eine Atemmaske tragen. Sie erhöhte den Luftdruck und verhinderte, dass sich seine Atemwege schlossen. Das war nur bedingt bequem und sah auch nicht besonders elegant aus. Aber es rettete ihm das Leben.

Marek kam wieder herein. Er hatte ungewöhnlich lange gebraucht, war nun aber etwas weniger blass. Theo erleichterte sich in die Urinflasche, die wegen ihrer Form umgangssprachlich Ente genannt wird. Er war es gewohnt, dass weitgehend fremde Personen ihn bei seinen intimsten Verrichtungen unterstützen mussten.

„Ich will auf keinen Fall vorwurfsvoll rüberkommen, aber ist dir nicht aufgefallen, dass mein Zimmer leer ist?“, erkundigte sich Theo.

Marek zuckte mit den Achseln und murmelte: „Ich –“ Er verstummte.

„Ja?“

„Ich … wollte dich nicht stören.“

Theo riss die Augen auf. War das sein Ernst? Schließlich räusperte er sich und erwiderte: „Das ist im Grunde genommen sehr nett von dir. Allerdings brauche ich nachts eine Atemmaske. Ich leide unter Schlafapnoe.“

„Ich dachte, der andere …“, Marek wedelte mit der Hand Richtung Flur, „… braucht so’n Ding.“

„Ja, Mike auch, allerdings erst seit Kurzem. Wir haben beide eine ähnliche Erkrankung.“

Der Mann nickte geistesabwesend und wollte sich abwenden.

„Warte.“ Theo hasste es, anderen zur Last zu fallen. Aber er hatte keine andere Wahl. „Es wäre nett, wenn du mich noch in mein Zimmer bringen könntest. Vielleicht kann ich dann noch ein bisschen schlafen.“ Er verkniff es sich zu ergänzen: Außerdem beruhigt es mich irgendwie, wenn ich weiß, dass ich nicht im Schlaf ersticken werde. Stattdessen fügte er hinzu: „Wir haben einen mobilen Lifter im Pflegebad, damit geht das ganz gut.“

„Okay.“ Marek nickte und schien schon wieder mit den Gedanken woanders zu sein. „Warte hier.“

„Ich verspreche, dass ich nicht weglaufen werde.“

Marek schien nicht allzu viel Erfahrung mit dieser Art von Liftersystem zu haben. Theo erklärte ihm geduldig jeden einzelnen Handgriff. Er hatte sich daran gewöhnt, seine Helfer einweisen zu müssen. In letzter Zeit wurden immer mehr Leasingkräfte eingesetzt, die nur für ein paar Wochen, manchmal sogar nur tageweise im Einsatz waren und dann wieder verschwanden.

Es dauerte weit über eine halbe Stunde, bis Theo endlich in seinem eigenen Bett lag und seine Atemmaske trug. Nicht ganz unschuldig daran war der Umstand, dass Marek wirkte, als wäre er nur mit halbem Gehirn bei der Sache.

Mit einem gemurmelten „Nacht“ verließ der junge Mann schließlich das Zimmer, und Theo blieb allein zurück.

Das vertraute Schnaufen des Atemgeräts hatte etwas Beruhigendes an sich.

Theo schloss die Augen. Alles wieder im Lot, dachte er zufrieden.

Er musste schließlich eingeschlafen sein. Denn als die Tür gegen die Wand knallte und eine Hand ihn grob an der Schulter rüttelte, drang bereits die Morgensonne durch die dünnen Vorhänge.

„Theo! Theo, wach auf!“ Ein verschwommenes rundliches Gesicht schob sich in sein Blickfeld. „Theo! Es is wat janz Schlimmet passiert. Der Miky is tot.“

Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher

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