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9. Dezember: Lebenspläne (J&E)

Rebecca saß in ihrem Auto und schaute auf das Haus gegenüber. Sie kannte jeden Millimeter dieses Gebäudes, jeden kleinen Riss im Putz, jede Ecke, jede Fuge. Sie hatte hier die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens gewohnt, gelebt, gegessen, geschlafen, Hausaufgaben gemacht, mit ihren Freundinnen gespielt. Und auch das eine oder andere Mal mit ihren Eltern gestritten.

Die junge Frau schloss die Augen. Nun war sie fast dreißig Jahre alt, und in den Jahren nach ihrem Auszug war sie nicht oft hier gewesen. Das letzte Mal war – sie wusste es gar nicht mehr so genau – sieben Jahre her. Oder waren es sogar schon acht? Oder doch neun? Eigentlich war es unwichtig.

Erinnerungen zogen in ihr auf. Ein Streit mit ihrem Vater wegen einer Freundin, die ihr Vater nicht hatte leiden können. Oder ein Konflikt mit ihrer Mutter, die einfach nicht verstehen wollte, dass Rebecca kein kleines Kind mehr war und deshalb am Wochenende nicht ständig kontrolliert werden wollte. Andere Eltern taten das doch auch nicht! Und mit Sechzehn oder Siebzehn ist man sehr wohl in der Lage, selbst zu entscheiden, wo man hingeht. Und wann man nach Hause kommt.

Rebecca hatten die permanenten Versuche ihrer Eltern, über ihr Leben zu entscheiden, wahnsinnig gemacht. Sie hatte es schon als kleines Kind nicht leiden können, wenn ihre Mutter etwas beschloss, was Rebecca nicht wollte. Gut, natürlich ging es hier nicht um den ersehnten Eisbecher oder ein Paar Schuhe, sondern um wichtigere Dinge...

Tief einatmend lehnte sich die junge Frau in ihrem Fahrersitz zurück. Eigentlich wusste sie nicht mehr alle Details aus ihrer Kindheit, was damals wirklich echte Gründe für Streitigkeiten waren. Bis auf die Sache mit Elisa, ihrer Freundin. Die Freundin, die ihre Eltern nicht mochten. Elisa war cool, cooler als die anderen Mädchen. Sie waren dreizehn Jahre alt gewesen, und Elisa hatte schon einen Freund. Und sie rauchte. Eigentlich fand Rebecca das Rauchen ziemlich dumm, wie eigentlich alle anderen auch, aber dass Elisa sich das traute, das war der Punkt gewesen. Elisa scherte sich nicht um das, war ihr gesagt wurde. Sie machte ihr Ding. Und sie war ja trotzdem auch nicht unhöflich. Sie grüßte und machte ihre Hausaufgaben und störte den Unterricht nicht. Weshalb also diese ständigen Gespräche, in denen ihre Eltern ihr klarmachen wollten: Elisa ist keine gute Freundin für dich!

Natürlich hatten sie sich weiter getroffen, und schließlich hatte auch Rebecca geraucht. Heimlich. So heimlich, dass es bis auf Elisa niemand wusste. Und eigentlich fand sie es ekelhaft. Aber aus Prinzip war es ihr wichtig. Sie entschied! Das hatte sie von Elisa gelernt.

Ihre Eltern hatten sie dann stets genervt, sie möge lernen für die Schule. Es sei ihre Zukunft. Und Rebecca hatte mit fünfzehn und sechzehn überaus gereizt reagiert. Hielten ihre Eltern sie für dumm? Vor ihrem geistigen Auge entstand eine Situation, wie sie nur allzu häufig vorgekommen war. Ihre Mutter, die sie daran erinnerte, dass sie vor dem Treffen mit ihrer Clique erst einmal die Hausaufgaben machen solle. Als ob sie eine schlechte Schülerin gewesen wäre! Im Gegenteil, sie lag immer im vorderen Drittel der Klasse. Auch beim Übergang auf die gymnasiale Oberstufe war sehr schnell klar: Das Abitur war nie in Gefahr. Es war einfach nur die Frage, mit welcher Note Rebecca bestehen würde.

Rückwirkend betrachtet konnte die junge Frau natürlich verstehen, dass ihre Eltern nur das Beste für sie gewollt hatten, aber in ihrer Erinnerung war alles derart penetrant geschehen, dass sie sich eingeengt gefühlt hatte. Sie hatte Lust zu reisen, Leute zu treffen, ins Ausland zu gehen. Und sie hatte keine Lust auf ihr Zuhause, auf ihre nervenden Eltern.

