Читать книгу Später Besuch - Thomas Hölscher - Страница 6
4
ОглавлениеAn der Grenzstraße bogen sie nach links. Sie redeten kein Wort miteinander. Als sie die Bismarckstraße erreicht hatten, bogen sie wiederum nach links. In Höhe der Magdeburger Straße war eine Haltestelle der Straßenbahn. "Ich kann auch mit der Bahn nach Hause fahren", sagte Bremminger und schaute auf den Fahrplan. Die Bahn war gerade weg, die nächste würde erst in einer halben Stunde kommen. "Lass uns einfach ein Stück weiter gehen", schlug Börner vor, und Bremminger nickte zustimmend.
Die Bismarckstraße erfüllt alle Klischees, die es über den Kohlenpott gibt. Scheinbar endlos zieht sich ein planloses Sammelsurium von Häusern, die nicht einmal eine einheitliche Fluchtlinie bilden, die Straße entlang, unterbrochen durch brachliegende Flächen, Zechenbahnen und den riesigen Komplex der Zeche Consol, den eigentlichen Grund dafür, dass hier überhaupt irgendwann Häuser gebaut worden waren. Die Seitenstraßen enden meist schon nach wenigen Metern auf Feldern, Wiesen oder wilden Schrebergärten, und selbst gegen den dunklen Abendhimmel war das chaotische Durcheinander riesiger Strommasten und zumeist stillgelegter Fabrikanlagen auszumachen. Alles schien planlos, zufällig, nichts hatte hier Bedeutung.
"Eine gräßliche Gegend", sagte Bremminger nach einer Weile.
Börner grinste. "Finde ich gar nicht."
"Ich will dir ja nicht zu nahe treten; aber in Gelsenkirchen sollte man alles südlich des Kanals einfach abreißen."
Börner lachte. "Ich will dir auch nicht zu nahe treten; aber bei den Spießbürgern in Buer-Mitte könntest du mir ein Haus schenken, und ich würde doch hier wohnen bleiben.
"Was hält dich denn in dieser kaputten Gegend?"
"Ich weiß es nicht."
Mittlerweile hatten sie die Einmündung der Oststraße passiert. Vor einem ziemlich heruntergekommenen Haus blieb Börner plötzlich stehen. Von den Holzrahmen der Fenster platzte der kümmerliche Rest der Farbe, die Tür, die in einen schmuddeligen und nur spärlich beleuchteten Flur führte, war halb geöffnet. Neben den Klingelknöpfen standen nur ausländische Namen.
"Warum bleibst du stehen?"
Börner lachte kurz. "Hier hat Milewski mal mit seinen Eltern gewohnt. Von 1958 bis 1964."
Bremminger sah ihn verblüfft an. "Du scheinst ja über Milewski bestens informiert zu sein."
Wieder lachte Börner. "Bis zu der Geschichte vor vier Jahren war diese Bude fast eine Art Wallfahrtsort für mich. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich hier gestanden habe, nur weil Milewski hier einmal gewohnt hat." Es schien plötzlich so, als sei Bremminger für ihn nicht mehr da. "Sein Vater hat da drüben auf der Zeche gearbeitet. Ich habe mir damals tausend Geschichten über Milewski zurechtgelegt. Wie er als Kind hier gelebt hat, wie er sich durchboxen musste in diesem Milieu, wie er sich vor allem um das, was irgendwelche Erwachsenen sagen, einen Scheißdreck kümmerte. Und alle diese Geschichten hatten eines gemeinsam: sie waren anders als meine eigene Geschichte. Die war nämlich langweilig, überflüssig."
"Ich glaube kaum, dass Milewski deinen Proletenkult teilen wird", sagte Bremminger leise. "Der leidet doch heute noch daran, dass ihn die Familie seiner Frau nicht akzeptiert. Für die ist er beruflich und menschlich ein Nichts, ein kleiner Polyp, ein Prolet, der es geschickt verstanden hat, sich in die besseren Kreise einzuschleichen. In Wahrheit ist er eine arme Sau."
Börner nickte. "Das habe ich auch immer gewusst, aber ich wollte nicht, dass es so ist. Es passte nicht zu meinem Bild von Milewski." Und als er merkte, dass Bremminger etwas sagen wollte, fuhr er schnell fort: "Hast du nicht auch manchmal Angst davor, dass sich alles ringsum zu schnell verändert und kaputt geht?" Er zeigte auf das heruntergekommene Haus.
