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Börner unternahm noch einige Versuche, Bremminger sein Männerbild näher zu erklären, aber der schien mittlerweile jegliches Interesse an derartigen Erklärungen verloren zu haben. Und schließlich verlor er auch noch die Geduld.

Es ging um die Vernehmung von Raimund Wels. Der Kerl hatte außer den Angaben zu seiner Person und der Aussage, er habe Carl Brenner aus Eifersucht umgebracht, nichts mehr gesagt. Absolut gar nichts. Und wieder war Börner sofort auf Milewskis Verhalten zu sprechen gekommen: Breitbeinig habe sich dieser Macho vor Wels auf einen Stuhl gesetzt und es auf die freundschaftliche Art mit ihm versucht. Den good cop habe Milewski mit Wels gespielt, weil er natürlich sofort gemerkt haben musste, dass er mit dieser schwulen Wurst machen konnte, was er wollte. Dabei habe aus jedem seiner Worte nur eine unglaubliche, für Milewski aber typische Gleichgültigkeit gesprochen. Milewski habe Wels doch bestenfalls verachtet.

Und dann hatte Bremminger endgültig genug. "Sag mal, findest du dich nicht selber ganz mies? Anscheinend musst du Milewski immer noch auf irgendeinen Sockel stellen, nur um ihn umkippen zu können. Ich weiß nicht, was du damit bezweckst. Du bist intelligenter als Milewski, und der kam sich dir gegenüber immer vor wie das fünfte Rad am Wagen. Und sein selbstsicheres Auftreten, sein Prahlen mit Weibergeschichten, das waren doch alles nur billige Versuche, seine Unsicherheit zu überspielen."

Börner wollte Bremminger nicht zustimmen, aber der schien auch gar keinen Wert mehr darauf zu legen. "Das einzig Wichtige ist jetzt, dass ich die ganze Wahrheit über den Fall Brenner erfahre. Alles andere interessiert mich nicht mehr. Nicht im geringsten." Und bevor Börner etwas einwenden konnte, fuhr er fort: "Ich weiß noch genau, dass der Tag, an dem wir Wels festgenommen haben, dein letzter Arbeitstag war. Danach hattest du Urlaub, und was du in dieser Zeit gemacht hast, das möchte ich jetzt erfahren."

Börner lachte kurz. "Weißt du eigentlich, weshalb ich damals Urlaub genommen habe?" Als Bremminger keine Anzeichen von Interesse an dieser Frage zeigte, fiel Börners Antwort ziemlich aggressiv aus. "Ich wusste, dass Milewski zu genau dieser Zeit Urlaub machen wollte; dummerweise hat er es mir vorher gesagt. Da habe ich kurzerhand vor ihm den Urlaub beantragt."

Bremminger nickte ernst. "Ich sage doch, du bist intelligenter als Milewski. Intelligenter und auch viel gemeiner. Aber von jetzt an interessiert mich nur noch, was du unternommen hast. Ich nehme mal an, in deinem Urlaub ging alles erst richtig los."

Börner schüttelte ironisch grinsend den Kopf. "Richtig los ging es eben mit Milewski."

Einen Augenblick genoss er Bremmingers plötzliche Sprachlosigkeit; dann fuhr er fort: "Du erinnerst dich doch bestimmt noch an diesen Kegelabend?"

An diesen einen Kegelabend erinnerte Bremminger sich zunächst einmal ganz und gar nicht mehr. Das Kegeln mit den Kollegen fand immer noch alle vier Wochen statt, er selber ging nur dann hin, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ; und Bremminger wusste auch nicht, weshalb man sich an diese Besäufnisse überhaupt noch erinnern sollte, sobald man die Kneipe an der Hauptstraße einmal verlassen hatte.

"Ich werde diesen Abend jedenfalls nie vergessen", meinte Börner. "Es war Sonntag, der 26.August 1984, zwei Tage nach der Verhaftung von Wels. Du hast mich Abends gegen 21 Uhr angerufen und warst ganz froh, dass ich im Urlaub überhaupt zu erreichen war. Du warst nämlich gerade von Wessel angerufen worden, der damals K-Wache hatte. Wessel hatte dir alles erzählt: Dass die Kollegen vom 3.K. schon lange die Firma Brenner überwachten, dass das 7.K. eingeschaltet sei und dass du sofort ins Präsidium kommen solltest." Bremminger nickte nur.

