Читать книгу Geschichten aus dem Koffer - Thomas Fuhrmann - Страница 42

Оглавление

10. Dezember: Ein Koffer voller Wünsche (K)

Sie liebte die Ruhe, die von diesem Ort ausging, dem Ort, der ihr so viel bedeutete. Natürlich, die Holzbank war längst erneuert worden und der Baum hatte etliche Jahresringe hinzugewonnen, und doch sah sie sich noch als junge Frau unter seinen Zweigen sitzen. Damals war sie glücklich gewesen. Damals und die letzten Jahrzehnte ebenfalls, auch wenn es nicht immer einfach gewesen war. Doch sie hatten es geschafft. Gemeinsam. So, wie sie immer gemeinsam eine Lösung gefunden hatten. Aber jetzt war sie allein. Und sie fühlte sich alt. Deutlich älter, als sie es eigentlich war.

Der Pfarrer ging mit einem Mitarbeiter über den Hof und grüßte zu ihr herüber. Sie nickte ihm zu und nahm ihn doch kaum wahr.

Es wurde kälter. Die Sonne ging in diesen Monaten schon früh unter und konnte auch tagsüber kaum wärmen. Dabei hätte sie die Wärme gut gebrauchen können. In den Häusern wurden Laternen angezündet und leuchteten aus den Fenstern auf die Straße. Sie sahen hübsch aus, liebevoll gestaltete Windlichter, die dennoch nicht ihr Herz erreichten. Eigentlich hatte sie auch eine Laterne basteln wollen, zusammen mit ihrer kleinen Enkeltochter. Doch sie hatte keine Kraft dafür gehabt. Jetzt hatte ihre Schwiegertochter sich darum gekümmert, damit sie nicht ohne Licht zum Umzug gehen mussten.

Sie zog den Schal fester um den Hals und richtete sich auf. Als sie nach dem kleinen Kissen greifen wollte, das sie sich seit der Blasenentzündung mitnahm, weshalb sie zwei Wochen nicht zu ihrem Baum gehen konnte, zögerte sie. War da etwas in dem Astloch? Ein Stift? Ein Geschenk? Oder ein Schlüssel? Vom Boden aus konnte sie es nicht erkennen. Mühsam kniete sie sich auf die Sitzfläche, hielt sich mit beiden Händen an der Lehne fest, stellte einen Fuß auf und stemmte sich hoch. Mit einer Hand stützte sie sich am Stamm ab und schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie erkennen, dass sich das Astloch jetzt fast auf Kopfhöhe befand.

Sie beugte sich vor und zog eine längliche Metallbox heraus. Als sie den Deckel öffnete, sah sie einen vergilbten Zettel. Er war zerknittert und mit einer gelben Schleife zusammengebunden. Im ersten Impuls wollte sie an einem Ende des Bandes ziehen, doch dann zögerte sie. Sorgfältig klopfte sie den Dreck ab und steckte die Box mit dem Zettel in ihre große Manteltasche.

---

„Habt ihr es schon gehört?“, fragte Christian und kickte einen Stein weg.

„Was denn?“ Michael sah zu seinem Freund. Wie kam es nur, dass er immer alle Gerüchte als erster kannte? Auch seine Schwester Luise sah von ihrem Zweig auf, den sie mit einem spitzen Stock abschabte. Eigentlich war er mit Christian am liebsten allein unterwegs. Aber heute hatte Mama sie wieder einmal gebeten, seine jüngere Schwester Luise mitzunehmen. Wenn er ehrlich war, störte sie meistens eigentlich gar nicht so doll. Beim Rennen war sie etwas langsamer, dafür unglaublich geschickt, wenn es darum ging, in hohe Bäume zu klettern. Und ihre Staudamm-Konstruktionen waren legendär. Aber ob sie auch Geheimnisse bewahren konnte? Egal, es war ja nicht sein Geheimnis.

Christian winkte sie zu sich und legte ihnen jeweils einen Arm auf die Schulter. „Habt ihr schon gehört, dass wir einen Engel im Dorf haben?“

„Einen Engel?“

„Pst, Luise! Nicht so laut!“, zischte ihr Bruder.

„Ja, einen Engel“, fuhr Christian fort.

