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7 Matzes Schulbeginn 1975

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Schulbeginn war immer am 1. September. Der Weltfriedenstag, der Anti-Kriegstag. Weil an diesem Tag im Jahr 1939 die deutsche Wehrmacht ohne vorherige Kriegserklärung Polen überfiel und damit der Zweite Weltkrieg begann. Es sollte ein Schwur wachgehalten werden, nie wieder in einen künftigen Weltkrieg zu steuern. Matzes nervöser Magen rebellierte an diesem Tag. Aber es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, einen Arzt aufzusuchen. So viel Arbeit wartete.

Vollersroda war erst nur provisorisch eingerichtet, d.h. seine Wohnung im Alten Schulhaus hätte noch sehr viel mehr Aufmerksamkeit verlangt, aber die neue Zentralschule in Legefeld wartete mit großen Herausforderungen. Matze ging mit Freude an die neue Arbeit, er wollte dazu gehören und überhaupt die vielen kleinen und großen Schüler, die da auf ihn blicken würden. Sie alle sollten von den Schönheiten der Musik erfahren, durch ihn. Vielleicht musste er sich Maler Feininger verbunden fühlen, als der erstmals nach Weimar kam und berichtete, wie er sich auf alles freue, was seine Frau ihm über die Stadt, die Steinbrücke über die Ilm, von Oberweimar und umliegenden Dörfern schon erzählt hatte.

Jetzt war Matze Friedrich wirklich Lehrer, mit 21 Jahren der Jüngste im Kollegium und ausgebildet für die Klassen 1 bis 4. Aber man traute ihm zu, sämtlichen Musikunterricht bis hoch zur 10. zu übernehmen. Vor allem traute er es sich selbst auch zu. Er hatte doch eine Reihe von besten Empfehlungen von seiner Ausbildung am sächsischen Lehrerbildungsinstitut erhalten. Weil Musiklehrer immer fehlten, hatten sie sogar empfohlen, er könne nach dem Fachschulstudium sofort weiter zu einer Hochschule, einer Universität gehen, um für die höheren Klassen ausgebildet zu werden. Aber dann hieß es, es wäre zunächst eine zweijährige Schulpraxis nötig. Egal. Matze war gewillt, sich in seine Arbeit zu stürzen, engagiert und mit dem Einsatz aller Kräfte.

Die edle musikpädagogische Linie in seiner Familie! Der Vater als Professor da an der Musik-Hochschule - der Sohn wollte da mithalten. Vier lange Jahre Lehrerbildungsinstitut, Matze meinte, er sei durchaus gut ausgebildet worden, er spielte Cello, Klavier, Singen konnte er ohnehin wie selten jemand. Aber die Hauptfächer waren Deutsch und Mathematik und dann hatte alles irgendwie trotzdem ein Niveau provinzlerischen Neulehrertums. So fünfziger und frühe sechziger Jahre, die der Arbeiter- und Bauernstaat an den Grundschulen konservieren wollte. Königliches Lehrerseminar, das war ja die Vorgängereinrichtung des Lehrerbildungsinstituts, ein mächtiger Bau. Damals schon weit ab vom städtischen Großbetrieb, da wo sie sicher sein konnten, dass da getreue Schulmänner und noch getreuere Schulfrauen heranwachsen würden.

Einmal, erinnerte sich Matze, hatte sein Vater ihn spitz gefragt: „Wie denn? Ihr lernt noch die Beschlüsse dieser Bitterfelder Konferenzen? Der „Bitterfelder Weg“, irgendwelche schreibkundige Arbeiter ins Milieu der Intelligenz zu überführen? Das ist ja völlig veralteter Stoff heutzutage.“

Na ja, Vater hatte gut reden an seiner Hochschule, dachte sich Matze. Aber in diesem drögen Lehrfach „Kulturpolitik“ hatten sie gern mal was Neues und Inspirierendes lernen wollen. Das passierte aber nicht. Student Matze legte dann aus Trotz eine Abschlussarbeit vor und die hatte zum Inhalt den Werdegang der Liverpooler Band „The Beatles“. Eine kleine Sensation, aber es passte in die Zeit und der betreuende Dozent wagte es nicht, etwas zu kritisieren und vergab als Note: Sehr gut.