"Im letzten Nebensatz hast du dann übrigens auch noch erwähnt, dass Wels am Nachmittag Selbstmord begangen hatte." Börner sah Bremminger an, aber der schien keine Lust zu haben, irgendetwas dazu zu sagen. "Wessel hatte dir auch gesagt, dass man für die geplante Aktion des 7.K. noch ein oder zwei Mann aus deiner Truppe brauche."

Wieder nickte Bremminger. "Ja ja, weiter!"

Börner zögerte. "Weißt du, was mich interessiert?"

"Nein."

"Du hast doch eigentlich angerufen, um mich zu fragen, ob ich nicht meinen Urlaub abbrechen und bei der Sache mitarbeiten kann?"

"Vielleicht."

"Jetzt sag es doch: Ja oder nein?"

"Hättest du es denn getan?"

"Ja, sofort. Und warum hast du nicht gefragt?"

"Ach, ich weiß es nicht", sagte Bremminger ärgerlich. "Vielleicht habe ich mich einfach nicht getraut. Erzähl weiter!"

"Statt dessen hast du mich gefragt, ob ich nicht dafür sorgen könnte, dass Milewski endlich vom Kegeln nach Hause ging. Den wolltest du nämlich für den Fall abstellen. Der saß aber noch in der Kneipe, war völlig betrunken und hatte dir am Telefon gesagt, er gehe nach Hause, wann er wolle."

Wieder nickte Bremminger langsam.

"Und außerdem hatte Milewski eine Wette gegen Hebemann gewonnen."

Plötzlich schien auch Bremminger sich wieder an diesen Abend zu erinnern und lachte leise. "Ach ja, diese dämliche Wette!"

An jenem Abend hatte ein völlig betrunkener Milewski mit dem Kollegen Hebemann aus letztlich unerfindlichen Gründen gewettet, dass er es schaffen würde, ein Pferd in die Wirtschaft zu holen. Hebemann hatte die Wette und damit 100 Mark verloren; denn Milewski war zum Wildenbruchplatz gelaufen und hatte irgendwie den Schausteller auf der Kirmes überredet. Noch heute Abend hatten die Kollegen über diese Anekdote gelacht; vor allem über Hebemanns dummes Gesicht, als Milewski tatsächlich ein Pferd hinter sich in die Wirtschaft gezogen hatte. Noch immer musste Bremminger über die Erzählungen der anderen lachen. "Der Gaul hat doch dem Franz angeblich sogar mitten in die Kneipe geschissen?"

Börner ging auf Bremmingers Frage nicht ein. Er fand die ganze Sache anscheinend auch gar nicht zum Lachen. Er behauptete noch einmal, sich ganz genau an diesen Abend erinnern zu können: Als er die Kneipe betrat, habe mitten im Raum eines dieser kleinen Kirmespferde gestanden, sagte er. Die Zügel seien am Tresen festgebunden gewesen, auf dem Tier habe Milewski gesessen und gerade ein Bierglas hochgehoben, um den Kollegen zuzuprosten, die lachend und gröhlend um ihn herum standen. Er selber sei sich in dieser Situation total blöde vorgekommen.

Nun schien Bremminger noch lauter zu lachen. "Das kann ich mir gut vorstellen!", rief er und trank seine Flasche mit einem Schluck leer.

"In dem Augenblick habe ich sie alle gehasst!", sagte Börner wütend. "Es war so, als wenn einer einen blöden Witz erzählt hat, und nun musst du lachen, weil du sonst der große Spielverderber bist."

Bremminger schien mit dem Lachen gar keine Probleme zu haben. Er hielt Börner die leere Flasche hin, und in diesem Augenblick kam es Börner vor, als wäre er in einem wichtigen Vortrag unterbrochen worden. Irritiert lief er in die Küche, um ein neues Bier zu holen.

Bremminger hatte sich völlig verändert, als Börner in das Wohnzimmer zurückkehrte. "Warum hast du eigentlich die Kollegen gehasst, als du in die Kneipe kamst?", fragte er leise.

Für einen Augenblick war Börner irritiert und grinste linkisch. "Ach, es war einfach so wie immer, nur in dieser Situation viel unausweichlicher. Da war Milewski, bei allen Kollegen beliebt und für jeden Blödsinn zu haben, und da war ich, höchstens respektiert und ansonsten am liebsten von hinten gesehen."