Was Rebecca immer irritiert hatte, war, dass ihre Freundinnen ihre Eltern eigentlich recht nett fanden. Selbst Elisa, obwohl sie ja von ihnen abgelehnt wurde. Rebecca hatte dann stets die Augen gerollt und gesagt: „Wir können ja mal tauschen!“ Dann hatten alle gelacht, und ihre Eltern waren vergessen. Nur Elisa hatte noch traurig und sehr ernst hinzugefügt: „Das willst Du nicht.“ Aber, und das stand fest, das Nerv-Potential ihrer Mutter und ihres Vaters hatten ihre Freundinnen ja nie persönlich erlebt. Rebecca war in jener Zeit zu der Überzeugung gelangt, nach dem Abitur so schnell wie möglich das elterliche Haus zu verlassen.

Sie hatte ein gutes Abitur gemacht, kein glänzendes, aber ein gutes. Ihre Eltern hatten eine kleine Feier veranstaltet, und auch wenn die Note niemals erwähnt wurde, so war Rebecca sicher, dass sie ihre Eltern eigentlich enttäuscht hatte. Doch dann bot sich diese einzigartige Chance eines Auslandsjahres, eine Ausbildung, gekoppelt mit der Möglichkeit eines späteren Studiums. Wieder war es Elisa gewesen, die ihr den Tipp gegeben hatte.

Zu Rebeccas Erstaunen hatten ihre Eltern dem Vorhaben sofort zugestimmt. Kein Meckern, dass es zu teuer sei. Nein, viel besser, ihre Eltern boten ihr eine monatliche Unterstützung, die sie in dieser Höhe niemals erwartet hatte. Sie war frei! Frei zu entscheiden, und sie nutzte ihre Chance!

Sie und Elisa gingen ins Ausland, wohnten zunächst zusammen. Die Ausbildung machte Rebecca Spaß, und schon nach einem halben Jahr bot ihr die Firma, für die sie arbeitete, eine duale Fortbildung an. Sie konnte arbeiten und studieren! Rebeccas und Elisas Lebenswege trennten sich nach einiger Zeit, absolut freundschaftlich. Rebecca arbeitete und lernte, und Elisa fand nach der Ausbildung in einer anderen Stadt eine Stelle, die ihr gefiel. Da war nicht viel Zeit für die Freundschaft.

Rebecca konnte nun auch reisen, nicht nur zu wunderschönen Urlaubszielen, sondern auch beruflich. Sie war gut, sie war erfolgreich. Sie ging auf Partys, sie lernte interessante Leute kennen, und wenn Menschen sie langweilten, dann lernte sie neue Leute kennen. Längst war sie nicht mehr auf das Geld ihrer Eltern angewiesen, hatte ihnen mitgeteilt, sie könnten die Zahlungen einstellen, was ihre Eltern erst nach mehrfacher Aufforderung auch wirklich taten.

Und überhaupt, das Beste an der ganzen Sache war, dass ihre Eltern sie nicht mehr nerven konnten. Man telefonierte miteinander, und Rebecca spürte von Jahr zu Jahr, wie weit sie mittlerweile eigentlich von ihrem Elternhaus entfernt war. Es war einfach nur der Ort, an dem sie früher gelebt hatte. Es war auch nicht so, dass sie ungerne mit ihren Eltern telefonierte, aber irgendwie hatte man sich nichts zu sagen. Ihre Eltern lebten seit Ewigkeiten in ebendiesem Haus. Und sie, sie zog regelmäßig um, bekam in ihrem Job immer wieder eine neue berufliche Aufgabe in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Längst hatte sie auch ihr Studium beendet, war trotz ihrer jungen Jahre schon mit einer beeindruckenden Karriere versehen. Die Türen standen ihr offen. Headhunter umschwirrten sie. Und nicht nur Headhunter.

Sie hatte viele Freunde, sie kannte viele Menschen, und sie hatte auch keine Probleme, wenn sie Lust auf etwas Intimeres hatte. Allerdings schätzte sie es auch, den Abstand wahren zu können, Distanz zu halten. Ihre Eltern hingegen, die waren schon weit über dreißig Jahre verheiratet. Das wäre nie etwas für sie, davon war Rebecca fest überzeugt.

