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Was ist Bibelwissenschaft?

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Wissenschaftlichkeit

Die hier vorgestellte Vorgehensweise hat den Anspruch, wissenschaftlich zu sein. Die Wissenschaftlichkeit zeigt sich in der methodengeleiteten Arbeitsweise, die intersubjektiv nachvollziehbare Ergebnisse erreicht und anschlussfähig für andere Wissenschaften ist.

Methodengeleitet

Ausgangspunkt ist erstens die methodengeleitete Arbeitsweise. Auch wenn Intuition für Forschung und Wissenschaft durchaus hilfreich sein kann und bei einem ersten Zugang auf den Text Intuition oder Bauchgefühl nicht unterdrückt, sondern gerne wahrgenommen werden soll, so kann doch eine seriöse Exegese nicht bei dem stehenbleiben, was einer Leserin oder einem Leser spontan einfällt. Gegenüber den möglicherweise unbewussten oder interessegeleiteten Assoziationen der Leserschaft sollen die vorgezeichneten Analyse- und Syntheseschritte den Text selbst zur Geltung bringen. Im Verlauf der Arbeit können dann erste intuitive Vermutungen bestätigt oder auch widerlegt werden.

Intersubjektiv

Der methodengeleitete Prozess soll zweitens dazu führen, dass die mit anerkannten und bewährten Methoden durchgeführten Beobachtungen zu intersubjektiv nachvollziehbaren Ergebnissen kommen. Intersubjektiv bedeutet, dass mehrere Personen die vorgelegten Beobachtungen und Schlussfolgerungen gleichermaßen erkennen und nachvollziehen können. Keineswegs müssen alle zur gleichen Sichtweise des Textes gelangen, doch die jeweiligen Argumente, die für die eine oder andere Interpretation sprechen, müssen im ergebnisoffenen Diskurs im Austausch einer Gemeinschaft verständlich und gewichtbar sein. Auch das will die methodische Arbeit sichern.

Stichwort

Exegetisch argumentieren

Eine Herausforderung beim exegetischen Argumentieren ist es, den Bibeltext nicht selbst zum Argument zu machen. Wörtliche Zitate aus dem Text sind keine Argumente für eine Behauptung, denn damit setzt man voraus, dass andere Leserinnen und Leser den Text in genau gleicher Weise lesen wie man selbst. Genau diese eigene Leseweise soll aber doch mit Argumenten begründet werden. Textzitate können somit nicht als Beweis, sondern allenfalls als Veranschaulichung des ausformulierten Arguments dienen.

Man muss stattdessen nachvollziehbar herausstellen, warum man zu einer bestimmten Leseweise kommt. Deswegen abstrahieren die exegetischen Methoden vom Text selbst und nutzen abstrakte Fachbegriffe, um die Wirkung eines Textes auf Leser zu beschreiben. Diese Argumente sind dann nachvollziehbar, wenn sie einer akzeptablen Schlussregel folgen. Schlussregeln sind die impliziten Annahmen, warum ein Argument überhaupt gültig ist. Am ehesten wird das an einem Beispiel deutlich.

Wie man nicht exegetisch argumentiert:

[Behauptung] Zwischen Gen 18,33 und Gen 19,1 gibt es einen Ortswechsel:

[Argument] „33[…] Abraham aber kehrte an seinen Ort zurück. 19,1Und die zwei Boten kamen am Abend nach Sodom […]“ (ZB)

Die Schlussregel wäre hier lediglich die Behauptung „Das steht so da“. Worin der Ortswechsel besteht, wird nicht explizit gemacht.

Wie es besser geht:

[Behauptung] Zwischen Gen 18,33 und Gen 19,1 gibt es einen Ortswechsel, [Argument] weil Abraham eine Bewegung aus dem Ort der Erzählung heraus vornimmt (18,33) und mit Sodom in 19,1 ein neuer Ort genannt wird.

Die Schlussregel ist nun besser nachvollziehbar: Wenn jemand sich bewegt und neue Ortsnamen genannt werden, dann liegt ein Ortswechsel vor.

Anschlussfähig

Schließlich ist die Bibelwissenschaft drittens Disziplin einer anerkannten Wissenschaft, der Theologie, und damit zum einen anschlussfähig an weitere Disziplinen (Fächer) der Theologie und zum anderen verknüpfbar mit vielen anderen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Der interdisziplinären Kooperation sind nahezu keine Grenzen gesetzt: Sprach- und Literaturwissenschaft, Kultur-, Geschichts- und Altertumswissenschaften, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, Archäologie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft u.v.m.

