Читать книгу Geschichten aus dem Koffer - Thomas Fuhrmann - Страница 32
Оглавление7. Dezember: Nächtlicher Besuch (J&E)
Was war denn das für ein Geräusch? Genervt drehte sich Thomas auf die andere Seite und wagte einen Blick durch die leicht geöffneten Lider. Anscheinend war noch Nacht. Durch den schweren Vorhang vor dem Fenster fiel kein Licht. Regnete es? War das das Geräusch, das ihn geweckt hatte? Doch jetzt war alles still. Wer sollte ihn auch stören? Er lebte allein, schon lange, eigentlich fast sein gesamtes Leben als Erwachsener. Und das war auch gut so. Niemand störte ihn in seinen Gedanken. Er konnte sie sogar laut aussprechen. Keine Unterbrechungen, keine Rücksichtnahme, keine Kompromisse.
Sollte er einfach weiterschlafen? Oder lieber noch etwas arbeiten, wenn er schon einmal wach war? Wie spät war es eigentlich? Um die Uhrzeit erkennen zu können, müsste er sich wieder umdrehen. Stöhnend rollte er sich herum, gähnte, öffnete die Augen und erstarrte. Direkt vor seinem Bett hockte ein Wesen und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Koffer, auf dem es saß.
„Na endlich! Das hat ja gedauert!“, beschwerte sich das Wesen.
Thomas rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf.
„Du kannst dich ruhig trauen“, amüsierte sich das Wesen. „Ich bin da, leibhaftig und real. Auch wenn du morgen vielleicht denkst, du hättest von mir geträumt.“
„Das gibt es doch nicht“, sagte Thomas zu sich selbst. „Ich habe einfach in letzter Zeit zu wenig geschlafen. Ist ja auch kein Wunder, ne, bei dem, was ich alles zu tun habe. Ich bin Geschäftsführer. Ich bin ein sehr guter Geschäftsführer. Wenn ich nicht gewesen wäre, würde es die Firma schon lang nicht mehr geben. Angebote gab es viele. Wir wären geschluckt worden, weg, verschwunden, ne. Ein unbedeutender Teil eines großen Unternehmens. Niemand würde uns mehr kennen. Aber ich, ne, ich habe das verhindert. Und jetzt sind wir diejenigen, die schlucken. Ja, genau, wir die anderen, ne. Und wenn ich dann mal weiterdenke, ne, nehmen wir mal nur die nächsten zehn Jahre, dann sehe ich uns auf dem Weltmarkt. In zwei Jahren, ne, da wird es in Deutschland keine Firma mehr geben, die für uns noch eine Konkurrenz darstellen würde. Und dann denke ich mal weiter, ne, dann sind wir so aufgestellt, dass die herrschenden Prinzipien von …“
„Merkst du gar nicht, dass das, was du da lang und breit erzählst, außer dir keinen interessiert?“, unterbrach das Wesen den Redeschwall. „Mich nicht, ansonsten aber auch niemanden. Die anderen sind nur zu höflich, um dich zu unterbrechen.“
Verwirrt stoppte Thomas seinen Monolog. Für einen Moment war er sprach- und gedankenlos. Was sollte das bedeuten? Und was war das überhaupt für ein nächtlicher Besucher? Er war wach. Ein Traum konnte es nicht sein. Zum ersten Mal schaute er sich das Wesen genauer an.
Es war deutlich kleiner als er. Von der Größe eher wie ein Grundschulkind, zierlich und gleichzeitig stämmig. War es alt oder jung? Er konnte es nicht sagen. Noch nicht einmal, ob er einen Mann oder eine Frau vor sich hatte.
