Читать книгу Montag Nachmittag ging ich nach Vollersroda - Thomas Freitag - Страница 8
6 Atelierfenster 1919
ОглавлениеUm 1919, zu Feiningers Zeit, war in diesem Schulhaus und unter diesem Dachgeschoß Wach- und Polizeipersonal einquartiert, weil mit der Etablierung der Weimarer Nationalversammlung bewaffnete und militärische Kräfte erforderlich waren. Es hieß, in der Stadt und in umliegenden Dörfern mussten Militärs sich gegen Aufständische, Spartakisten und Freikorps-Fanatiker aufstellen, um für Ruhe in Deutschlands erster Republik zu sorgen.
So war im Weimarer Sperrbezirk ein Freiwilligen-Korps von immerhin 6000 Mann eingesetzt. Unter Matzes Dach haben einige gehaust und in der Zeit der großen Lebensmittelknappheit und Hunger unter der Bevölkerung ihre Sonderrationen verfrühstückt. Feininger wird das alles mitbekommen haben. Als amerikanischer Staatsbürger im Weltkriegsdeutschland ging es ihm und seiner Familie in jenen Jahren gar nicht gut, oft gab es tatsächlich wenig zu essen. Die Eltern Julia und Lyonel taten alles, um ihre Jungs, die zum Kriegsende acht, neun und zwölf Jahre alt waren, die traurige Situation wenig anmerken zu lassen. Die schmucken Matrosenanzüge aber haben die drei Jungen bekommen.
Jetzt war für Feininger eine neue Situation gekommen. Als Bauhaus-Meister konnte er sein altes Atelier in der Kurthstrasse 7 a aufgeben und das neue, von Gropius bereitgestellte Atelier beziehen. Mit einem Mal kam er mit vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Kontakt, es entwickelten sich Freundschaften mit den Museumsdirektoren in Weimar und Erfurt. Orchestermusiker, Sängerinnen und Schriftsteller verkehrten mit Feininger. Sie alle waren nicht wenig neugierig auf das Staatliche Bauhaus und die dort wirkenden Meister mit ihren Schüler-Gesellen.
Die Zeit des Krieges und der Revolution war endlich vorüber, der utopische Sozialist Lyonel Feininger hatte lange und beklemmende Jahre durchgestanden. Er hatte in seiner Abgeschiedenheit viele Grafiken und Holzschnitte gefertigt, auch weil im Krieg die Malfarben knapp waren. Aber jetzt war die Zeit eines neuen Aufbruchs gekommen.
Feiningers Bild Atelierfenster von 1919 kündet von diesem Aufbruch, der auch ein neues Lebensgefühl bedeutete. Es scheint so, dass der Maler alles, was er je über Licht, Hell-Dunkel, Raum, Prismen und Spektralfarben kennengelernt und studiert hatte, was er je in Paris und London von Braque, Picasso, Delaunay oder Turner oder hierzulande von Klee kannte, in dieses Atelierfenster einbrachte. Als Lyonel und Julia nur befreundet und sie noch kein Paar waren, hatte er ihr schon damals begeistert geschrieben, wie anregend er beispielsweise Fensterspiegeleien, das Spiel von Hell und Dunkel, nebst allen Spektralien, fand. Damals hatte er geschrieben: … Fenster spiegeln, unten gähnend und dunkel; oben silbern und ganz oben, in den Höhen, wo sie den blauen Himmel widerstrahlen, sind sie tiefblau...
Julia hatte das verstanden. Fast 15 Jahre sind seitdem vergangen und er teilte jetzt mit … Ein Genie bin ich wirklich nicht, gerade das Malen war vielleicht das Allerschwerste und ich musste erst mit 45 Jahren reif werden.
Die Sujets, die er sich suchte und die sich nicht erst in diesen Jahren seinem Blick öffneten, waren Fenster, Brücken und Viadukte, Seestücke, Wolkenbildungen, der stille Tag am Meer. Feininger eroberte sich ein neues prismatisches Raumgefühl, er denkt nach über Licht- und Farbvolumen.
Blickte Matze aus seinem Schlafzimmerfenster auf die Straße war er unwillkürlich an Feiningers Atelierfenster erinnert. „Es muss ein ungeheures, neues Lebensgefühl für den Maler gewesen sein, als er dieses Gemälde fertigte. Ein Aufbruch damals.“ Jetzt, so viele Jahre später, war der junge Lehrer Matze hier – und der hatte andere Sorgen. Ab und zu kam ein Traktor durch den Ort gefahren und wenn es gerade vorher geregnet hatte, war die Straße unangenehm von der lehmigen Spur der Fahrzeuge gezeichnet. Noch anderes passierte, was Matze regelmäßig von seinem exponierten Ausguck beobachten konnte. Sie pflegten im Ort eine uralte, archaische Tradition. Einmal in der Woche, Donnerstag- oder Freitagabend, klingelte die Gemeindedienerin mit einer kleinen Handglocke die Straße entlang, um dann an der Kirche stehenzubleiben. Dort verlas sie allgemeine Nachrichten, die für die Dorfbewohner von Belang sein konnten. „Kohlenkarten können ab Mitte der kommenden Woche im Gemeindeamt abgeholt werden“. Oder: „Es ist darauf zu achten, dass Hühner und Gänse nicht frei in die angrenzenden Felder laufen.“
Meist waren es drei oder vier Nachrichten, die da verlesen wurden, ein ganz besonderer Dienst von der Gemeinde an die Bewohnerinnen und Bewohner. Es gab zwar irgendwo auch eine Anschlagtafel im Ort, aber diese ausgerufenen Nachrichten waren immer aktuell und sozusagen von Mensch zu Mensch übermittelt. Die Glocke schellte einmal im Unter- und einmal im Oberdorf, dann wurde verlesen.
Auch eine eher unangenehme Erinnerung hatte der Lehrer mit dem, was er von seinem Fenster aus sehen konnte. Der unwillkürliche, freie Einblick ins gegenüberliegende Gehöft führte an einem späten Herbsttag die Schlachtung eines Hausschweines anschaulich vor Augen. Das arme Tier, fettgefüttert und nichtsahnend, wurde in den Hof gelassen einzig zum Zweck, es dort von zwei anwesenden Bauern und dem herbeigerufenen Metzger zu töten. Matze war unfreiwilliger Beobachter, er sah wie ein Bolzenschussgerät dem Tier auf die Stirn gesetzt worden war, es alsbald umfiel und abgestochen wurde. Sie zogen es dann an seinen Hinterläufen schräg nach oben, befestigten es an der Scheunenwand und veranlassten seine weitere Bearbeitung. So etwas wie ein hochgelegenes Atelierfenster im Dorf zu haben, hat seinen Preis.