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Bei der Besprechung am nächsten Morgen im Konferenzraum des Bernhard-Nocht-Instituts informierte Lindberg die Kommission über seine Funde im Wedeler Stadtarchiv.
„Die Frage ist doch“, nahm Shahin den Faden auf, „wie dieses ebolaartige Virus zu dieser Chimäre werden konnte. Ich meine, wenn diese Chimäre aus der Gegenwart stammen würde, könnten wir doch wohl davon ausgehen, dass sie in einem hochleistungsfähigen Biolabor einer Großmacht zusammengebaut wurde, oder?“
Thomsen nickte zustimmend. „So ist es. Eine Chimäre bedeutet ja, dass Gene unterschiedlicher Erreger kombiniert wurden. Man könnte zum Beispiel in ein Orthopoxvirus – es verursacht die Pockeninfektion – Proteine eines Filovirus – also zum Beispiel Ebola – einsetzen. Damit erhielten Sie womöglich einen Erreger, dessen Kontagiosität, Pathogenität und Letalität weit höher sind als die von Pocken und Ebola allein.“
„Wenn ich Ihre Fachbegriffe richtig verstehe, kann das Virus also viel schneller viel mehr Leute umbringen?“, fragte Shahin dazwischen.
„Ja, so kann man das durchaus formulieren. Aber es wäre sehr schwierig, technisch sehr aufwendig und natürlich auch sehr riskant, eine derartige Chimäre im Labor erzeugen zu wollen.“
Lindberg räusperte sich. „Die Frage von Hauptkommissarin Shahin war aber ja nun, wie diese Chimäre entstanden sein könnte. Ein modernes Biolabor dürften wir um 1650 ja wohl ausschließen können.“
Winter nickte. „Ja, natürlich. Aber wir wissen nun, dass das Filovirus direkt aus Afrika hierher gebracht wurde – von diesem … diesem Wedeler Seefahrer.“
„Johannes Heinsohn“, half Lindberg.
„Johannes Heinsohn, ja. Er infizierte sich also mit dem Virus, überlebte aber und war danach zwar gesundheitlich stark angegriffen, aber immun. Sie berichteten weiter, er sei auch nach seiner Heimkehr noch einmal sehr krank gewesen …“
Lindberg nickte. „Ja, aber auch diesmal überlebte er.“
„Es ist nur eine vage Theorie“, begann Winter und sah zu Thomsen hinüber. „Aber etwas Besseres haben wir noch nicht anzubieten.“
„Na, dann lassen Sie mal hören“, sagte Shahin.
„Heinsohn war also mit dem hämorrhagischen Virus infiziert, als er nach Hause kam. Er überlebte, aber das Virus blieb in seinem Körper. Dann war er noch einmal todkrank. Wir vermuten, dass dies kein Rückfall war – Heinsohn hatte sich vielmehr mit der Pest infiziert, die damals überall in Norddeutschland grassierte. Beide Erreger waren nun in seinem Körper – einer als Virus, der andere als Bakterium. Wie daraus eine Chimäre entstehen konnte, können wir nur ahnen. Das aggressive Filovirus hat den Körper Heinsohns überflutet und dabei auch die Pestbakterien mit seinem Erbgut infiziert. Für dieses Virus war es eine Wirtszelle wie Milliarden andere im Körper auch. Wir vermuten, dass im Laufe von zahllosen Mutationen innerhalb dieser befallenen Zellen ein neuartiges Virus entstand, das nun Genabschnitte des Pesterregers enthielt. Und er hielt sich weiterhin im Körper Heinsohns. Er gab bei zwischenmenschlichen Kontakten den Tod weiter, blieb selbst aber verschont.“
„Dann wäre es ja kein Wunder, dass dieser arme Kerl von der Gesellschaft verstoßen wurde“, sagte Hartdegen.
Shahin wandte sich ihm zu. „Professor Dr. Hartdegen, könnten Sie mir ein wenig über biologische Waffen erzählen? Auf dem Gebiet bin ich nicht gerade versiert.“
Hartdegen setzte sich gerade hin. „Gern. Wenn man den Begriff biologische Kriegsführung hört, dann denkt man meistens an den Kalten Krieg und die Laborversuche der Amerikaner und Sowjets mit tödlichen Erregern, die sich als Massenvernichtungswaffen eignen sollten.“
Die Polizistin nickte zustimmend.