Das Wesen kicherte. „Wieso denken eigentlich alle das Gleiche, wenn sie mich sehen?“
„Was ...“
„Ja, ich kann hören, was du denkst. Gerade ist dein Gedankenfluss ein bisschen ins Stocken geraten, vor allem, wenn man deinen üblichen Maßstab zugrunde legt. Du möchtest also wissen, wer ich bin und warum ich dich denken hören kann. Oder um es in deinen Worten zu sagen: Das Wesen scheint komplex zu sein in seinen Eigenschaften, gerade wenn ich das Aussehen und das Alter betrachte, ne, dann muss ich feststellen, dass ich nicht genau eingrenzen kann, welches Geschlecht, und da denke ich erst einmal nur an die beiden althergebrachten Geschlechter und nicht an das, was andere jetzt noch meinen, was es geben müsste, ne. Äh, also da kennt man sich ja gar nicht mehr aus, ne. Aber selbst wenn ich das einmal außen vorlasse, dann kann ich trotzdem nicht mit Sicherheit sagen, was ich da so vor mir sehe, wobei ich auch in Zweifel ziehen muss, ob das, was ich denke zu sehen, auch wirklich real vorhanden ist, ne. Wenn ich da mal bedenke, dass ja durchaus auch angesichts der Uhrzeit und der Tatsache, dass ich gerade geschlafen habe, dass da ... Träume will ich jetzt gar nicht erwähnen. Ich träume nicht, jedenfalls glaube ich, dass das, was gemeinhin für Träume gehalten werden, nichts weiter als Wunschbilder des Gehirns sind, wobei das die Frage aufwirft, was mein Gehirn, wenn ich jetzt mal davon ausgehe, ne, dass das hier jetzt auch ein Wunschbild ist, denn etwas anderes kann es ja nicht sein. Ein Einbrecher würde sich nicht so verhalten. Das wäre absolut untypisch, wenn man bedenkt, ne, dass ein Ziel des Einbrechens, wenn ich mich jetzt mal versuche, mich in die Gedanken eines Einbrechers hineinzuversetzen, ne. Das ist ja so weit von mir entfernt. Ist Spekulation, ne, aber ich denke, ich kann es ganz gut erfassen. Dann will ich ja nicht gesehen werden, ne. Ich gehe also an ein unbeobachtetes Fenster, ne, also, so ein Zimmer an der Ecke, vielleicht noch verdeckt durch einen Busch. Und dann setze ich das Schneidegerät an und in 20 Sekunden bin ich drin. Dann drei Griffe zu Schubladen, ein Schrank in der Küche und dann bin ich weg, ne.“
Thomas hielt sich die Ohren zu und schüttelte wild den Kopf. „Aufhören! Was hat das denn damit zu tun, wer du bist?“
„Tja, das denken sich deine Mitmenschen auch häufiger“, grinste das Wesen. „Aber ich kann dich beruhigen. Ich bin kein Einbrecher. Und dass ich deine Gedanken hören kann, ist für mich auch ganz normal. Ich bin nämlich ein Engel. Um genau zu sein: Ein Engel für besondere Aufgaben. Ich bin zuständig für die besonders schweren Fälle. Insofern bin ich genau der Richtige für dich. Und noch etwas: Es ist übrigens ziemlich unhöflich, ständig zu denken, wenn jemand anders redet.“
„Aber …“
„Ich merke, dir hat es die Sprache verschlagen. Sehr gut. Dann hoffen wir mal, dass du mir dann auch zuhörst, was ich zu sagen habe. Und was ich dir zeigen möchte. Bist du bereit?“
Thomas fuhr sich hektisch durch die Haare, räusperte sich, richtete sich auf und stopfte sich das Kissen hinter den Rücken.