Bremminger sah ihn verständnislos an. "Was meinst du?"
"So schnell verändert, dass wir gar keine Möglichkeit mehr haben, die Geschichten zu überprüfen, die wir uns irgendwann einmal zurechtgelegt haben." Wieder schien Bremminger für Börner gar nicht anwesend zu sein. "Und schließlich wollen wir das alles auch gar nicht mehr überprüfen, weil es sich mit den alten Geschichten und Bildern viel einfacher lebt. Gerade wenn wir erkennen, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen."
Noch immer schien Bremminger nichts von dem zu verstehen, was Börner meinte. "Wovon redest du eigentlich?"
"Von den Lebenslügen, die jeder hat und ohne die er nicht leben kann." Er sah Bremminger direkt an, und der wich seinem Blick aus. "Ohne die er nicht leben kann", wiederholte Börner noch einmal.
"Empfindest du immer noch etwas für Milewski?"
Die Frage hatte Börner offensichtlich aus dem Konzept gebracht. "Ja", sagte er ärgerlich und ging weiter. "Er ist mir völlig gleichgültig."
"Als du mich gerade gezwungen hast, in dieser Kneipe anzurufen, hatte ich aber nicht das Gefühl."
"Er ist mir völlig gleichgültig", sagte Börner noch einmal, und seine Stimme klang äußerst gereizt.
Sie gingen langsam weiter, und irgendwann empfand Bremminger die Stille zwischen ihnen als unerträglich. "Zumindest hat Milewski sich in den letzten Jahren verbessert." Noch einmal wandte er sich um und sah auf das heruntergekommene Haus.
"Im Gegensatz zu mir. Das meinst du doch?", fragte Börner.
Bremminger sah ihn überrascht an. "Ach, du bist ja verrückt!" Er machte einen hilflosen Eindruck. "Dreh einem doch nicht das Wort im Munde um! Und außerdem hat Milewski selber doch gar nichts dazu beigetragen. Was er hat, das kam doch alles von seiner Frau. Bei uns ist er doch noch nicht einmal befördert worden."
"Wohnt er immer noch auf dem geerbten Hof in Erkenschwick?"
Bremminger nickte. "Ja sicher. Da haben sie jetzt eine Tennishalle und Ställe, wo die Schickeria ihre Reitpferde unterstellen kann. Ich verstehe eigentlich gar nicht, weshalb Milewski noch bei uns arbeitet. Wegen des Geldes jedenfalls nicht."
"Vielleicht will er doch noch mal ein guter Polizist werden", sagte Börner schnell.
Bremminger sah ihn einen Augenblick verblüfft an; dann lachte er plötzlich los. "Als Hauptkommissar a.D. darf ich ja nun die Wahrheit sagen. Der Mille könnte noch hundert Jahre bei uns arbeiten, aber ein guter Polizist wird der nie." Dann lachten sie beide los und stimmten schließlich darin überein, dass sie wirklich gemein seien.
"Als Hauptkommissar a.D. darfst du also die Wahrheit sagen", wiederholte Börner nach einer Weile, und dabei klang seine Stimme, als könne er gar nicht glauben, was Bremminger gerade gesagt hatte.
Bremminger schien es plötzlich eilig zu haben, das Thema zu ändern. "Was ich dich noch fragen wollte: Du hast gerade gesagt, Milewskis Frau sei wieder schwanger. Was sollte das?"
Börner machte eine abwiegelnde Handbewegung. "Es war dummes Zeug. Wirklich, vergiss es!"
Sie hatten mittlerweile den Bahnhof Zoo erreicht; in Richtung Emschertalbahn waren die Lichter der Straßenbahn zu erkennen. "Deine Bahn kommt." Die Haltestelle lag auf einer Verkehrsinsel in der Straßenmitte, und Börner wollte gerade die Straße überqueren.
"Du willst also behaupten, Ingrid hat eine Abtreibung durchführen lassen." Börner sah Bremminger verblüfft an. "Ich finde das ein starkes Stück von dir."
Börner sah Bremminger überrascht an. "Das will ich nicht behaupten,“ sagte er schließlich. „Das war so. Sie ist damals nach Holland gefahren."
"Wann?"