„Aber das Prinzip der biologischen Kriegsführung ist sehr viel älter“, fuhr Hartdegen fort. „Das konnte in der Antike und im Mittelalter bisweilen bizarre Formen annehmen. Der Name Hannibal wird Ihnen etwas sagen, nehme ich an. Dieser berühmte karthagische Feldherr zum Beispiel ließ während einer Seeschlacht Tonkrüge auf die feindlichen Schiffe schleudern, die randvoll mit giftigen Schlangen waren. Sie können sich vorstellen, dass viele Ruderer ziemlich hastig über Bord sprangen. Damit war das Kriegsschiff manövrierunfähig. Der legendäre englische König Richard Löwenherz erzwang die Kapitulation einer belagerten Stadt, indem er massenhaft Bienenkörbe über die Mauern schleudern ließ.“
„Naja, das ist ja alles sehr einfallsreich, aber unter biologischer Kriegsführung verstehe ich doch noch etwas anderes als Bienen“, warf Shahin ein.
„Was Sie vermutlich meinen, fand erstmals im Jahr 1346 auf der Krim statt. Dieses Ereignis hatte sogar weltgeschichtliche Dimensionen und darf getrost als ‚Mutter der biologischen Kriegsführung‘ gelten.“
„Und was geschah damals so Gravierendes?“, fragte Shahin neugierig.
„Die Mongolen der Goldenen Horde belagerten die von den Genuesern gehaltene Hafenstadt Kaffa.“
„Die heißt heute Feodossija und liegt im Osten der Krim“, warf Lindberg ein.
Hartdegen bedachte ihn mit einen irritierten Blick und fuhr dann fort. „Drei Jahre lang wurde die Stadt vergeblich belagert. Dann schleuderten die Mongolen eine große Zahl an Pesttoten aus den eigenen Reihen mit Katapulten über die Mauern in die Stadt hinein. In den engen Gassen und durch die katastrophalen hygienischen Verhältnisse explodierte die Seuche geradezu. Ein paar Infizierten gelang die Flucht; sie steckten nun alle Menschen an, denen sie begegneten. Bis zum Verlöschen der Pandemie 1353 starben mindesten fünfundzwanzig Millionen Menschen in Europa – ein Drittel der Bevölkerung des Kontinents.“ Hartdegen hob eine Hand. „Sehen Sie, was damals in Kaffa geschah, wurde zum Auslöser des berüchtigten ‚Schwarzen Todes‘. Übrigens hat eine Forschergruppe vor ein paar Jahren herausgefunden, dass der Erreger Yersinia Pestis gleich in einer ganzen Reihe von Genvarianten den Tod brachte. Dieser Erreger neigt nämlich sehr stark zum Mutieren. So etwas in der Art meinten Sie vermutlich?“
Shahin nickte nachdenklich.
Hartdegen nahm seinen Vortrag wieder auf. „Es sind rund zweihundert potenziell waffenfähige Erreger und Toxine bekannt. Die wirkungsvollsten davon bilden das ‚Dreckige Dutzend‘. Die tödlichsten sind Pocken, Pest, Milzbrand, Rizin, Rotz, Botulinum und eben die hämorrhagischen Viren. Die Sterblichkeitsrate liegt bei denen zwischen achtzig und hundert Prozent.“
„Rotz? Was ist das denn? Klingt ja widerlich“, sagte Shahin angeekelt.