„Ich vermute mal, du bist bereit“, schlussfolgerte der Engel. „Okay, um die Form zu wahren: Ich bin Nathanael. Das ist zumindest seit den letzten 256 Jahren mein Arbeitsname. Davor war ich als Wolfgang Leopold Theophil Alexander Freiherr von Stetten auf der Welt. Ich bin – oder war – also ein Mann und hätte, wäre ich noch auf der Erde, vor zwölf Jahren meinen 300. Geburtstag gefeiert.“
„Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Wenn man dich so reden hört, könnte man annehmen, jedenfalls würde ich das denken, und vermutlich der Großteil ebenfalls, ne, äh, dass du in der Jetztzeit leben würdest.“
„Das nehme ich mal als Kompliment.“ Der Engel warf seinen Schal schwungvoll über die Schulter und setzte sich aufrecht hin. „Natürlich habe ich mich zu meiner aktiven Zeit auf der Erde noch anders ausgedrückt. Ich bin aber lernfähig. Wenn ich gerade Pause habe, setze ich mich gern auf einen Schulhof, auf Spielplätze oder Skaterbahnen. Du glaubst gar nicht, was man da so alles hört. Unglaublich faszinierend! Solltest du auch mal hingehen.“ Nathanael wackelte mit dem Zeigefinger vor Thomas’ Gesicht hin und her, lächelte allerdings dabei. „Aber ich schweife ab. Wobei, eigentlich gar nicht, wenn ich es richtig bedenke. Thema: Zuhören. Das ist auch bei dir ein wichtiger Punkt.“ Nathanael blickte Thomas intensiv an. „Wobei, ich muss lobend erwähnen, dass du in den letzten Minuten deutlich weniger dazwischen gedacht hast. Das ist ein großer Fortschritt im Vergleich zu dem, was mir meine Kollegen berichtet haben.“
„Deine Kollegen? Was soll das heißen? Bist du, wenn ich das richtig verstehe, also nicht … äh … der erste Gast, der mich hier in der Nacht an meinem Bett aufsucht?“
„Ich kann dich beruhigen.“ Nathanael lächelte. „In der Nacht bin ich der Erste. Meine Kollegen waren alle tagsüber unterwegs. Und sie haben sich dir auch nicht zu erkennen gegeben. Das dürfen nur wir Engel für besondere Aufgaben. Es ist der letzte Versuch, einen Menschen auf den richtigen Weg zurückzubringen.“
„Und warum bist du, oder vielmehr, wie kommen, ich sag mal, deine Kollegen und du, ne, oder euer Oberboss, falls ihr so etwas habt, auf die Idee, äh …, dass ausgerechnet ich ein Kandidat sein sollte, der auf den rechten Weg, wie ihr so sagt, ne, zurückgebracht werden sollte? Habt ihr nicht gesehen, was ich …. Doch bestimmt, ihr seid ja allwissend!“, spottete Thomas. „Jedenfalls sagt man doch so, ne, über euch himmlische Wesen. So eines bist du doch, ne?“
„Na, na, na, kein Grund, sich hier über andere zu erheben!“ Nathanael erhob mahnend den Zeigefinger und wirkte längst nicht mehr so entspannt wie zu Beginn des Gesprächs. „Da sind wir genau bei deinem Punkt: Du glaubst, etwas Besseres zu sein. Nein!“, hob er die Hand, „jetzt hörst du mir erst einmal zu. Und zwar bitte kommentarlos. Deine Gedanken in abgehackten Sätzen sind echt anstrengend, wenn ich das mal ganz salopp so sagen darf.“ Der Engel seufzte. „Wo war ich? Ach ja, der Punkt, den ich nennen wollte: Du umgibst dich gern mit Menschen, denen du dich überlegen fühlst. Menschen, die nicht ihre gesamte Energie auf sich selber verwenden. Menschen, die auch mal auf ihren eigenen Vorteil verzichten und dadurch angreifbar werden. Dafür haben sie etwas, was dir komplett fehlt: Empathie, Mitgefühl, Nächstenliebe, Wärme. Das ist die eine Gruppe. Und dann sind da noch diejenigen, die sich von dir einen Vorteil erhoffen. Schleimer, Emporkriecher, Menschen wie du. Stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Und dafür geht ihr über Leichen.“
Thomas richtete sich empört auf. „Das ist frech!“ Er schnappte nach Luft. „So eine ungeheuerliche Behauptung, ich würde, also, im Ernst, das kann doch nicht. Noch nie habe ich jemanden körperlich geschädigt. Geschweige denn, was du hier, ne, einfach so behauptest … Ich sorge für meine Mitarbeiter. Ich arbeite hart, dass es der Firma gut geht. Und geht es der Firma gut, ich muss sogar sagen, in den letzten Jahren haben wir uns exzellent aufgestellt, so dass man nicht mehr nur von gut, ne, reden kann, sondern eher in einer Weise, die beeindruckend ist. Das ist aber nur möglich, wenn man sich, ne, mit dem richtigen Wissen versorgt, ne. Das ist nicht in der Bildzeitung zu lesen. Das ist nur …“