"Also wieder dein ... dein Männerbild?"

Börner nickte langsam. "Nur so schlimm war es noch nie zuvor gewesen."

" Warum war es noch nie so schlimm gewesen? "

" Vielleicht wegen des Pferdes", sagte Börner schnell. Und als wolle er das bei Bremminger nun fast zwangsläufig hervorgerufene Gefühl, an der Nase herumgeführt zu werden, noch verstärken, sagte er noch einmal: "Natürlich, vor allem wegen des Pferdes."

Bremminger wollte sich aber ganz offensichtlich nicht mehr an der Nase herumführen lassen, sondern wurde plötzlich ernst. "Richard, du musst mir eines versprechen." Er zögerte einen Augenblick; Börner hatte nur mitbekommen, dass Bremminger ihn endlich wieder mit dem Vornamen anredete. "Du darfst nie mehr umfallen, wenn du Milewski wiedersiehst."

Börner sah Bremminger verständnislos an. "Warum sollte ich? Eher würde ich Schluss machen, als noch einmal vor Milewski zu Kreuze zu kriechen."

"Du versprichst es also?"

"Für mich ist Milewski gestorben", sagte Börner. "Ich habe ihn außerdem seit fast vier Jahren nicht mehr gesehen. Aber was soll das eigentlich?"

"Dann ist es ja gut", sagte Bremminger nur. Auch auf Börners Drängen war er nicht bereit, sein seltsames Anliegen zu erklären, sondern bestand darauf, dass Börner weiter erzählte.

Es hatte für Börner Probleme gegeben; denn angeblich war Milewski überhaupt nicht bereit gewesen, sich von Börner wie ein dummer Junge nach Hause bringen zu lassen. Er habe noch auf einer Runde für die Kollegen bestanden, und erst als dann auch die Kollegen auf ihn einredeten, hatte Milewski die Wirtschaft verlassen. Draußen habe Börner sich fürchterlich geschämt, weil er Milewski wie ein quengeliges Kind hinter sich hatte herziehen müssen und Milewski schon auf der Hauptstraße zweimal den Bordstein übersah und der Länge nach hinstürzte. Mehrere Passanten hätten lachend oder kopfschüttelnd zu ihnen hergesehen, aber das sei Milewski völlig gleichgültig gewesen.

Dann habe er Milewski von Bremmingers Anruf erzählt, und der habe seine Mitarbeit beim 7.K. als große Ehre und Bestätigung empfunden. Und natürlich hatte er sich das alles schon gedacht: Mit der Firma Brenner konnte ja etwas nicht stimmen! Und natürlich der Rauschgiftschmuggel: Das war es doch, womit man heute das große Geld machte, da spielte die Musik! Und beim 1.K. habe man nichts anderes zu tun, als sich darum Gedanken zu machen, weshalb ein Schwuler einen anderen Schwulen umbrachte.

"Du kannst dir vorstellen, dass ich in diesem Augenblick Rot gesehen habe." Börner sah Bremminger an, aber Bremminger sagte nichts. "Als ich ihm dann auch noch sagte, dass sich Wels am Nachmittag in der U-Haft erhängt habe, wurde Milewski geradezu unverschämt: Na Gottseidank! hat er gesagt. Was sollen wir denn solche Subjekte auch noch bis an ihr Lebensende auf Staatskosten durchfüttern! Da habe ich ihm dann gesagt, dass wir den wirklichen Mörder von Brenner doch noch gar nicht gefasst haben. Natürlich hat Milewski das alles überhaupt nicht verstanden, er hat mich ausgelacht und als Spinner hingestellt."

Börner machte eine Pause, weil er nun irgendeine Bemerkung von Bremminger erwartete; aber der wurde nur ungeduldig: "Und dann? Was war dann?"

"Dann habe auch ich mit Milewski gewettet."

"Was habt ihr gemacht?"

"Wir haben gewettet, wer den Fall eher löst."

Bremminger sah Börner fassungslos an. "Ich kann das nicht glauben."

Börner grinste. "Milewski wollte es zunächst auch nicht glauben. Aber ich habe ihm gesagt, ich wette mit dir, dass ich allein ohne eure Hilfe den Fall eher aufkläre als ihr alles zusammen."

"Milewski hat mir nie davon erzählt."