„Ist es auch. Es ist eigentlich eine uralte Pferdeseuche. Unbehandelt verläuft Rotz beim Menschen unweigerlich tödlich, aber selbst mit Antibiotika stehen die Chancen nicht gut. Glauben Sie mir: Daran möchten Sie nicht erkranken.“
„Stimmt. Das möchte ich nicht“, versetzte Shahin trocken. „Sind biologische Waffen denn schon einmal in jüngerer Zeit eingesetzt worden?“
„Sie meinen in den letzten Jahrzehnten – in einem modernen Krieg?“, fragte Hartdegen zurück. „In jüngerer Zeit kam es eher zum Einsatz chemischer Kampfstoffe. Zuletzt in Syrien durch das Assad-Regime. Davor im Irak durch Saddam Hussein. Das Saddam-Regime verfügte außerdem zeitweise über fast zwanzigtausend Liter an tödlichem Botulinumtoxin, achttausendfünfhundert Liter an Milzbrand und mehr als zweitausendfünfhundert Liter an Aflatoxin. Das ist ein Schimmelpilzgift. Den irakischen Biolabors gelang es jedoch nicht, die Gifte insofern waffenfähig zu machen, als dass sie über die Luft übertragbar gewesen wären.“
Hartdegen wandte sich seinem Kollegen zu. „Eine kleine Anmerkung zu Ihrem Vortrag von vorhin, Professor Dr. Thomsen: Die Sowjetunion hat vor ihrem Untergang noch intensiv an einer Ebola-Pocken-Chimäre gearbeitet. Wir wissen nicht, wie weit sie damit gekommen sind. Es gab ja häufig Unfälle mit Biowaffen. Anfang April 1979 zum Beispiel wurde das ganze Gebiet von Swerdlowsk unter Quarantäne gestellt – eine defekte Abluftanlage eines militärischen Biolabors hatte Milzbrandsporen in die Umwelt geblasen. Unter dem Deckmantel der Erforschung von Infektionskrankheiten arbeiten Russland, die USA und andere Staaten trotz der Biowaffenkonvention von 1972 weiter mit tödlichen Erregern.“
„Gab es nicht auch im Zweiten Weltkrieg Einsätze von biologischen Waffen?“, fragte Lindberg. „Durch die Japaner zum Beispiel? Ich habe davon gelesen.“
„Ich nehme an, Sie spielen auf die Einheit 731 an“, entgegnete Hartdegen. „Alle kriegsführenden Nationen beschäftigten sich damals auch mit biologischen Waffen. Aber nach den entsetzlichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verzichteten die meisten auf den Einsatz. Selbst die Deutschen. Die Japaner waren die einzigen, die sie großflächig einsetzten.“
„Sie erwähnten eine Einheit 731. Was hatte es denn damit auf sich?“, fragte Shahin.
Hartdegen nestelte umständlich an seiner Brille, bevor er antwortete. „Das ist eines der düstersten Kapitel dieses an Gräueltaten ohnehin reichen Krieges. Die Einheit 731 war eine militärische Organisation in der von Japan besetzten Mandschurei in China, die sich zunächst mit der Erforschung und Herstellung von biologischen Waffen befasste – und später auch mit ihrem Einsatz gegen Zivilisten. Rund dreitausend Menschen waren daran beteiligt, die meisten davon waren Biologen. Die Forschungsanlagen in der Stadt Harbin umfassten hundertfünfzig Gebäude auf sechs Quadratkilometern Fläche. Chef der Einheit 731 war der Arzt und Generalleutnant Ishii Shirō. Die gezüchteten Erreger wurden auch an Gefangenen erprobt. Man schätzte, dass mindestens dreitausendfünfhundert koreanische, chinesische, britische und amerikanische Kriegsgefangene dabei auf grausame Weise ums Leben kamen, möglicherweise sogar bis zu zehntausend.“
Am Tisch herrschte einen Moment Schweigen.
„Die ersten Einsätze gegen Städte erfolgten ab 1940“, fuhr der Experte fort. „Dabei wurden Keramikbomben abgeworfen, die mit pestinfizierten Flöhen gefüllt waren. 1942 wurden unter anderem Cholera-, Pest- und Typhuserreger über chinesischen Städten, speziell über Wohngebieten, versprüht. Dabei kamen wohl zweihundertfünfzigtausend Menschen ums Leben. Insgesamt hat Ishii Shirō wohl mehr als dreihunderttausend Menschen auf dem Gewissen.“
„Unfassbar …“, murmelte Shahin. „Was geschah mit der Einheit 731 bei Kriegsende?“
Hartdegen lächelte frostig. „Die japanische Armee ermordete alle Häftlinge, die bis dahin überlebt hatten, um Augenzeugen zu vermeiden; die Anlagen wurden zerstört. Dann setzte die Politik ein: Im Austausch gegen die Unterlagen und Daten der Forschung von der Einheit 731 ließen die USA die Beteiligten straffrei ausgehen. Man argumentierte, da man im Westen keine Menschenversuche anstelle, seien die auf diese Weise gewonnenen Daten sehr selten und damit besonders wertvoll.“