Читать книгу Später Besuch - Thomas Hölscher - Страница 11
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ОглавлениеFür einen Augenblick hatte es so ausgesehen, als sei ihr Gespräch beendet. Aber dann hatte Bremminger plötzlich an seinen Vorsatz erinnert, nicht eher zu gehen, als bis er die ganze Wahrheit erfahren habe.
Diesen Vorsatz wiederholte er nun noch einmal und fügte hinzu, dass ihm auch als Hauptkommissar a.D. die ganze Sache durchaus nicht gleichgültig sein könne. Die amtlich Miene, die er dabei aufsetzte, ließ Börners Wut sofort verpuffen. Das war so typisch Bremminger! So kannte er ihn von früher. Eigentlich war Bremminger ein Mensch, der seine Ruhe haben wollte; und nur wenn die gefährdet war, hatte er den Vorgesetzten herausgekehrt. Und immer war das eine Rolle gewesen, die ihm niemand so recht abgenommen hatte. Bremminger hatte nach dem Krieg zunächst als Kellner gearbeitet, war dann ein kleiner Angestellter bei der Stadtverwaltung gewesen und schließlich zur Polizei gegangen, weil sie damals jeden gebraucht und genommen hatten, und anschließend hatte er sich hochgearbeitet. Wahrscheinlicher war allerdings noch, dass er jedesmal einfach so lange gewartet hatte, bis man gar nichts anders mehr hatte tun können, als ihn zu befördern.
Bremminger war so leicht zu durchschauen! Aber er hatte auch nie etwas unternommen, um das nicht zuzulassen, und diese Aufrichtigkeit im Umgang mit den eigenen Begrenztheiten und Unzlänglichkeiten hatte ihm bei den Kollegen den nötigen Respekt verschafft. Nun war ihm anzumerken, dass er nicht mehr ganz nüchtern war, und dieses völlig ungewohnte Bild brachte Börner plötzlich dazu, in seinem ehemaligen Chef - trotz allem was passiert war - auf keinen Fall einen Gegner zu sehen, den man vernichten musste. Eher einen alten Mann, der nur Mitleid und nicht Wut in ihm auslösen konnte.
"Entschuldige bitte die graue Eminenz!"
"Hab ich doch sowieso überhört", meinte Bremminger gönnerhaft.
Erleichtert nahm Börner ein paar Flaschen vom Tisch, brachte sie in die Küche und kehrte mit neuen zurück. Dann zog er die Jalousien ein wenig nach oben und kippte das Fenster. Es tat gut, als die kalte Nachtluft in das vom Zigarettenqualm überladene Zimmer strömte.
Als Börner sich wieder an den Tisch setzte und weiterreden wollte, unterbrach Bremminger ihn sofort. "So geht es nicht weiter", sagte er kurzerhand. "Mich interessiert jetzt nur noch der Fall Brenner. Die Fakten und sonst nichts." Anschließend versuchte er, das zu resümieren, was Börner gesagt hatte, und in seinen Worten klang es seltsam nüchtern und völlig unspektakulär: Börner sei damals in einer ziemlichen Krise gewesen, er habe mit seinem Schwulsein gar nicht umgehen können. Vor allem habe er sich selber nicht akzeptiert und statt dessen andere Männer angehimmelt.
Trotz einiger skeptischer Bedenken konnte Börner dieser Version letztlich zustimmen. In einem Punkt allerdings gab er Bremminger nur wenig später wiederum nicht recht: dass alles das unwichtig sei und mit dem Fall nichts zu tun habe.
"Womit wir wieder beim Thema wären!", sagte Bremminger, und plötzlich lachte er los. "Merkst du eigentlich gar nicht, dass du anscheinend nur über dich selber reden kannst? Du willst Fakten erzählen, und nach einem halben Satz redest du wieder über dich."
Börner nickte. "Du hast dich doch darauf einlassen wollen. Fakten waren damals für mich nur insofern wichtig, wie sie in mein Weltbild passten. Alles andere war mir egal." Noch einmal fasste er seine abstrusen Gedanken von den richtigen Männern zusammen, von der Art, wie er alles das auf das Verhältnis zwischen Brenner und Wels bezogen hatte. Wie am Schluss die durch nichts zu erschütternde Gewissheit aufgetaucht war, dass es da einen Unbekannten geben musste, einen richtigen Kerl eben, der für alles letztlich verantwortlich war. "Und als ich davon einmal überzeugt war, passte plötzlich alles noch so Belanglose in dieses Bild."
"Inwiefern?", fragte Bremminger.
"Nimm nur die Verhaftung von Wels", sagte Börner. "Du erinnerst dich doch bestimmt noch daran?"
Natürlich erinnerte sich Bremminger daran; denn dieses Ereignis war in der Tat mehr als ungewöhnlich gewesen. Noch am gleichen Tag, als das Fahndungsfoto von Wels in der Zeitung erschienen war, hatten sie am frühen Nachmittag einen anonymen Anruf erhalten: Wels war angeblich auf der Kirmes gesehen worden. Sie waren sofort dorthin gefahren und hatten Wels tatsächlich festnehmen können. Das Ungewöhnliche daran war, dass im Nachhinein kein Zweifel daran bestehen konnte, wer der anonyme Anrufer gewesen war. Obschon Wels beim anschließenden Verhör auch zu diesem Punkt geschwiegen hatte, gab es trotz aller fehlenden Logik keinen Zweifel: Wels selber hatte sie angerufen, um sich verhaften zu lassen.
Während in Bremmingers Gedächtnis nur noch dieses unerklärliche Verhalten von Wels geblieben war und Details schon längst gelöscht waren, lief der Nachmittag des 24.August 1984, eines Freitags, an Börner vorbei wie in einem Film.