Börner lachte. "Kann ich mir vorstellen. Wahrscheinlich hat er die ganze Sache ohnehin nicht ernst genommen. Oder aber er war so betrunken, dass er sie am nächsten Tag schon vergessen hatte."

"Aber du hast die Sache natürlich ernst genommen?"

Börner nickte. "Vor allem wegen der Art, wie Milewski über den Selbstmord von Wels geredet hatte." Er zögerte einen Augenblick. "Weißt du, bis zu dem Tag hatte ich einen Ekel davor gehabt, so zu sein wie Wels. Aber plötzlich hatte sich etwas geändert. Ich konnte mir sagen: Gut, vielleicht bin ich so wie Wels, aber da gibt es dann immer noch einen riesigen Unterschied. Wenn der sich umbringt, werde ich mich wehren. Mit allen Mitteln werde ich mich wehren."

"Was war dir eigentlich wichtiger", fragte Bremminger plötzlich. "Diesen vermeintlichen Mörder von Brenner zu finden oder die Wette mit Milewski zu gewinnen."

Wieder grinste Börner. "Auch wenn du es ohnehin nicht verstehst: Für mich war das ein und dasselbe."

Bremminger nickte nur. "Ich glaube, mittlerweile verstehe ich ganz gut."

Dass Bremminger gar nichts verstand, davon war Börner sofort überzeugt, aber er sagte es nicht. Wie auch? Wie sollte schließlich jemand wie Bremminger ihn verstehen?

Die Frage nach seiner Motivation bei der ganzen Sache hätte ihn womöglich irgendwann sogar dazu gebracht, einzugestehen, dass damals zwei Ergeignisse, die natürlich absolut gar nichts miteinander zu tun hatten, in seinem damaligen Denken untrennbar miteinander verbunden waren. Ursache und Wirkung eben: Milewskis Wette mit Hebemann und Wels’ Selbstmord.

Ein Ritual eben, hatte er immer schon gedacht. Ein weiteres Ritual, das nichts anderes darstellt als den Mythos von der Überlegenheit des Mannes. Des richtigen Kerls. Der um so größer und souveräner wurde, wenn er sich dem Vergnügen hingab, alles Schwache zu entlarven, zu degradieren und lächerlich zu machen. Je naiver es aussah, je unbewusster alles möglicherweise sogar geschah, desto wirkungsvoller war es. Mit allen Konsequenzen für die von vornherein Unterlegenen. Es gab keine Schuld, es gab nur Opfer.

Aber gab es nichts wenigstens so etwas wie Verantwortung?

"Was ist eigentlich mit dem Gaul passiert?", riss Bremmingers Stimme ihn plötzlich aus seinen Gedanken.

"Mit welchem Gaul denn?", fragte Börner immer noch sichtlich irritiert.

"Mit dem Gaul, den Milewski in die Wirtschaft geholt hat".“

"Was soll damit passiert sein?"

"Na, hör mal, Milewski holt dieses Vieh von der Kirmes, du holst Milewski aus der Kneipe und bringst ihn nach Hause. Habt ihr das Tier etwa vorher noch auf der Kirmes wieder abgegeben?"

"Natürlich nicht."

"Ist der Gaul dann vielleicht alleine nach Hause gelaufen?"

Börner sah Bremminger völlig entgeistert an. "Woher soll ich das denn wissen? Irgendjemand von den Kollegen wird das Tier schon zur Kirmes zurückgebracht haben. Oder der Franz hat ihn da behalten und rheinischen Sauerbraten draus gemacht."

Bremminger sah ihn noch eine Zeit lang an und schüttelte dann den Kopf. "Beides kann ich mir einfach nicht vorstellen. Wenn Milewski diesen Blödsinn veranstaltet, dann muss er doch auch dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt. Ich würde mich jedenfalls nicht zum Affen machen und mit einem solchen Gaul abends mitten durch die Stadt laufen."

"Ich weiß es jedenfalls nicht. Und außerdem ist es doch auch völlig unwichtig.“

"Das finde ich gar nicht."

"Warum soll so etwas wichtig sein?"

"Weil in deiner Aussage ganz einfach irgendetwas nicht passt, nicht stimmig ist. Und auch, weil Milewski an jenem Abend überhaupt nicht derart betrunken war, wie du behauptest. Am nächsten Morgen war er nämlich völlig nüchtern."

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