Als sie noch mehr oder wenig abhängig vom Geld ihrer Eltern gewesen war, hatte sie sie ab und zu besucht. Pflichtbesuche, hatte sie dann immer zu Elisa gesagt, und Elisa hatte immer etwas merkwürdig reagiert. Elisa hatte sich noch viel schlechter mit ihren Eltern verstanden, hatte die Verbindung radikal abgebrochen, als sie es sich finanziell leisten konnte. Warum reagierte Elisa so seltsam, wenn Rebecca ihr sagte, dass sie keine Lust auf ihre Eltern hatte?

Letztendlich war die junge Frau froh gewesen, als auch die Anrufe ihrer Eltern seltener wurden. Mittlerweile telefonierten sie alle paar Monate, und es war zu Rebeccas Routine geworden, ihren Eltern stets ihre neue Adresse mitzuteilen, wenn sie an eine andere Stelle versetzt worden war. Immer bekam sie dann in den nächsten Tagen einen Blumenstrauß zugestellt oder Konfekt, mit Grüßen von ihren Eltern. Irgendwie, dem konnte sich selbst Rebecca nicht entziehen, war das schon ein wenig rührend. Eine merkwürdige Konstante in ihrem Leben, und als einmal das Geschenk für mehrere Wochen ausblieb, war sie regelrecht verärgert. Und dann war dann plötzlich doch ein Blumenstrauß da, und sie bekam mit, dass sie ihren Eltern versehentlich eine falsche Adresse übermittelt hatte. Und so war das Geschenk ins Leere gelaufen, bis ihre Eltern aus eigener Kraft ihre Adresse herausfanden. Sie hatten sie nicht einmal gefragt.

Rebecca hatte viel zu tun, war ständig beschäftigt, hatte nur wenig Zeit, über Belangloses nachzudenken. Sie liebte ihren Job, liebte ihr Leben. Es ging ihr gut, und sie vermisste nichts.

Und dann kam die Nachricht, dass sie für ein Projekt nach Deutschland versetzt würde. Und dann auch noch in ihre Heimatstadt. Im nächsten Jahr würde sie für sechs Monate dort sein. Sie hatte lange gezögert, dies ihren Eltern mitzuteilen. Sie wäre nur einige Kilometer von ihnen entfernt, und sie hatte kein gutes Gefühl. Würde ihre Mutter ihr wieder erklären, wie sie sich zu verhalten hätte? Würde ihr Vater ihr wieder erläutern, dass es nicht gut sei, wenn sie unausgeschlafen in die Schule ging? Oder jetzt zur Arbeit? Es war nichts Bestimmtes, was Rebecca beschäftigte, es war einfach ein allgemeines Unwohlsein. Sie war eine erfolgreiche Frau, aber bei ihren Eltern, das fühlte sie, würde sie wieder zu einem hilflosen, dummen Kind mutieren. Bei Menschen, die sie kaum noch kannte.

Am Ende hatte sie ihren Eltern doch eine Email geschrieben, dass sie zum Jahresende nach Deutschland ziehen würde, und am nächsten Tag hatte ihr Vater sie angerufen und gefragt, ob sie etwas dagegen haben würde, Weihnachten mit ihnen zu verbringen. Und bei ihnen zu übernachten.

Weihnachten! Das war in ihrer Familie immer eine ziemlich große Sache gewesen, und solange ihre vielen größeren Cousins und Cousinen noch dabei gewesen waren, war das alles ganz nett gewesen. Aber als sie selbst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, war sie als letztes Kind im Kreise der Erwachsenen verblieben, und nie hatte sie derartig langweilige Feiern erlebt. Dieses gezwungene Sitzen unter dem Weihnachtsbaum. Und vorher das nervige Schmücken. Das aufgesetzte „Frohe Weihnachten!“ Der scheinheilige Gang zur Kirche, mehr deshalb, weil man das halt so machte, nicht aber, weil man das auch wirklich tun wollte. Und Rebecca hatte sich dann erkämpft, mit Elisa und anderen Freunden und Freundinnen zu feiern. Auch das hatte natürlich einen Riesenstreit gegeben, und Rebecca hatte vor lauter Wut sogar ihren Vater geschubst. Es war das einzige Mal, dass sie handgreiflich geworden war, und nie hatten ihre Eltern sie jemals geschlagen, aber Rebecca war sich sicher, dass diese Situation das endgültige Zeichen gewesen war, dass ein längeres Zusammenleben einfach nicht mehr ging.

Wie gut, dass die Trennung so positiv verlaufen war. Und so vollkommen schmerzlos.