„Stopp! Ich habe es verstanden. Du bist allwissend und großartig. Und nur du verstehst die Zusammenhänge des großen Ganzen. Aber“, Nathanael richtete sich auf, „was dabei auf der Strecke bleibt, das siehst du nicht. Und dafür bin ich heute hier.“
„Du bist also der Geist der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht?“ Thomas lachte höhnisch. „Reisen wir jetzt durch die Zeit und du zeigst mir auf verschiedenen Stationen meine, wie du so sagst, ne, Verfehlungen?“
„Auch wir sind inzwischen moderner geworden.“ Nathanael schien zu überlegen, ob er die letzten Äußerungen noch weiter kommentieren sollte, beließ es dann aber dabei. „Auch wir sind inzwischen im digitalen Zeitalter angekommen.“ Nathanael erhob sich und holte ein Pad aus seinem Koffer. „Wir reisen nicht in Zeittunneln mit verschiedenen Abzweigungen. Wir holen uns die Vergangenheit und Zukunft aufs Tablet.“
Der Engel schaltete das Pad ein, tippte darauf herum und ließ es dann sinken. „Bereit für deine Zukunft?“
Thomas lachte. „Auf jeden Fall. Wenn ich das jetzt schon sehe, was mich später so erwarten wird, in der Zukunft und so, dann kann ich mich ja, wie man so sagt, schon darauf freuen, ne. Vorfreude soll ja die schönste Freude sein. Was ich allerdings noch nie so ganz verstanden habe. So richtig schön ist es ja doch erst, wenn wirklich eintrifft, was man vorher erwartet hat, ne. Wenn man sieht, dass man richtig gelegen hat.“
Nathanael hob die Augenbrauen. „Ob du wirklich Grund hast, dich darauf zu freuen, da bin ich mir ja noch nicht so sicher. Aber sieh selbst: Deine Zukunft. So, wie sie sein wird, wenn du nichts änderst.“
Der Engel startete ein Video und hielt das Tablet so, dass auch Thomas einen guten Blick darauf hatte. Auf dem Bildschirm erschien ein prachtvolles Haus. Weiße Fassade, klare Architektur mit großen, dunklen Fenstern, umgeben von einem gepflegten Garten. Die Hecke war akkurat zurückgeschnitten, die kleinen Bäume hatten einen Winterschutz, und auf den Beeten lagen Tannenzweige.
„Dann wollen wir doch mal sehen, was du so machst“, kommentierte Nathanael. Das Video zoomte auf das Haus, die Tür sprang auf und der Betrachter befand sich im Wohnzimmer. Es war in schwarz-weiß gehalten. Edle Ledersofas standen U-förmig in der Fensterecke, davor ein weißer Glastisch, auf dem ein Adventsgesteck mit einer künstlichen Kerze stand. Nichts lag herum. Jeder Platz schien sorgsam ausgewählt. Selbst die Fernbedienung steckte ordentlich in einem Organisationshelfer, der an der Sofalehne befestigt war. Auf dem Platz daneben, direkt an der Ecke des Sofas mit Blick auf den Fernseher, saß ein Mann mit etwas zu langen grauen Haaren, Seitenscheitel und Hörgerät. Seine Schultern waren hingen nach vorn und bildeten einen leichten Buckel. Im Gegensatz dazu standen seine Füße, die in Filzpantoffeln steckten, exakt nebeneinander auf dem Fußboden.
Eine Frau kam ins Zimmer und zog sich im Gehen eine Jacke über. „Ich gehe jetzt. Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch, Herr Ernst.“
„Das bin ja tatsächlich ich“, flüsterte Thomas. „Das Haus gefällt mir. Das wirkt so, ich muss schon sagen, edel, ne, also, da könnte ich es wohl schlechter getroffen haben, wenn ich das so sehe.“
„Du kannst ruhig laut reden“, amüsierte sich der Engel. „Wie du vielleicht bemerkt hast, betrachten wir ein Video.“
Die Frau hatte inzwischen das Haus verlassen. Der alte Thomas saß auf dem Sofa und blickte in die Kerzenflamme.
„Ich kann das hier mal ein bisschen schneller laufen lassen“, stellte Nathanael fest und erhöhte die Abspielgeschwindigkeit. „Hier passiert in den nächsten Stunden nicht viel.“
Tatsächlich blieb der Mann in nahezu unveränderter Position sitzen. Mal beugte er sich vor, um einen Schluck aus dem Wasserglas zu nehmen, das vor ihm auf dem Tisch stand, mal griff er nach der Zeitung, die ebenfalls im Organizer steckte. Währenddessen wurde es draußen dunkel. Im Zimmer tauchte eine indirekte Beleuchtung den Raum in ein stimmungsvolles Licht.