"1984. Aber jetzt hör doch auf mit dem Blödsinn. Was geht uns die Sache an?"
"Und woher weißt du das?"
"Milewski war so dumm, es mir zu erzählen."
"Vielleicht war er nicht dumm, sondern hat einfach mit jemandem darüber reden wollen. Und zu dir hatte er Vertrauen."
Börner lachte ironisch. "Das glaubst du doch selber nicht!"
Bremminger hob fragend die Schultern. "Warum nicht? Aber es ist in der Tat gleichgültig. So etwas muss schließlich jeder selber wissen." Dann wollte er die Straße überqueren.
"Wirklich?" fragte Börner schnell. Die Straßenbahn hatte an der Einmündung der Bickernstraße halten müssen; nun kam sie langsam näher.
"Die beiden werden ihre Gründe für eine solche Entscheidung gehabt haben."
"Oh ja, das glaube ich auch!", rief Börner ironisch. "Milewski ist Beamter auf Lebenszeit, und seine Schwiegereltern haben Geld wie Heu. Wahrscheinlich hatten sie wohl finanzielle Probleme."
"Sei doch nicht so ironisch!" Bremmingers Stimme klang äußerst ärgerlich. "So etwas ist schließlich eine ganz individuelle Entscheidung."
"So kann man es natürlich auch nennen." Die Straßenbahn war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt.
"Wie willst du es denn nennen?"
"Mord."
Für Sekunden war es, als halle dieses Wort nach. "Ach, du hast ja nicht alle Tassen im Schrank!" Bremminger war anscheinend außer sich. "Richard Börner, der große Moralapostel, deine Starrolle. Das ist dir doch schon mal zum Verhängnis geworden. Du solltest besser deinen dummen Mund halten!"
Börner wusste sofort, dass er die plötzlich in ihm hochsteigende Wut keine Sekunde länger würde beherrschen können. "Einen Mord traust du Milewski wohl nicht zu?", rief er mit rotem Kopf. Dicht neben ihnen hatte mittlerweile die Straßenbahn gehalten, und der Fahrer öffnete die vordere Tür. Bremminger machte eine energische Handbewegung und wandte sich kopfschüttelnd von Börner ab.
"Und doch hat er jemanden umgebracht."
Wie angewurzelt blieb Bremminger stehen. Dann drehte er sich langsam um. "Was hast du da gerade gesagt?", fragte er mit tonloser Stimme.
"Wat is denn nu?", rief der Fahrer aus dem Wageninneren. "Wollnse nu mit oder nich?" Als Bremminger nicht reagierte, schloss der Fahrer die Tür und fuhr kopfschüttelnd weiter.
"Du hast gerade gesagt, Milewski habe jemanden umgebracht", sagte Bremminger leise und kam langsam auf Börner zu. "Ich frage dich jetzt nur einmal: Ist das wahr oder nicht? Und", fuhr er fort, bevor Börner etwas sagen konnte. "Wag nicht noch einmal zu sagen: Vergiss es! Dann passiert ein Unglück." Er fasste mit beiden Händen in Börners Jacke und zog ihn ganz nah zu sich. "Dein Zynismus geht mir langsam über die Hutschnur. Also: Ist es wahr oder nicht?"
Börner war völlig überfahren. Er hatte plötzlich Angst, Bremminger könne sich tatsächlich vergessen, und er versuchte, den Augen und dem schlechten Atem direkt vor seinem Gesicht auszuweichen. Er spürte, dass Bremminger es ernst meinte. "Es ist wahr", sagte er langsam.
Bremminger ließ ihn los und wandte sich ab. Er wirkte plötzlich müde und alt. "Und wann?"
"1984."
"Und das hatte damals mit deiner Kündigung bei uns zu tun?"
Börner nickte nur. Bremminger atmete tief ein und sah ihn an. "Wir gehen jetzt zu dir. Und ich sage dir, Börner, du wirst mich nicht eher los, als bis ich die ganze Wahrheit aus dir herausgeholt habe." Dann wandte er sich ab und ging mit schnellen Schritten zurück.
Börner folgte ihm. Er schien noch gar nicht verstanden zu haben, was da eben passiert war. Nur dass Bremminger ihn gerade zum erstenmal in seinem Leben mit dem Nachnamen angeredet hatte, das war ihm nicht entgangen.