Aber nun saß sie in ihrem Auto und starrte auf das Haus. „Ihr“ Haus. Sie sah sich selbst durch den Garten springen, mit dem alten Hund ihrer Mutter spielen, als sie noch ganz klein gewesen war. Wie hatte er geheißen? Max? Sie wusste es nicht mehr genau, aber es war ein ziemlich großer schwarzer Hund gewesen. Oder braun? Auf jeden Fall aber war er sehr gutmütig gewesen, denn sie hatte ständig in sein Fell gegriffen, und der Hund hatte nie geklagt, sondern ihre Hände schwanzwedelnd abgeschleckt.

Sie sah die Straßenlaterne vor dem Haus und erinnerte sich daran, dass sie einmal beim Fahrradfahren mehr nach hinten zu einem Schulfreund geschaut hatte als nach vorne auf den Weg. Und so war sie ungebremst in die Laterne gefahren. Das Rad war vollkommen verbogen, und sie hatte sich einen Arm gebrochen. Ihre Mutter hatte mit ihr geschimpft, dass sie mehr aufpassen solle, und ihr Vater hatte ihr ein neues Rad gekauft ...

Rebecca musste schlucken. Daran hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Sie hatte einfach ein neues Rad bekommen.

Die junge Frau schaute auf das Geschenk neben ihr. Was schenkte man einem Paar, das seit gefühlten Ewigkeiten zusammen am selben Ort wohnte? Sie hatte sich entschieden, ihren Eltern ein Bild zu malen. Seit einigen Jahren malte sie zum Zeitvertreib, wenn sie mal ein wenig Freizeit hatte. Sie mochte das Spielen mit den Farben und mit verschiedenen Techniken, liebte das Abstrakte, das Gestalten mit Formen jedweder Art. Sie hatte ein Bild ausgewählt, das sie sehr mochte, mit Dreiecken und Quadraten, sehr geometrisch, in rötlichen und orangenen Tönen gehalten, die in sanftes Braun am Rand verliefen. Im Prinzip wirkte es wie ein wunderschöner Sonnenuntergang an einem Sandstrand, und soweit sie das Wohnzimmer ihrer Eltern noch in Erinnerung hatte, würde es dort gut hineinpassen. Sofern ihre Eltern, die bestimmt nichts verändert hatten, den Mut dazu aufbrachten.

Wovor hatte sie nun also Angst? Ihre Eltern waren doch keine Monster! Oder war es die Angst vor der Sprachlosigkeit? Vor dem Nicht-Wissen, was man sagen sollte? Was man sich überhaupt zu sagen hatte? Rebecca biss die Zähne zusammen, stieg aus, strich ihren Rock zurecht, zupfte an ihrem Jäckchen, kontrollierte ihre hohen Schuhe. Alles war in bester Ordnung. Sie zog das Bild vom Beifahrersitz, hängte ihre Handtasche in die Armbeuge, holte die kleine Reisetasche vom Rücksitz, verschloss das Auto, atmete noch einmal tief durch und ging dann entschlossen über die Straße.

Sie musste nicht klingeln. Die Gartenpforte summte, sie trat hindurch – und fühlte sich wie in eine Zeitkapsel versetzt. Die Rosenbeete, die ihr Vater so sehr pflegte, sie waren immer noch da. Es schienen teilweise andere Rosenstöcke zu sein, auch andere Rosenarten, aber ihr Vater zog sie immer noch. Der kleine Kiesweg, der um das Haus herum in den hinteren Bereich des Gartens führte, war wie immer penibel gepflegt und sauber wie eh und je. Was hatte sie ihre Eltern in den Wahnsinn getrieben, wenn sie die kleinen Kiesel heimlich einsammelte und zum Spielen auf die Straße oder zu Freunden schleppte!

Auch der Baum, an dem ihre Schaukel gehangen hatte, war noch da. Natürlich war da längst keine Schaukel mehr. Die hatte ihr Vater schon abgehangen, als sie noch zu Hause gewohnt hatte. Aber am Ast waren immer noch die Einkerbungen zu sehen, wo einst die Seile tief in das Holz geschnitten hatten.

Rebecca war eigenartig zumute. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Auch nicht, als sie die letzten Male hier gewesen war. Aber das waren ja eben Pflichtbesuche gewesen. Nicht dass ihre Eltern sie hierher befohlen hätten, weil sie ihre Ausbildung, ihr Studium mit bezahlten. Aber dennoch war es für Rebecca eine Art Pflicht gewesen. Nun aber war sie aus freien Stücken hier ...

