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Obschon es draußen schon lange dunkel geworden und das Licht in der Wohnung eingeschaltet war, konnte sich Börner nicht entschließen, die Rolläden vor den Fenstern herunterzulassen. Es störte ihn zwar, dass nun möglicherweise Leute von der gegenüberliegenden Häuserreihe in sein Zimmer sahen, aber das Gefühl, in einer von der Außenwelt abgeschlossenen Wohnung zu sitzen, war ihm unerträglich.

Die Wohnung machte keinen sonderlich aufgeräumten Eindruck. Alle Türen standen offen, in allen Zimmern brannte Licht. In der Küche standen Berge von nicht abgewaschenem Geschirr, der Boden im Wohnzimmer war übersät mit Büchern, Notizblöcken und Zetteln. Auf dem Schreibtisch an der breiten Fensterfront konzentrierte sich dieses Chaos.

Börner lag auf der Couch in der Ecke des Wohnzimmers. In der rechten Hand hielt er die Fernbedienung des Fernsehgerätes und schaltete von einem Programm zum anderen. Gerade hatte er einen amerikanischen Spielfilm gesehen, der ihn nicht interessiert hatte. Er machte einen hilflosen Eindruck, als er das Gerät ausschaltete und aufstand: Er wusste nicht, was er nun tun sollte; er fühlte sich müde, ohne jeden Antrieb. Die Unordnung in seiner Wohnung verstärkte dieses Gefühl noch.

Eine ganze Zeit stand er vor dem Bücherregal, das fast die gesamte Wand des Wohnzimmers einnahm. Auf den Büchern lag eine dicke Staubschicht. Etwa in Augenhöhe lag über einer Reihe von Büchern ein Blatt Papier. Neugierig nahm er es aus dem Regal, und schon bevor er es genauer betrachtet hatte, war sein Interesse wieder erloschen

Es war ein Papier mit Briefkopf: Kommissar Richard Börner, Leipziger Straße 54, 4650 Gelsenkirchen. Er zerriss das Papier in kleine Stücke. Noch vor dem Ende des Kommissarlehrgangs in Dortmund vor mittlerweile über sieben Jahren hatte er solche Briefbögen drucken lassen. Es war wirklich manchmal schwer, sich seine eigene Vergangenheit zu verzeihen! Die Karriere des Kommissars Richard Börner bei der Kripo in Gelsenkirchen hatte nicht einmal zwei Jahre gedauert.

Er arbeitete immer noch in Dr.Klauseners Anwaltsbüro in Essen und hatte zu dieser Arbeit weniger Lust als je zuvor. Auch konnte er nach zehn Semestern Jura an der Uni in Bochum nur sagen, dass man Mühe haben musste, ein noch langweiligeres Fach zu finden. An den Tagen, die Dr.Klausener ihn in der Vorlesungszeit wegen des Studiums beurlaubte, besuchte er zumeist Vorlesungen und Seminare anderer Fachbereiche: Psychologie, Philosophie, Sprachen, das alles konnte man noch ertragen. Aber wozu eine Uni nun wirklich da war, das hatte er trotz seines kriminalistischen Spürsinns in fast fünf Jahren nicht herausbekommen.

Demenstsprechend waren seine Studienleistungen. Das Staatsexamen lag in irgendwelchen unerreichbaren Fernen, und Dr.Klauseners gelegentliche Hinweise und Anmahnungen erreichten mit schöner Regelmäßigkeit das Gegenteil von dem, was sie wohl bezweckten: Börner hasste Klauseners väterliche Art, und schon mehrfach hatten dessen Belehrungen in den vergangenen Monaten dazu geführt, dass Börner, anstatt nach Bochum zu fahren, sich erst einmal richtig ausgeschlafen hatte. Er hatte sich längst mit dem Job eines kleinen Bürogehilfen in einer Anwaltskanzlei angefreundet. Und warum auch nicht? Geld verdiente er damit genug, und ob er nun Akten schleppte oder brilliante Plädoyers vorbereitete, das war doch völlig gleichgültig. So oder so war dieser ganze juristische Kram Zeitverschwendung, und er hatte sich einfach für die geringere Verschwendung seiner Zeit entschieden.

Außerdem kam er nun auch mit den Kollegen ganz gut klar. Nach dem Fall Neubauer und seinen Eskapaden vor rund vier Jahren hatte er geglaubt, das Büro nie mehr betreten zu können, hatte befürchtet, für die anderen nur noch der schwule Psychopath zu sein, der einem bestenfalls leid tun konnte. Aber diese Einschätzung war völlig falsch gewesen. Die anderen hatten einen ganz unerklärlichen Respekt vor ihm gezeigt, weil er offensichtlich in ihren Horizont von Klatsch und Tratsch über Belanglosigkeiten und Beziehungskisten nicht einzuordnen war. Für die Kollegen war er sogar mittlerweile fast eine Art Autoritätsperson, die tun und lassen konnte, was sie wollte. Und genau das tat er auch.