Stichwort

Bibelwissenschaft

methodengeleitet nicht rein intuitiv oder assoziativ (Was mir gerade einfällt …)
intersubjektiv nachvollziehbare Argumentation kein Rückzug auf spirituelle Erfahrungen oder von außen definierte Sätze
anschlussfähig an andere Disziplinen und Wissenschaften kein abgeschotteter Sonderweg, der nur einem Zirkel von Eingeweihten zugänglich wäre

Der besondere Gegenstand „Bibel“

An sich – und auch das ist Zeichen der Wissenschaftlichkeit – sind die angewandten Methoden gegenstandsneutral: Die meisten Vorgehensweisen funktionieren auch mit anderen Texten; die Bibel wird behandelt wie jeder andere Text auch. Was die Bibelwissenschaft zur Disziplin der Theologie macht, ist ihr Untersuchungsgegenstand: Auch unter historischer Perspektive war und ist die BibelW nie nur ein aus der Antike überkommener Textkorpus (wie etwa das Gilgameschepos oder die mittelassyrischen Gesetze). Vielmehr haben mindestens zwei Glaubensgemeinschaften bzw. Religionen, das Judentum und das Christentum, diese Texte immer auch als Anspruch für ihre jeweilige Gegenwart gelesen und aufgefasst – und das tun sie bis heute. Die besondere Rolle, die der Bibel in den jeweiligen Religionsgemeinschaften zugewiesen wurde und wird, gehört konstitutiv mit zu diesem Untersuchungsgegenstand und kann daher bei der wissenschaftlichen Analyse nicht außen vor gelassen werden. Auch beim Blick auf einzelne Texte ist nicht zu vernachlässigen, dass diese die längste Zeit ihrer Existenz innerhalb eines Textkorpus überliefert wurden (und werden), das für die Angehörigen von Judentum und Christentum einen identitätsstiftenden und normativen Charakter hat. Dies stellt für die methodisch-wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes keine Einschränkung dar (als dürfe man bei der Bibel, weil sie „Heilige Schrift“ sei, bestimmte Methoden nicht anwenden), sondern eine Erweiterung des Blickfeldes auf die Überlieferung und Rezeption des Textes.

Bibel = Kanonausprägung

Dabei wird man feststellen, dass Bibel nicht gleich Bibel ist. Obwohl Judentum und Christentum den Grundgedanken des KanonsW (→ S. 149) als abgeschlossenes Arrangement heiliger Schriften mit autoritativem, normativem und identitätsstiftendem Charakter teilen, haben die Religionsgemeinschaften und in ihnen die jeweiligen Konfessionen und Denominationen unterschiedliche Ausprägungen dieses Kanons als Bibel: Die jüdische Bibel unterscheidet sich vom ersten Teil der christlichen Bibel in Umfang und Arrangement der Schriften. Die Konfessionen des Christentums lesen jeweils unterschiedlich umfangreiche Kanonausprägungen. Die SamaritanerW als sehr kleine Glaubensgemeinschaft verwenden nur die Tora (Pentateuch) als Heilige Schrift.

Stichwort

Kanon – Kanonausprägung = Bibel

Kanon für eine Auslegungs- und Glaubensgemeinschaft identitätsstiftende, autoritative und normative, da mit dem Gedanken der Offenbarung der Gottheit verbundene Sammlung von als heilig betrachteten Schriften von geschlossenem Umfang und fest definierter Abfolge
Kanonausprägung = Bibel die konkrete Ausprägung des Konzeptes „Kanon“ in einer konkreten Glaubensgemeinschaft (und damit der konkrete Untersuchungsgegenstand der Bibelwissenschaft)
Beispiele: jüdische Bibel christliche Bibeln auch: TaNaK/Tanach in der katholischen Tradition mit den deuterokanonischen Schriften, die aber in der protestantischen Tradition apokryphe Schriften (Spätschriften) genannt werden und der „Heiligen Schrift“ nicht zugerechnet werden; dazu das Neue Testament als zweiter Teil.
Samaritanischer Pentateuch Biblia Hebraica Heilige Schrift der Religionsgemeinschaft der Samaritaner (u.a. etwa 600 Personen in Nablus) der masoretische Text der Hebräischen Bibel in einer wissenschaftlichen Ausgabe
Septuaginta die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel und einige weitere jüdische Schriften in griechischer Sprache
Übersetzungen in moderne Sprachen diverse Angebote mit unterschiedlichen Orientierungen sowie verschiedener Zielsetzung und philologischer Ausrichtung

Eine bibelwissenschaftliche Auslegung muss stets angeben, welche Bibel (Kanonausprägung) sie zugrunde legt. Wissenschaftliche Exegese innerhalb der universitären Theologie geht normalerweise von den kritischen Texteditionen der so genannten „Urtexte“ in hebräischer und griechischer Sprache aus. Aus praktischen Gründen, am Anfang des Studiums und bei nicht (mehr) vorhandenen Sprachkenntnissen kann auch eine anerkannte und philologisch verantwortete Übersetzung (bzw. der Vergleich mehrerer solcher Übersetzungen) verwendet werden. Im deutschen Sprachraum sind dies (je nach Konfession) die Einheitsübersetzung bzw. die Lutherbibel (in der jeweils aktuellen Revision) sowie die stärker am Urtext orientierten Ausgaben der Elberfelder Bibel und der Zürcher Bibel.

Wissens-Check

1. Definieren Sie die Begriffe Text, Lesen bzw. Lektüre, Exegese, Interpretation und Methode im Hinblick auf gespeicherte Sprechhandlungen!

2. Welche Intentionen sowie am Produktions- und Interpretationsprozess beteiligte Personen unterscheidet man?

3. Wo liegt der sinnvolle Ausgangspunkt für einen methodischen Interpretationsvorgang? Begründen Sie diese Entscheidung!

4. Entwickeln Sie die logische Abfolge der Methodenschritte!

5. Was zeichnet die Bibelwissenschaft als Wissenschaft aus?

6. Nennen und erläutern Sie die Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes Bibel!

Methoden alttestamentlicher Exegese

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