Warum eigentlich?

Sie hatte darüber nachgedacht. Weil sie ihre Eltern sehen wollte? Eher nicht. Oder doch? Oder weil sie sich doch irgendwie verpflichtet sah? Eher auch das nicht.

„Rebecca?“ Die Stimme ihres Vaters drang an ihr Ohr.

Sie hatte nicht bemerkt, dass sie stehengeblieben war und auf den kleinen Teich zu ihrer Rechten starrte. Der war neu, der war damals nicht hier gewesen. Und sie sah auch eine kleine Steinbank, die sie nicht kannte. Und dass der Putz erst vor kurzem erneuert worden war. Nichts war es mit all den Rissen, die sie noch gekannt hatte.

Im Eingang stand ihr Vater auf der kleinen Treppe und blickte auf sie herab. Seine Haare waren etwas weißer und etwas dünner geworden, aber eigentlich hatte er sich nicht wirklich verändert. Natürlich trug er eine dunkle Hose, ein Hemd mit Manschetten und eine Krawatte. Wie immer zu Weihnachten. Oder zu anderen wichtigen Anlässen.

Und nun trat auch ihre Mutter in die Eingangstür, während ihr Vater etwas zur Seite rückte. Sie hatte sich für einen Hosenanzug entschieden, den Rebecca nicht kannte. Er stand, so musste die junge Frau anerkennen, ihrer Mutter ausgezeichnet.

„Möchtest du hereinkommen?“, fragte ihr Vater vorsichtig und versuchte ein etwas hilfloses Lächeln.

Die junge Frau bemerkte erst jetzt, dass sie ihre Eltern mit offenem Mund anstarrte. Es war, als ob sie sie noch nie gesehen hatte. Ja, sie waren etwas älter geworden, aber ihr war nie bewusst gewesen, wie attraktiv die beiden eigentlich als Paar wirkten. Wären sie nicht ihre Eltern, dann ... Ja, was eigentlich „dann“? Ihre Eltern, sie wirkten auf sie so fremd. Und doch irgendwie auch vertraut. Es grummelte in ihrem Magen.

„Natürlich“, schluckte Rebecca schließlich, stieg die Treppe empor und stand vor ihrer Mutter, die Handtasche in der linken Armbeuge, in der Hand die kleine Reisetasche, das etwas sperrige Geschenk unter dem rechten Arm. Und was nun? Wie begrüßt man Eltern, denen man eigentlich nichts zu sagen hat?

Die großen hellblauen Augen ihrer Mutter blickten sie an, und es war wie eine Ewigkeit, bis ihre Mutter ihr vorsichtig über den Arm strich. Auch ihr Vater wusste offenbar nicht, wie er seine Tochter begrüßen sollte, und so traten sie erst einmal in den Flur.

Rebecca erstarrte. Wohl erkannte sie noch das Haus, aber ansonsten war alles anders. Neue Möbel waren hier, eine neue Lampe, selbst das Treppengeländer in den oberen Stock war neu. Und als sie das Wohnzimmer betrat, fand sie auf Anhieb keinen einzigen Einrichtungsgegenstand, an den sie sich noch erinnern konnte.

„Ihr ... habt euch neu eingerichtet?“ Ihr Hals zog sich zusammen. Es war geschmackvoll. Es war hell und gekonnt. Es gefiel ihr sogar. Es war besser als die Möbel, die sie noch in Erinnerung hatte. Und doch war ihr für einen winzigen Moment so, als ob sie eine leichte Trauer empfand, dass nichts so war wie früher. Selbst der große Weihnachtsbaum stand in einer anderen Ecke als früher.

„Ja“, antwortete ihre Mutter. „Vor vier Jahren haben wir das endlich gemacht. Das wollten wir immer schon, aber irgendwie sind wir nie dazu gekommen. Gefällt es dir?“

„Das ist sehr schön.“ Rebecca bemerkte kaum, dass ihr Vater ihr das Geschenk abnahm und unter den Weihnachtsbaum legte. Denn sie hatte etwas entdeckt, das sie doch kannte. Fotos von ihr selbst. Sie standen auf einem kleinen Board zwischen den beiden großen Glastüren, die auf die Terrasse führten, und sie kannte sie alle. Sie als Baby, als Kleinkind im Kinderwagen, bei der Einschulung ... Ein Bild von ihrer Abiturfeier war ebenfalls da. Und auch ein ganz aktuelles Foto aus ihrem letzten Urlaub, das sie ihren Eltern vom Telefon aus zugeschickt hatte. Es zeigte sie vor einem Brunnen. Sie hatte ein knappes, luftiges Oberteil an und einen fast durchsichtigen leichten Sommerrock. Eine Kellnerin hatte das Foto gemacht, und sie mochte es sehr. Irgendwie berührte es sie, dass ihre Eltern es ausgedruckt und aufgestellt hatten.