Trotz seiner Gleichgültigkeit dem Studium gegenüber saß er oft an seinem Schreibtisch, wollte etwas schreiben, hatte tausend Einfälle, aber nie kam etwas dabei heraus. Und wenn er doch etwas schrieb, war er zumeist betrunken, und spätestens am nächsten Morgen warf er alles in den Papierkorb.

Nachdem er missmutig noch ein paar Buchtitel überflogen hatte, ging er in die Küche und nahm aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Es war die dritte heute Abend, und dann ärgerte es ihn, sich selber vorzuhalten, dass er nun schon wieder die dritte Flasche geöffnet hatte. Wie aus Trotz trank er die Flasche mit einem Mal leer, stellte sie in den Kasten zurück und nahm eine neue.

Er wollte noch weg heute Abend. Weshalb hatte er überhaupt so lange zu Hause gesessen und gewartet? Es war besser, man erwartete gar nichts mehr. Dann konnte man auch nicht enttäuscht werden.

Meistens saß er samstags Abends in einer Schwulenkneipe in Dortmund. Es war mittlerweile eine Art Stammkneipe für ihn geworden, wo der Wirt ihn mit Handschlag begrüßte und immer ein paar Leute saßen, die ihn kannten. Ihn interessierte weder der Wirt noch diese Leute.

Nervös sah er auf die Uhr. Es war 20 nach 10. Der Zug ging um 22 Uhr 59, er musste sich umziehen. Er nahm noch einen Schluck aus der Bierflasche und stellte sie dann noch halb voll in den Kasten zurück. Er trank zwar nach wie vor wie ein Loch, aber samstagabends konnte der Alkohol auch hinderlich sein. Man musste dann zu oft pinkeln. Und wenn es hart auf hart kam, dann konnte es mit zuviel Alkohol im Blut bei aller aufgestauten Geilheit auch schon mal peinlich werden.

An der Fensterscheibe konnte er sehen, dass es draußen immer noch regnete. Er würde mit dem Taxi zum Bahnhof fahren, hatte also noch etwas Zeit. Zufrieden nahm er die Bierflasche wieder aus dem Kasten und trank sie leer.

Das Trinken war auch der Grund, weshalb er am Wochenende meistens mit dem Zug fuhr. Das war zwar hinderlich, wenn sich die ganze Sache nicht an Ort und Stelle erledigen ließ, aber zur Not nahm er in solchen Fällen ein Taxi. Billig war so etwas nicht gerade, er musste schon etwas Besonderes gefunden haben, um soviel Geld springen zu lassen. Meist ging er mit in irgendeine fremde Wohnung. Den Zeitpunkt der Trennung bestimmte er am liebsten selber, und wo er wohnte, das ging auch niemanden etwas an.

Es gab noch einen Grund, weshalb er nie mit dem eigenen Wagen nach Dortmund fuhr. Vor zwei Jahren hatten sie ihn auf der B1 erwischt, und da hatte auch Dr.Klauseners gesammelte juristische Lügenkunst nichts mehr genutzt. Der Abend hatte 1500 Mark und für sechs Monate eine Bahnfahrkarte von Gelsenkirchen nach Essen gekostet.

Börner stand auf und ging ins Schlafzimmer. In der Wohnung lief er fast nur in einem gammeligen Trainigsanzug herum; in der Schwulenkneipe kam man am besten mit einer verwaschenen Jeans und einer schwarzen Lederjacke zurecht.

Es war halb elf, als er im Korridor neben dem Telefon stand und die Nummer der Taxizentrale wählte. In diesem Augenblick schellte es an der Wohnungstür.

Börner hörte, dass der Ruf durchging. Er wollte jetzt nicht mehr gestört werden, wollte abends überhaupt nie gestört werden. Am anderen Ende der Leitung meldete sich die Taxizentrale, und dann schellte es zum zweitenmal. Wütend legte Börner den Hörer auf. Als er missmutig die Tür öffnete, stand Bremminger im Hausflur, sein ehemaliger Chef bei der Kripo.

Für Sekunden trafen sich ihre Blicke, und Börner glaubte, Unsicherheit und Hilflosigkeit in Bremmingers Augen zu entdecken. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er die Wohnungstür ganz. Erst nachdem er Börner noch einmal angesehen hatte, so als müsse er sich über dessen Zustimmung immer noch erst Gewissheit verschaffen, betrat Bremminger die Wohnung.

Später Besuch

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