Erinnerungen, was sind Erinnerungen? Sie können barbarisch den Menschen ganz zum Stillstand bringen, wie ein Inferno sich in den realen Lebensverhältnissen ausbreiten. Oder sie können Klarheit schaffen über Vergangenes.

Es gab zum Schulbeginn einen feierlichen Appell. Es war nicht einfach nur Schulbeginn, immerhin wurde die Polytechnische Oberschule Legefeld ihrer Bestimmung übergeben. Schüler und Kollegen waren angetreten, der Direktor und eine Pionierleiterin hielten Reden, die Weimarer Schulaufsicht war da. So genau interessierte sich Matze für das Procedere nicht, denn er war dafür zuständig, zwei oder drei kleine Lieder, jeweils zwischen den Redebeiträgen und am Schluss des Appells zu bringen. Dafür hatte er schnell eine Singegruppe auf die Beine gestellt. Andere Lehrer und besonders überfleißige Lehrerinnen hatten in Tagen vor der Schuleinweihung zu tun mit dem Schmücken von Klassenzimmern, dem Ordnen von blauen Halstüchern oder der Absicherung des Mittagessens für die Kinder. Das war seine Sache nicht, davor konnte Matze sich drücken. Er ahnte damals schon, ein Musiklehrer, das ist etwas Besonderes an der Schule, der würde für ausgewählte Aufgaben zuständig sein. Ein Musiklehrer kann im normalen Schulbetrieb ganz viel beitragen zum öffentlichen Ansehen oder aber, sollte er das nicht packen, würde das Fach belächelt und der arme Kollege hätte einen schweren Stand.

Mit Liedern hatte es Matze immer zu tun, schon seit seiner Kindheit. Bevor er in der Schule war, so berichteten sie es immer wieder, konnte er alle Lieder, beinahe das komplette Schulliederbuch, singen. Er erkannte an Bildern im Buch die jeweiligen Lieder und sang alles munter dahin. Oft begleitet vom Vater am Klavier, auch öffentlich.

Später standen populäre Lieder dann hoch im Kurs. Es war der Glaube an die aktivierende, aufrüttelnde Kraft von Songs, Liedern, Balladen, Popsongs. Diese Vorstellung von der erweckenden, treibenden Kraft von Liedern bei der Gestaltung von Gesellschaft war in Ost wie in West weit verbreitet. Im Osten wurde solche Vorstellung zugespitzt zur Losung „Lieder sind Brüder der Revolution“. Damit wurden zwar die bestehenden Gesellschaften keineswegs verändert, aber alles war während der Zeit des Kalten Krieges eine nicht ganz unwichtige Form politischen Agierens. Es war ein anhaltender Wettlauf um richtige und wahrhaftige Songs, auch wenn manches unerbittlich klang im deutsch-deutschen Kriegsgeschrei, sich dann zunehmend aggressiver gebärdete und im Laufe der Zeit immer hohler klang. Seinen Ursprung hatte das alles in noch weiter zurückliegenden Denkhaltungen, die in altem Proletkult wurzelten und unter ostdeutschen Verhältnissen damals mehr als nur verstaubt erschienen. Es hieß: „Unser Singen muss ein Kämpfen sein“. Dieser Sinnspruch wurde in einem in Millionenauflage veröffentlichten Liederbuch praktikabel gemacht und für verbindlich erklärt für Generationen von Lehrern und Schülern, das Liederbuch „Leben, Singen, Kämpfen“. Aufgeschlossene Leute damals erkannten zwar, dass das reale Leben immer klüger sei, als alle Dogmatik von Ideologie und parteipolitischem Gebahren. Alternativen dazu waren kaum in Sichtweite.

Vielleicht hatte Matze das alte, aber damals schon überlebte Ideal, dass jegliche Musikbildung mit dem Singen zu beginnen habe, sehr, wirklich sehr verinnerlicht. Einer, der nicht singen kann, war er überzeugt, der braucht sich nicht ernsthaft mit Musik zu beschäftigen.

Montag Nachmittag ging ich nach Vollersroda

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