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Wedel in Holstein

„Dr. Lindberg, verstehe ich Sie richtig: Sie rufen mich zu Hause im wohlverdienten Feierabend an, weil Sie auf irgendeinem verwitterten Sarg in Wedel die Zahl Vier gesehen haben? Fühlen Sie sich ansonsten wohl? Ich wäre Ihnen wirklich für eine zügige Erklärung äußerst dankbar – ich habe nämlich das Haus voller Gäste.“

Dr. Rüdiger Stettner war Leiter des Archäologischen Landesamtes Schleswig-Holstein und damit Lindbergs Vorgesetzter. Gemessen an seinem ätzenden Tonfall schien er ziemlich verärgert zu sein und Lindberg erinnerte sich jetzt, dass Stettner etwas von dem fünfzigsten Geburtstag seiner Frau und einer lange vorbereiteten Familienfeier erwähnt hatte.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Dr. Stettner“, sagte Lindberg mühsam freundlich, „aber es könnte sehr wichtig sein. Ich habe den Verdacht, dass in diesem Bleisarg in Wedel ein Pesttoter liegt. Und zwar ein ziemlich intakter. Was uns vor Probleme stellen könnte. Die spiegelverkehrte Zahl Vier ist kein gutes Zeichen. Zudem wurden ein Dämonenzeichen und ein alchimistisches Symbol in das Metall eingeschnitten. Das verheißt nichts Gutes. Und es muss einen Grund dafür geben, dass man diesen Sarg damals sehr aufwendig zugelötet hat. Mir gefällt das nicht.“

„Was meinen Sie damit?“, unterbrach Stettner ihn.

„Wie Sie zweifellos wissen, grassierte in dieser Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg die Pest in Norddeutschland, und Pesttote gab es überall.“

„Jaja“, knurrte Stettner ungehalten. „Das weiß ich doch alles. Und?“ „Diese Toten wurden meist einfach verscharrt wie später auf dem ‚Pesthügel‘ zwischen Dammtor und Sternschanze in Hamburg. Warum also diese Mühe mit dem Bleisarg? Damit stimmt irgendetwas nicht – und ich hätte gern Ihre Erlaubnis, zunächst die zuständigen Behörden zu alarmieren.“

Stettner schwieg einen Moment und schien die Situation abzuwägen. Lindberg wusste, dass Rüdiger Stettner ein bestens vernetzter Mann war, der es sorgfältig vermied, höheren Ortes unangenehm aufzufallen. Er würde sich ungern mit einem harmlosen alten Sarg lächerlich machen. Andererseits konnte er sich beruflich noch erheblich mehr schaden, falls von diesem Sarg tatsächlich irgendeine Gefahr ausging und er es zu verantworten hatte, dass womöglich eine Pandemie ausbrach.

„Okay, machen Sie das, Lindberg“, sagte Stettner schließlich. „Rufen Sie meinetwegen das Amt für Gesundheit in Kiel an. Die sollen alles Weitere veranlassen. Ich glaube zwar, dass Sie Gespenster sehen, aber schaden kann es nicht, wenn wir uns als wachsam und besorgt um die Gesundheit der Öffentlichkeit zeigen. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und Lindberg – halten Sie die Presse raus! Das ist ganz allein meine Sache, falls es denn überhaupt nötig werden sollte.“

Lindberg schluckte eine spöttische Bemerkung herunter und beendete das Gespräch. Dann rief er das Gesundheitsamt in der Landeshauptstadt an und berichtete von seinem Fund. Der zuständige Beamte reagierte erwartungsgemäß wenig enthusiastisch, versprach aber, sich um die Sache zu kümmern. Lindberg war überzeugt, nie wieder in dieser Sache etwas zu hören. Umso überraschter war er, als er kaum eine halbe Stunde später einen Anruf vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin erhielt. Der Archäologe wusste, dieses Institut war zuständig für alle hochinfektiösen Krankheiten. Wie zum Beispiel die Pest.

„Dr. Lindberg?“, fragte eine dunkle Frauenstimme. „Mein Name ist Dr. Sarah Winter. Ich bin Virologin und Bakteriologin hier am Institut. Sie haben heute in Wedel einen möglichen Pesttoten gefunden?“

„Das stimmt, ja“, sagte Lindberg überrascht. „Möglicherweise stammt die Leiche aus der Pestzeit. Wissen Sie das vom Gesundheitsamt? Ich habe nämlich gerade eben erst dort angerufen.“

„Dr. Lindberg, es ist sehr wichtig, dass Sie mir Ihren Verdacht jetzt detailliert erzählen und begründen.“ Die Stimme der Frau klang angespannt.

Lindberg berichtete der Wissenschaftlerin genau, was sich in Wedel an der Kirche ereignet hatte.