„Das ist ein wunderschönes Foto, Rebecca“, sagte ihre Mutter neben ihr. Von irgendwoher hatte sie ein Glas gezaubert. „Einen Sherry? Du hast uns geschrieben, dass du Sherry magst? Wollen wir anstoßen?“

„Äh, ja.“ Rebecca griff nach dem Glas und blickte sich um. „Wer kommt denn noch?“

„Niemand“, gab ihr Vater zurück. „Wir wissen doch, dass dich die großen Runden mit allen alten Verwandten nie begeistert haben. Ich hoffe, du bist einverstanden, wenn wir nur zu dritt sind?“

„Natürlich.“ Was sollte sie auch sagen? Sie wusste ja selbst nicht, was sie sich eigentlich wünschte. Nervös nahm sie einen Schluck. Der Sherry war ausgezeichnet.

„Auf dich, Rebecca.“ Ihr Vater hob sein Glas und lächelte ihr zu. Es war ein schönes Lächeln. Ein stolzes Lächeln. Und da war noch etwas ... Etwas, das Rebecca ins Herz traf, ohne dass sie zunächst wusste, was es war.

„Auf dich.“ Die Augen ihrer Mutter waren feucht, aber auch sie lächelte.

Rebecca war plötzlich wieder klein. Sie sah sich heimlich im Flur herumschleichen, während ihre Eltern die Geschenke einpackten. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie getröstet hatte, als sie die Treppe hinuntergestürzt war. Sie erinnerte sich daran, wie sie unglücklich verliebt gewesen war und wie ihre Mutter sie in ihren Armen gehalten hatte. Sie erinnerte sich an den Duft der Bettwäsche, an den angenehmen Geruch von Mandelöl, das immer im Badezimmer bereitstand. Sie sah sich stolz mit ihrer Schultasche in der Haustür stehen, bereit für die Einschulung. So viele wunderschöne Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf, längst vergessen geglaubte Erinnerungen, die so ewig von diesen längst völlig nichtigen Problemen, wann man als Teenager zu Hause zu sein hatte, überlagert worden waren. Wieso hatte sie all das Schöne vergessen? Wieso hatte sie sich so in diese Ablehnung verbissen? War das eine Notwendigkeit der Abnabelung? Vielleicht war es so. Aber jetzt, nach fast einem Dutzend Jahren?

Und sie erinnerte sich an den letzten Blick ihres Vaters, als sie ausgezogen war. Als er ihr hinterherblickte und ihr zuwinkte, als sie endgültig das Haus verlassen hatte. Es war der gleiche Blick, wie sie ihn jetzt sah. Nie hatte sie darüber nachgedacht, was das für ein Blick war. Doch jetzt, in diesem Moment, da war ihr alles klar.

Sie sah, wie ihre Eltern sich an den Händen hielten, vereint wie immer. Wie sie unsicher zu ihr schauten, auch nicht wussten, was sie sagen, was sie tun sollten.

Gott, dachte Rebecca, was bin ich dumm, was bin ich blind! Ja, ich lebe anders als meine Eltern, und ich will das auch so. Aber hier, hier finde ich bedingungslose Liebe. Einfach weil ich ich bin! Egal wann. Egal wie ich mich aufführe. Hier bin ich immer willkommen! Ohne jede Vorbedingung. Und ich war zu blind, das zu erkennen. Elisa aber, sie hatte das schon damals bemerkt und mich darum still beneidet. Niemals werde ich wieder so viel Zeit vergehen lassen.

Tränen des Glücks schossen ihr in die Augen. Sie stellte ihr Glas ab, ging auf ihre Eltern zu und konnte nicht anders, als sie zu umarmen. Und es war ein so herrliches Gefühl, bei ihnen zu sein. Es würde ein wunderschönes Weihnachtsfest werden. Und sie würden sich alle ganz, ganz viel erzählen, weil es so viel zu erzählen gab. Das stand jetzt schon fest.

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