Es war ein schwüler Augusttag gewesen, die Sonne hatte matt durch hohe milchige Wolken geschienen. Schon von weitem war der Lärm der Kirmes auf dem Wildenbruchplatz am Rand der Innenstadt zu hören gewesen, ein unförmiger, monotoner Lärm, der in den Ohren schmerzte.
Bremminger und er hatten den Platz vom Graskamp aus betreten, während Milewski und Hebemann ihren Wagen auf der gegenüberliegenden Augustastraße abgestellt hatten.
Es war einer der Tage gewesen, an denen das mal wieder zugeschlagen hatte, was er früher sein Käseglockensyndrom genannt hatte: Er sah seine Umwelt zwar, aber daran teilnehmen konnte und wollte er nicht. Die Bespannung einer riesigen Lautsprecherbox, die im Rhythmus der Baßtöne vibriert hatte, war ihm viel wichtiger vorgekommen als das wichtigtuerische Gehabe der Kollegen.
Natürlich hatten sie Wels schnell gefunden. Er hatte vor einer großen holländischen Drehorgel gestanden und völlig teilnahmslos auf einen kleinen Stand gestiert, an dem Kinder auf Ponies reiten konnten. Angetrieben von einem halbwüchsigen Jungen waren die Tiere langsam durch das enge Rund getrottet. Die Orgel hatte "Adieu, mein kleiner Gardeoffizier" gespielt, und er hatte leise die von vollen Akkorden getragene Melodie mitgesummt. Fasziniert hatte er auf die Fassade der Orgel gesehen, auf der sich vor überladenem Hintergrund bunte Figuren im Rhythmus der Musik mechanisch und ruckhaft bewegt hatten.
Genau so hatte er sich Wels vorgestellt. Seine Gesichtszüge waren weich gewesen, fließend, ein Eindruck, den seine offensichtliche Geistesabwesenheit noch verstärkt hatte. Er hatte ein T-Shirt getragen und Bluejeans, die Arme vor dem Körper verschränkt und mit der Schulter gegen die Orgel gelehnt. Ihn hatte die Frage interessiert, ob Wels Arme tatsächlich, wie es den Anschein hatte, völlig unbehaart waren oder ob die Sonne die hellblonden Haare unsichtbar machte.
Dann hatten sie Wels festgenommen, und der hatte auch nicht den geringsten Versuch unternommen, dagegen etwas zu unternehmen. Völlig apathisch war er neben Milewski zum Wagen gegangen. Sie hatten ihn - was eigentlich gegen die Vorschriften verstieß - ohne Handschellen zum Wagen geführt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und doch hatten letztlich immer mehr Menschen rechts und links des Weges gestanden und auf Milewski und Wels geblickt, und in ihren Gesichtern hatte Börner schließlich nur noch offenen Hohn und Sensationsgier gesehen. Seine Wut auf Milewski war kaum noch zu ertragen gewesen.
"Wieso warst du denn wütend auf Milewski?", fragte Bremminger überrascht. "Der hat doch nur seine Pflicht getan."
Börner grinste. "Natürlich, er hat nur seine Pflicht getan. Genau wie du, genau wie ich, genau wie der fette Hebemann. Aber erst durch Milewski bekam das alles einen Sinn."
"Du verlangst nicht, dass ich das verstehe?"
Börner wirkte plötzlich verlegen. "Sagen wir mal so: Hätte der dicke Hebemann den Wels abgeführt, wäre dem Gesetz sicherlich in gleicher Weise Genüge getan. Aber durch Milewski ..", er zögerte, und als er merkte, dass Bremminger etwas sagen wollte, fuhr er schnell fort. "Durch Milewski war einem ganz anderen Gesetz Genüge getan. Es passte plötzlich alles wieder in mein Männerbild. Es war wie ein Ritual und musste ganz genau so sein: Wels war das Opfer, und Milewski ..." Wieder zögerte er, und dann sah er Bremminger an. "Verstehst du es jetzt?"
"Nein", sagte Bremminger entschieden, und bevor diesmal Börner weiterreden konnte, fügte er schnell hinzu. "Vor allem kann ich immer weniger verstehen, wie man mit einem solchen Bild im Kopf überhaupt leben kann."
Börner lachte zynisch. "Ganz einfach. Irgendwann fängst du an zu hassen. Es ist die einzige Möglichkeit, damit fertig zu werden. Du liebst etwas, das dich kaputt macht, und wenn du nicht irgendwann den Dreh bekommst und anfängst, dieses Etwas zu hassen, dann gehst du kaputt. Als das geborene Opfer kommt man nicht weit."
Bremminger schüttelte nur den Kopf. Für einen Augenblick schien er durch Börner hindurchzusehen. "Ich kann das nicht nachvollziehen", sagte er schließlich.
"Eben", erwiderte Börner schnell. "Aber ich konnte es sehr gut nachvollziehen. Denn genau das war mit Raimund Wels passiert. Er ist an solch einen Kerl geraten, der ihn völlig an die Wand gedrückt hat, der mit ihm machen konnte, was er wollte. Nur hat Wels den Dreh nicht mehr gekriegt und ist kaputtgegangen."
"Das ist doch völlig aus der Luft gegriffen."
"Und wie erklärst du dir, dass Wels selber uns angerufen hat, um sich verhaften zu lassen?"
Nach einer ganzen Weile hatte Bremminger vorerst nur noch eine Frage. "Mit diesem Etwas, von dem du gerade gesprochen hast, meinst du wohl einen Mann?"
Börner zögerte einen Augenblick. "Manchmal glaube ich, es ist viel komplizierter."