„Was hat Sie eigentlich zu dem Verdacht geführt, in dem Bleisarg könnte ein Pesttoter liegen?“, fragte Winter.

„Nun, zum einen war der Sarg sorgfältig verlötet“, sagte Lindberg. „Als wolle jemand sicherstellen, dass nichts hinausgelangen kann. Vor allem aber waren die Seiten des Sarges mit der spiegelverkehrten Zahl Vier, einem Dämonenzeichen und einem alchimistischen Symbol verziert.“

„Aha. Eine Vier also. Das sagt Ihnen was?“ Lindberg fand, die Stimme klang nun etwas herablassend.

„Die Vier in dieser dargestellten Form ist eine Warnung aus alten Zeiten“, erklärte er. „Die spiegelverkehrte Vier symbolisiert vor allem die Pest. Als Virologin dürfte Ihnen doch das Biohazard-Symbol für biologische Gefahren vertraut sein – das mit den drei klauenartigen Kreisen?“

„Ja sicher. Wie schon erwähnt, ist das mein Beruf. Ich kenne dieses Symbol“, sagte Winter ungeduldig.

„Sehen Sie – die spiegelverkehrte Zahl Vier ist eben das Biohazard-Symbol früherer Jahrhunderte.“

„Ich verstehe. Und diese anderen Symbole?“

„Eines davon sieht aus wie ein gebogener Pfeil, der von unten von einer Linie durchstoßen wird. Es ist das alchimistische Symbol für Fäulnis. Nur steht es hier auf dem Kopf. Ich interpretiere dies als die Verneinung von Fäulnis. Das dritte Symbol ist schwierig zu erklären. Stellen Sie sich einen Kreis vor, in dem allerlei Kringel und kreuzförmige Elemente angeordnet sind.“

„Und das bedeutet?“

„Ich habe dieses Symbol erst einmal gesehen. In einem alten Alchimistenkeller, den wir ausgegraben haben. Es steht für den Dämonenfürsten Buer, Herr über fünfzig Legionen von Dämonen. Buer wird in einem Grimoire, also einem Buch über Zauberkunst, aus dem 16. Jahrhundert beschrieben. Dort wird ihm die Fähigkeit zugeschrieben, alle Krankheiten heilen zu können. Auch dieses Symbol steht auf dem Kopf.“

„Das ist allerdings seltsam“, sagte Winter nachdenklich. „Sagen Sie, diese Pastorin in Wedel hat Ihnen erzählt, einer der Handwerker hätte in den Sarg gegriffen?“

„Ja, das sagte sie“, bestätigte Lindberg. „Dieser Trottel muss mit der Leiche in Berührung gekommen sein, und dann wohl auch mit dieser eigenartigen Flüssigkeit, die aus dem Sarg tropfte.“

„Eine Flüssigkeit? Über die möchte ich mehr wissen. Sagen Sie, Dr. Lindberg, fühlen Sie sich eigentlich gesund?“, fragte Winter unvermittelt.

„Das hat man mich heute schon einmal gefragt“, brummte Lindberg, „Aber ja, ich fühle mich bestens.“

„Kein Fieber, kein Schwindelgefühl, keine Schmerzen?“

„Nein, aber ich fürchte, das alles werde ich gleich bekommen, wenn Sie mir nicht endlich sagen, um was es hier geht.“

„Sie haben nicht in den Sarg gegriffen?“

„Nein, zum Teufel, das habe ich nicht! Außerdem hatte ich Gummihandschuhe an. Ich sah das Pestsymbol auf dem Sarg und habe sofort die Gruft verlassen.“

„Also gut, Dr. Lindberg. Wo sind Sie jetzt?“

„Ich bin noch in Wedel, werde mich aber gleich auf den Weg zurück nach Schleswig machen.“

„Nein, das werden Sie nicht!“, sagte die Virologin bestimmt. „Ich komme zu Ihnen. Warten Sie, bis ich bei Ihnen bin. Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Haben Sie das verstanden?“

Lindberg platzte der Kragen. „Hören Sie, ich fahre, wohin ich will“, knurrte er. „Und zwar jetzt sofort. Es sei denn, Sie geben mir eine zufriedenstellende Erklärung, warum ich meine Zeit damit vertrödeln soll, auf eine wildfremde Frau zu warten.“

Winter schwieg einen Moment.

„Dr. Lindberg, was ich Ihnen jetzt mitteile, unterliegt der Geheimhaltung“, sagte sie dann. „Wenn Sie damit hausieren gehen, können Sie in Ihrem Beruf in Zukunft höchstens noch Zivilisationsmüll der Inuit auf Grönland untersuchen. Wenn überhaupt. Haben Sie das verstanden?“

„Ja. Sie reden ja laut genug. Und jetzt bin ich ganz Ohr“, versetzte Lindberg wütend.