„Das ist alles programmiert“, erklärte Nathanael, als er Thomas’ fragenden Blick bemerkte. „Du musst nichts mehr machen.“
„Das gefällt mir! Wenn ich überlege, wieviel Zeit man sparen kann, wenn man nicht mehr jedes Mal zum Lichtschalter gehen muss, wenn man das Licht ein- oder ausschalten will, ne, wenn ich bedenke, das sind am Tag, wenn ich es jetzt mal so überschlage, bestimmt, ach, wenn ich schon allein morgens denke, gerade im Winter, wenn es noch dunkel ist. Da fallen mir das Schlafzimmer, auf dem Weg ins Bad noch der Flur, dann die Küche und das Wohnzimmer ein. Wenn ich jedes Mal das Licht an- und natürlich auch, wenn ich den Raum wieder verlasse, denn das sollte man ja, aus Energiespargründen, ne, dann sind das allein in diesen Räumen am Morgen neun Mal, wenn ich davon ausgehe, dass ich mich im Wohnzimmer erst einmal ein bisschen aufhalte, ne, denn ich bin ja dann im, wie sagt man so, verdienten Ruhestand, ne.“ Thomas lachte. „Und es heißt ja Ruhestand, ne, und nicht … äh … Lichtschalterweg oder so, ne.“
Der Engel sah den Mann vor sich im Bett mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wenn du meinst.“
„Na klar, das ist doch unglaublich praktisch, ne, das kann man ja sehen. Ich musste mich keinen Zentimeter bewegen, ne, und trotzdem wechselt das Licht. Was das alles für Möglichkeiten freisetzt, ne.“
Der Engel ließ die Feststellung unerwidert und reduzierte stattdessen wieder die Abspielgeschwindigkeit.
„Oh, jetzt passiert etwas!“ Thomas beugte sich interessiert vor.
Sein altes Ich griff nach der Fernbedienung und richtete sie auf den Fernseher. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Moderatoren, die Sektgläser in die Kamera hielten. Sie zählten den Countdown mit, der als überdimensional große Zahlen eingeblendet wurde. Am Ende stießen sie gemeinsam an, und das Fernsehbild wechselte. Leuchtende Raketen schossen in den Himmel und bildeten immer neue glänzende Bilder. Der alte Mann nickte, stellte den Fernseher wieder aus und blickte in das flackernde Licht der Adventskerze.
„Warum sitze ich an Silvester allein zu Hause“, wunderte sich Thomas. „Ich wollte doch immer verreisen, nach Neuseeland, oder durch Südamerika, oder Kanada. Natürlich nicht als Pauschaltourist, ne, da sieht man ja gar nichts vom Land und von den Leuten, wobei, ne, sicherer wäre es schon. Mir sieht man ja schon an, ne, wenn ich da so unterwegs bin, dass ich nicht ganz unvermögend bin, ne. Und da wäre eine Kreuzfahrt schon ungefährlicher.“
„Du sitzt zu Hause, weil du dich kaum noch bewegen kannst.“ Nathanael zeigte auf zwei Griffe, die hinter der Sofalehne zu sehen waren. „Siehst du das? Das ist dein Rollator. Ohne dieses Hilfsmittel würdest du noch nicht einmal vom Sofa bis ins Bett gelangen. Das Schlafzimmer ist übrigens direkt neben dem Wohnzimmer, damit du nicht so weit laufen musst. Seit deinem Schlaganfall vor drei Jahren ist dein linkes Bein nur noch teilweise belastbar. Doch das kannst du dir nicht eingestehen. Deshalb steht der Rollator auch hinter dem Sofa. Du verrenkst dich lieber, um ihn hervorzuziehen, als dass er sichtbar im Zimmer steht. Natürlich, das Kochen, Putzen und Einkaufen übernimmt Frau Raikowitsch, die nette Dame, die du vorhin gesehen hast. Sie ist aber auch die einzige, die das Haus betreten darf. Der Gärtner bekommt immer von ihr die Aufträge und hat die Türschwelle noch nie übertreten.“
Thomas grübelt. „Bekomme ich Besuch? Von meinen Arbeitskollegen zum Beispiel. Da ist doch der Martin, mit dem ich jeden Donnerstag zum Tennisspielen gehe.“
„Ja, der Martin …“, Nathanael nickte und stoppte das Video. „Den gibt es ja auch noch. Möchtest du sehen, was er so in der Zukunft macht?“