„Würde ja in die Zeit passen“, lachte Michael. „Wenn nicht jetzt in der Adventszeit, wann dann?“ Er sah seinen Freund an. „Ist er dir erschienen und hat dich ermahnt, immer brav zu sein?“

„Unterbrecht mich doch nicht immer“, beschwerte sich Christian. „Ihr wisst ja gar nicht, was ich erzählen will! Frau Sommer, die Tante von Alex, ihr wisst schon, dem Freund von meinem Bruder, also, die hat ein Geschenk vor ihrer Tür gefunden.“

„Ein Geschenk?“, wunderte sich Michael. „Was denn?“

„Irgendsoein besonderer Haarkamm. Sie hatte früher mal so einen, und dann hatte sie ihn verloren, oder er war kaputt. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hatte sie ihn nicht mehr. Und dann hat sie es letzte Woche beim Kirchkaffee erzählt. Und ein paar Tage später hatte sie ein Päckchen im Blumenkasten neben der Tür.“

„Dann hat es wohl jemand gehört, wie sie es erzählt hat. Oder es gibt wirklich Wichtelmännchen.“ Michael lachte und dachte an die gestickten Figuren auf ihrem Adventskalender. „Wie kommst du darauf, dass es ein Engel sein könnte?“

„Weil das nicht das einzige ist. Meine Mutter hat dann erzählt, dass der Schuster Hans einen neuen Füller bekommen hat und die Liesl vom Bauer Schwarzer eine rosa Haarschleife. Und der Metzger hatte einen Zettel im Briefkasten mit einer Liste, wem er zu Weihnachten einen Braten liefern soll. Geld lag auch gleich mit dabei.“

„Das kann nur ein Engel gewesen sein!“ Luises Augen leuchteten. Sie liebte Sagen und Märchengeschichten.

Christian sah sie spöttisch an. „War ja klar, dass du das wieder glaubst. Dann kannst du ja auch zum Schuppen im Kirchgarten gehen. Dort hat der Pfarrer jetzt einen Koffer aufgestellt. Angeblich kann man dort einen Zettel mit einem Wunsch reintun. Und wenn es ein richtig großer und wichtiger Wunsch ist und man abends immer dafür betet, dass er sich erfüllt, dann geschieht das auch.“

Michael grinste und stieß seine Schwester in die Seite. „Na komm, lass dich doch nicht immer ärgern!“

Doch Luise hatte gar nicht ihre übliche Trauermiene aufgesetzt. Sie schüttelte den Kopf. „Also, wenn ihr euch die Chance entgehen lassen wollt … Ich werde es versuchen.“ Sie zog die Jungen mit sich. „Kommt, wir gehen nach Hause und schreiben unsere Wünsche auf. Und dann gehen wir zum Schuppen und legen sie in den Koffer.“

„Weißt du denn schon, was du dir wünschst?“, wunderte sich Michael.

„Na klar! Ein Schnitzmesser. Dann muss ich nicht mehr einen Stein oder einen Stock nehmen. Und bei deinem Messer ist ja schon eine Ecke abgebrochen. Und scharf ist es auch nicht mehr unbedingt. Mama und Papa haben schon gesagt, dass ich es nicht zu Weihnachten bekomme. Dabei wünsche ich es mir so sehr! Aber sie denken, ich bin noch zu klein dafür. Obwohl du ein Jahr jünger warst, als du dein Messer bekommen hast!“

„Du bist ja auch ein Mädchen!“

Empört wandte sich Luise an Christian. „Das ist doch kein Grund! Außerdem kann ich besser klettern als du.“

---

Es dämmerte schon, als die drei Kinder zum Kirchgarten kamen. Beinahe ehrfürchtig schlichen sie den Kiesweg entlang. Am Holzschuppen baumelte eine Laterne über der Tür, die mit einem Strick offen gehalten wurde. Auf einem Hocker lag ein Koffer, groß genug, dass eine ganze Familie damit verreisen könnte. Aber auch so schwer, dass er schon ohne Inhalt kaum zu tragen gewesen wäre.

Michael kniete sich hin und hob den Deckel hoch. Im Laternenlicht konnten sie mehrere gefaltete Zettel erkennen.

„Wir sind nicht die einzigen“, wisperte Luise.

Vorsichtig legte sie ihren Zettel dazu, den sie ordentlich gerollt und mit einer Schleife verziert hatte. Michael holte sein geknicktes Blatt aus der Hosentasche und legte es daneben. Doch er zögerte noch, den Deckel wieder zu schließen.

„Sollen wir einmal nachschauen, was sich die anderen so gewünscht haben?“

Christian nickte und griff in den Koffer. „Was haben wir denn da?“

Lieber Engel!

Bitte mach, dass Papa nicht mehr so traurig ist und Mama nicht mehr so doll schimpft. Ich habe doch beide lieb!