Die Wissenschaftlerin holte tief Luft. „Also: Der Handwerker, der in den Sarg gefasst hat, ist tot. Seine Frau auch. Beide wiesen Symptome eines äußerst aggressiven hämorrhagischen Fiebers auf. Sie wissen schon – Ebola, Marburg, Lassa …“

„Ich weiß, was ein hämorrhagisches Fieber ist“, unterbrach Lindberg sie gereizt. „Aber da müssen Sie sich irren. Der Tote vom Wedeler Kirchhof liegt da vermutlich seit rund dreihundertfünfzig Jahren. Und damals grassierte hier die Pest, nicht Ebola. Außerdem kann nach so langer Zeit nichts mehr infektiös sein. Aber das brauche ich Ihnen als Virologin ja nun nicht zu sagen. Ihren Infektionsherd müssen Sie sich also woanders suchen.“

„Ich kann Ihnen am Telefon keine Einzelheiten nennen“, entgegnete Winter. „Was Sie sagen, ist richtig. Und dennoch haben wir Anlass zu vermuten, dass der Tote aus Ihrer Gruft die Quelle war. Aber ich gebe zu, dass wir einfach noch nicht wissen, womit wir es hier zu tun haben. Und da wir nichts ausschließen dürfen, müssen wir zunächst einmal sicherstellen, dass Sie sich nicht angesteckt haben. Das ist ja wohl auch in Ihrem Interesse. Nennen Sie mir einen Treffpunkt – möglichst in einer wenig belebten Straße. Halten Sie großen Abstand zu Menschen. Ich werde mit einem speziellen Krankenwagen zu Ihnen kommen, wundern Sie sich also nicht.“

„Allmählich wundere ich mich über gar nichts mehr“, sagte Lindberg. Dann gab er einen Straßennamen durch. Nur eine halbe Stunde später hielt ein Notarztfahrzeug neben ihm. Es hatte Blaulicht eingeschaltet, aber kein Martinshorn. Lindberg stieg ein, als sich die Hecktüren öffneten – und fand sich in einem Szenario wieder, das ihn an Katastrophenfilme erinnerte. Eine Gestalt in einem unförmigen weißen Plastikanzug, die wirkte wie ein Michelin-Männchen auf Droge, forderte ihn auf, sich das Hemd auszuziehen und auf die fahrbare Trage zu legen, die wie ein OP-Tisch mitten im Fahrzeug angebracht war. Lindberg sah zu, wie ihm die unheimliche Gestalt die Armbeuge desinfizierte, einen Stauschlauch festzog und ihm mit einer Hohlnadel Blut entnahm. Eine zweite, ebenso in weißen Kunststoff gewandete Person maß bei ihm Fieber und Blutdruck.

Bei dem absurden Gedanken, er könnte sich in der Gruft ein hämorrhagisches Fieber zugezogen haben, wurde Lindberg fast übel. Er kannte die Bilder von Patienten, deren Organe sich bei diesen grauenhaften Infektionskrankheiten geradezu verflüssigten. Die erste Gestalt beugte sich nun dicht über ihn. Unter der Plastikverkleidung konnte Lindberg nun das Gesicht einer Frau erkennen, die ihn mit ernsthaftem Blick aus smaragdgrünen Augen musterte.

„Hallo, ich bin Dr. Winter“, sagte sie.

Irgendwo in einem gerade nicht sehr aktiven Teil seines Gehirns registrierte Lindberg, dass Augen und Stimme etwas sehr Angenehmes hatten.

„Fühlen Sie sich noch wohl?“

„Nein!“, murrte Lindberg. „Ich fühle mich nicht wohl! Gar nicht!“

„Nicht? Ist Ihnen übel – oder schwindelig? Bekommen Sie Fieber?“

„Nichts davon. Aber ich liege in einem Krankentransporter und Astronauten stechen mich mit Nadeln. Ich bin doch kein Fakir.“

Der Blick aus dem Plastikhelm wurde merklich kühler, Lindberg konnte es deutlich erkennen.

„Dr. Lindberg, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Situation ernster nehmen könnten. Es stehen Menschenleben auf dem Spiel. Millionen Menschenleben womöglich.“

Sie trat von der Trage zurück und Lindberg setzte sich wieder auf. „Sind Sie fertig?“

„Mit den ersten Tests ja. Jetzt fahren wir ins Universitätsklinikum. Sie bleiben noch auf der Isolierstation, bis wir Ihre Blutwerte haben.“

„Braucht jemand noch diesen Tag?“, murrte Lindberg missmutig. „Ich glaube nämlich, der kann weg.“

Der bleierne Sarg

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