„Jetzt kommt bestimmt ne arme Familie ohne Geld zum Feiern“, spottete Thomas. „Kennen wir doch, ne? Und damit willst du mein Mitleid wecken, weil ich natürlich, ne, irgendwas in der Vergangenheit gemacht habe, ne, was sie arm gemacht hat. Bestimmt habe ich ihn vor die Tür setzen müssen, aber wenn es so gewesen sein sollte, ne, dass ne Kündigung notwendig wurde, denn das habe ich ja gemeint, falls du die Redewendung noch nicht kennst, wer weiß das schon, ne. Wenn ich jemanden entlasse, habe ich immer einen triftigen Grund dazu, das ist natürlich klar!“
„Dann schauen wir doch mal, ob du recht behältst“, schmunzelte Nathanael, zoomte, ließ das alte Video verschwinden, tippte eine kryptische Zahlen-Buchstaben-Kombination ein und startete ein neues Video. „Martin mit seiner Familie. Am gleichen Silvesterabend in der Zukunft.“
Ein blaues Haus erschien auf dem Bildschirm, davor ein Jägerzaun mit einem Rosenbogen über dem Gartentor. Schräg vor dem Haus stand eine große Tanne. An der anderen Seite des Hauses grenzte eine hohe Hecke das Grundstück zum Nachbarn ab. Im Erkerfenster im ersten Stock stand ein Windlicht mit einer flackernden Kerze, und der Carport wurde von einer Lichterkette eingefasst. Die Haustür, an der ein Adventskranz hing, schwang auf und führte die Betrachter durch den Flur in das Wohnzimmer. Im Kamin knisterte ein Feuer. Die Wärme war fast durch das Video spürbar. Auf dem Couchtisch stand ein halb aufgegessenes Käsefondue. Die Bewohner beachteten es nicht mehr. Drei von ihnen saßen auf dem Sofa und starrten auf den Hausherrn, der mit Gesten versuchte, einen Begriff verständlich zu machen. Was die anderen rieten, konnte Thomas nicht hören. Nathanael hatte den Ton ausgestellt.
„Und, sieht so eine verhärmte, unglückliche, arme Familie aus?“
Thomas schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich auf das Tablet. Sein alter Freund ging gerade lachend zum Sofa zurück und klatschte sich mit seiner Frau ab. Ein jüngerer Mann stand auf und griff in eine Schale mit Zetteln. War das der Sohn? Thomas erinnerte sich vage, dass Martin einmal etwas von einem Kind erzählt hatte. Doch ob das ein Junge oder ein Mädchen gewesen war, konnte er nicht mehr mit Sicherheit sagen. Vielleicht war ja auch die Frau, die sich gerade von einem gähnenden Mädchen ein Bild zeigen ließ, die Tochter. Obwohl, die Ähnlichkeit war beim Mann eher vorhanden.
„Ich wusste gar nicht, dass seine Frau noch lebt“, sprach Thomas den Gedanken aus, der ihm im Kopf herumspukte. „Sie war krank und irgendwie dachte ich immer …“
„... dass sie gestorben ist, ich weiß“, ergänzte der Engel. „Thomas hat dir damals von seiner Verzweiflung erzählt. Von ihrer Krankheit, dass keine Therapie anschlagen wollte. Und weißt du noch, was du geantwortet hast?“
Thomas schüttelte den Kopf.
„Du hast gesagt: Wir sind hier beim Tennis. Und weißt du, was der Sinn hier ist, ne? Doch ganz bestimmt nicht, nach den Problemen in der Arbeit, für die wir nach langem Ringen wirklich erfolgreiche, ja geradezu bahnbrechende Lösungen gefunden haben, ne, wie schon bald auch der Letzte erkennen wird, jetzt hier die nächsten Probleme zu wälzen, für die es keine Lösung gibt. Wir sind hier, um den Kopf frei zu bekommen. Und wenn du mit dem Kopf ohnehin zu Hause bist, denn das scheinst du ja zu sein, wenn du die ganze Zeit von deiner Frau und ihren Therapien erzählst, ne, dann kannst du das nächste Mal auch deinem Kopf folgen und nach Hause gehen“, zitierte der Engel den etwas jüngeren Thomas. „Das war vor zwei Jahren. Danach seid ihr nie wieder gemeinsam beim Sport gewesen. Du hast dir andere Tennispartner gesucht, die weniger geredet haben und dir geduldiger zugehört haben. Martin hat nie wieder von seiner Frau erzählt. Und du hast nicht gefragt.“
Nathanael schaute zu dem Mann, der zusammengesunken auf dem Bett hockte und das Standbild auf dem Tablet anstarrte. Es zeigte Martin und seine Frau. Beide lachten, weil das Mädchen eine Luftschlange auf sie pustete.