Deine Katharina

„Da steht ja gar keine Adresse dabei“, wunderte sich Michael. „Wie soll der Engel denn dann wissen, wem er helfen soll?“

„Also, ich bitte dich“, lästerte Christian. „Wie kannst du nur glauben, dass ein Engel das nicht wüsste …“

„Oder hier.“ Christian warf den ersten Zettel wieder in den Koffer und griff nach dem nächsten. In wackeliger Schrift stand nur eine Bitte:

Ein Bund Tannenzweige, damit mein Herrmann im Winter gut bedeckt ist.

„Ich finde nicht richtig, was wir hier machen!“, meldete sich Luise. „Das sind Wünsche, die nicht für uns bestimmt sind. Die hier, das könnte die alte Gruber sein. Ihr Mann ist doch schon lange tot und sie kümmert sich immer um sein Grab. Dabei sieht sie doch fast nichts mehr. Wir sollten das nicht lesen.“ Entschlossen nahm sie Christian den Zettel aus der Hand.

„Ich habe eine andere Idee.“ Michael machte den Deckel zu und griff nach dem Zettel in Luises Hand. „Wir erfüllen der Gruberin ihren Wunsch. Tannenzweige finden wir doch genug im Wald. Und dann könnten wir sie auch gleich aufs Grab legen.“ Er steckte den Zettel in seine Hosentasche, stand auf und klopfte sich die Hose ab. „Es wird dunkel. Wir sollten nach Hause gehen.“

Die anderen beiden nickten und folgten ihm über den Kirchhof. Nur Christian blickte immer wieder zweifelnd zurück.

---

Der große Baum warf lange Schatten auf den Hof. Die Zweige ächzten, und irgendwo rief ein Käuzchen. Christian atmete tief ein und ging dann zügig weiter. Er brauchte einfach nur auf die Laterne zu schauen. Nur noch fünf Schritte, höchstens sieben, dann hätte er den Schuppen erreicht. Warum hatte er auch vorhin nicht einfach zugeben können, dass er die Wunschidee eigentlich gar nicht so schlecht fand? Dann wäre ihm dieser Ausflug im Dunkeln erspart geblieben.

„Guten Abend!“

Mit einem Aufschrei sprang Christian zur Seite. Dann atmete er erleichtert auf. Auf der Bank unter dem Baum saß eine Frau. Er kannte sie und wusste doch nicht, wie sie hieß. Sie nannten sie die Baumfrau, da sie in den letzten Monaten fast immer auf der Bank zu sitzen schien. Jetzt erhob sie sich lächelnd, nickte noch einmal zu ihm herüber.

„Du solltest auch bald nach Hause gehen. Es ist schon spät!“ Sie lächelte und schien zu überlegen, ob sie noch etwas sagen sollte. Doch dann steckte sie die Hände in die Manteltaschen, die merkwürdig ausgebeult wirkten, drehte sich um und ging davon.

Christian wartete, bis sie durch das Hoftor verschwunden war. Dann rannte er zum Schuppen, nestelte das kleine Blatt aus seiner Hosentasche und hob den Deckel. Der Koffer war leer.

---

Ein paar Tage später legte der Vater ein Päckchen vor Luise auf den Frühstückstisch und setzte sich mit der Zeitung auf seinen Stuhl. In ordentlicher Schrift stand „Luise“ auf dem Packpapier. „Weißt du, was das zu bedeuten hat?“

„Vielleicht hat der Nikolaus gestern noch ein Geschenk vergessen“, kam Michael seiner Schwester zur Hilfe.

„Oder ein Engel hat es zu uns gebracht.“ Die Mutter zwinkerte ihrer Tochter zu.

Luise schluckte. Wusste ihre Mutter Bescheid? Vorsichtig befingerte sie das Päckchen. Könnte es sein ...?

„Darf ich aufstehen?“

„Und ich auch?“

Die Geschwister gingen ins Kinderzimmer. Sorgfältig wickelte Luise ihr Geschenk aus. Zum Vorschein kam das schönste Schnitzmesser, das sie jemals gesehen hatte.

„Oh, ist das toll! Wunderschön!“ Ehrfürchtig strich Luise über den Knauf und die fein gearbeitete Ledertasche. „Dann war es ja gut, dass ich unsere Adresse dazu geschrieben habe.“

Michael nickte. „So hast du es dem Engel leichter gemacht.“

„Was hast du dir eigentlich gewünscht?“, fragte Luise ihren Bruder.

Michael lächelte verträumt und sah das Messer an. „Mein Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen.“

Geschichten aus dem Koffer

Подняться наверх