„Ich habe niemanden?“, fragte er schließlich den Engel.
„Niemanden“, bestätigte dieser. „Niemand kommt zu dir, ohne dafür bezahlt zu werden.“
„Dann kann mich auch wenigstens keiner stören. Unterbrechungen in Gedanken sind, wie du sicherlich ja schon in deinen Vorbereitungen gemerkt hast, ne, denn man wird dich ja nicht ohne Briefing auf mich losgelassen haben und du hast ja schon von Kollegen erzählt, ne, die bei mir waren. Ich bin auf dem Weg zur Vollkommenheit. Und wenn ich dann so abends dasitze, mit Wasser oder mal auch mal einem Gläschen Wein, ne, bei Kerzenschein, ganz so, ne, wie man sich das vorstellt, dann ist das in Ordnung.“ Selbstzufrieden lehnte Thomas sich zurück.
Nathanael sah ihn an. „Weißt du, wie alt du in dem Video bist?“
Thomas zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Wenn ich jetzt mal bedenke, dass ich gute Erbanlagen habe, mein Großonkel, ne, der ist 102 geworden, und meine Tante, Tante Margot, ne, die lebt zwar in einem Pflegeheim, aber erst letzte Woche hat sie einen neuen Rekord aufgestellt, ne. Ihre bekannte Strecke, oben, der Gang, einmal um den Innenhof herum, ne. Ich sage dir, die Frau war besser unterwegs als in ihren besten Zeiten. Eine Minuten und 25 Sekunden, ne, für den ganzen Weg. Da war sie bisher nur ein Mal schneller, aber das ist schon Jahre her. Wenn ich das also mal für mich überdenke, ne, dann rechne ich schon damit, dass ich die nächsten dreißig oder vierzig Jahre noch aktiv unterwegs bin, Reisen, Bildung, ne, ...“
„Ich will es dir sagen“, unterbrach Nathanael den Redefluss. „Im Video bist du 68 Jahre alt. Das, was ich dir vorhin gezeigt habe, erlebst du morgen in zwanzig Jahren. Du führst mit 68 Jahren das Leben eines 90jährigen, der Tag für Tag nur darauf wartet, dass es Zeit ist zum Schlafengehen. Wenn du nichts änderst.“
„Aber was kann ich denn ändern? Hast du die Macht, einen Schlaganfall zu verhindern?“, fuhr Thomas auf. „Eins, zwei, drei, hex-hex? Ach ne, ihr seid ja eher auf der Schiene Herr, bitte hilf und heile diesen Kranken, ne? Amen.“
Nathanael schüttelte den Kopf und atmete tief durch. „Nicht ich habe die Macht. Du allein kannst etwas ändern. Ich kann dich nur darauf aufmerksam machen. Was du daraus machst, ist deine Sache.“
Der Engel tippte einen neuen Code ein und drehte das Tablet zu dem Mann im Bett. Der schrak zurück.
„Was ist das?“
„Das bist du, in ungefähr anderthalb Jahren. Du warst bei einem Kunden und hast dort einen Schwächeanfall erlitten. Du bist einfach zusammengebrochen, mitten im Gespräch. Der Kunde hat einen Krankenwagen gerufen und dich ins Krankenhaus bringen lassen, trotz deines Protestes. Du warst schon wieder bei Bewusstsein und hast heftig protestiert. Deine Mitarbeiter hätten dem wahrscheinlich stattgegeben. Dein Kunde hatte aber Sorge um deine Gesundheit …“
„... wohl eher um seinen guten Ruf. Wer will schon von sich hören, dass dort Kontaktpersonen in der Firma zusammenbrechen.“
„Wie auch immer“, stellte der Engel fest. „Tatsache ist, dass du untersuchst wurdest. Und der Chefarzt im Krankenhaus hat dich gewarnt. Du betreibst Raubbau an deinem Körper. Bluthochdruck, Übergewicht, auch durch die vielen Arbeitsessen bis weit in den Abend hinein, der dauerhafte Stress. Wenn du dein Leben so fortführen würdest, würde dein Körper irgendwann die Notbremse ziehen. Du solltest dir, so sein Fazit, den Warnschuss zu Herzen nehmen, und dir ein Leben außerhalb der Arbeit aufbauen.“
Nathanael wechselte die Anzeige und und zeigte auf ein Standbild des alten Thomas in seinem Wohnzimmer. „Wenn du dir dies jetzt anguckst, was vermutest du? Hast du auf den Arzt gehört?“
„Wohl eher nicht“, gab Thomas zu.
„Und ich möchte dir noch etwas zeigen“, ergänzte der Engel. „Aber dafür legst du dich bitte schon wieder hin, damit du dabei einschlafen kannst.“
Thomas rutschte nach unten und legte sich widerspruchslos auf die Seite. Seine Augen fühlten sich plötzlich ganz schwer an.
„Es ist gibt nicht nur einen Abzweig im Leben. Dein Weg hat lauter kleine Verästelungen. Täglich triffst du Entscheidungen und mit jeder Entscheidung, mag sie auch noch so klein sein, bestimmst du deine weitere Richtung. Manche Wege verlaufen fast parallel zu deinem bisherigen Weg, andere beschreiben einen Bogen. Wohin du gehst, bestimmst du, jeden Tag aufs Neue.“
Nathanael öffnete eine neue Datei und drehte das Tablet zu Thomas. „Du hast vorhin selbst von deiner Tante erzählt, die im Pflegeheim lebt. Doch dort war sie nicht immer. Früher hat sie allein einen ganzen Hof bewirtschaftet, hat die Aufsicht über die Arbeiter geführt, hat den Hofladen betrieben und im Winter Wollprodukte hergestellt. Wusstest du, dass sie mal das Gesicht ihrer Region war? Auch die Pressetermine hat sie mit Bravour gemeistert. Erinnerst du dich an den Hof?“
„Dunkel. Ich war als Kind ein paar Mal in den Sommerferien dort.“
„Ich kann dir sagen: Du fandest es wunderbar! Sie hat dir ganz viele Freiheiten gelassen, und du hast ihr Vertrauen nicht missbraucht. Doch davon sprichst du schon lang nicht mehr. Mein letztes Video ist eine Vision. Ein Vorschlag von mir, eine Idee, ein Traum. Mach damit, was du möchtest. Ich habe getan, was ich konnte.“
Nathanael startete das Video und hockte geduldig auf seinem Koffer, das Tablet in seiner Hand.
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Am nächsten Morgen erwachte Thomas und schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte geträumt, eine Tatsache, die er schon länger verleugnete. Er träumte nicht. Das gab es gar nicht. Doch dieser Traum fühlte sich fast real an. Er war im Pflegeheim gewesen, wie an jedem Sonntag. Doch im Traum war er nicht mit seiner Tante auf dem Flur unterwegs gewesen, ungeduldig, weil sie schon wieder nach ein paar Schritten stehen blieb. Sie hatten zusammen im Garten gesessen, in der Rosenlaube, die er bisher in der Realität nur vom Fenster aus gesehen hatte. Eine Kanne mit Tee hatte auf dem Tisch gestanden, daneben eine Schale mit Plätzchen. Und seine Tante hatte erzählt, von früher, von ihren Eltern, von ihren Geschwistern, von ihm als Kind, von ihrem Leben. Ihr Gesicht hatte gestrahlt und er hatte ihr sogar ein bisschen zugehört. Wirklich zugehört. Zumindest teilweise. Zwischendurch hatte er sich schon gefragt, ob sie es nicht auch beim Laufen erzählen könnte. All die Meter, die jetzt fehlten … Da würde er nächsten Sonntag dann, wenn er wieder da wäre, dringend etwas nachholen müssen. Wobei, zu sitzen hatte auch seine Vorteile. Da war ja auch noch die Pflegerin gewesen, die gekommen war, um seine Tante an die Tabletten zu erinnern. Hatte sie ihm zugelächelt? Thomas schüttelte den Kopf. Es war ja nur ein Traum. Aber was wäre, wenn der Traum wahr werden könnte?