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Es war am Donnerstag dem 23.August 1984 gewesen.

Noch immer sah Börner das Bild Frau Benners genau vor sich. Sie war, wie Bremminger es hinterher ausgedrückt hatte, sehr gefasst gewesen. Die Nachricht, dass ihr Sohn mit großer Wahrscheinlichkeit einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, hatte sie jedenfalls nicht sonderlich überrascht.

Börner war sie auf Anhieb unsympathisch gewesen. Vor allem ihr grelles Make-up war ihm aufgefallen; bei einer Frau von Ende 50 oder Anfang 60 hatte er es als abstoßend empfunden.

Auf jeden Fall aber hatte die Frau bereitwillig Auskunft gegeben. Der Tote war ihr einziges Kind gewesen, und das Wort "Kind" hatte Börner aus ihrem Mund als geradezu lächerlich empfunden. Sie bewohnte das Haus, einen riesigen Bungalow in der Nähe der Parkanlagen von Schloss Berge im Stadtteil Buer, mit ihrem Sohn allein. Ihr Mann litt an MS, und sie hatte darauf bestanden, dass das für die ganze Familie ein Kreuz sei. Sie hatte angedeutet, dass mit dem Tod ihres Mannes in absehbarer Zeit zu rechnen sei. In einer Börner nicht mehr gegenwärtigen Formulierung hatte sie ferner zu verstehen gegeben, dass ihr Mann im Kopf nicht mehr ganz richtig sei. Ebenfalls Resultat dieser Krankheit. Er liege in einer privaten Spezialklinik in Hattingen, und erst auf Bremmingers Nachfrage hatte sie die genaue Adresse angegeben.

Die Familie verfügte über ein beträchtliches Vermögen. Nach dem Krieg hatte der alte Brenner eine Spedition gegründet, einen Einmannbetrieb zunächst mit einem klapprigen Wehrmachtslaster. Inzwischen war die Firma eine der größten in Nordrhein-Westfalen. Einen Großteil des Vermögens hatten sie in Immobilien gesteckt. Ihnen gehörten mehrere Wohnhäuser und Grundstücke in Städten des Ruhrgebiets.

Bremminger hatte dann gefragt, wer denn die Firma eigentlich leite, und sie hatte unsympathisch aufgelacht. Offiziell sei natürlich noch ihr Mann Inhaber der Firma. Ihr Sohn habe sich eigentlich nie ernsthaft für das Geschäft interessiert, und auch sie verstehe kaum etwas davon, sondern kümmere sich zumeist um die Verwaltung der Häuser und Grundstücke. Die Firma werde eigentlich von einem gewissen Dr.Keller geleitet. Er sei Prokurist.

In einem fast entschuldigenden Ton - "Sie verstehen, wir suchen nach einem Motiv." - hatte Bremminger dann nach den Vermögensverhältnissen gefragt, nach Erbansprüchen, und wieder hatte sie dafür nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Sie hätten noch nie darüber gesprochen, ihr Mann sei schließlich noch nicht tot.

Und ganz unerwartet hatte die Frau dann plötzlich Dinge erzählt, die Bremminger und Börner völlig überrascht hatten. "Da Sie nach einem Motiv fragen: Ich glaube, da kann ich Ihnen behilflich sein. Das heißt, ich weiß nicht recht, ob ich von Motiv reden soll ..., aber ich kann Ihnen zumindest sagen, in welcher Umgebung Sie suchen sollten."

Dazu hatte Bremminger sie dann sehr energisch aufgefordert.

"Mein Sohn war von Anfang an in den falschen Kreisen." Börner glaubte, sich an jedes Wort der folgenden Aussage von Frau Brenner noch erinnern zu können. "Zunächst habe ich noch versucht, mich dagegen zu wehren, aber er war schließlich ein erwachsener Mensch.

Mein Sohn war schwul. Wissen Sie, anfangs habe ich das alles gar nicht ernst genommen, als etwas Vorübergehendes eben, eine unbedeutende Episode in Carls Leben. Später haben wir ihn dann zu Psychiatern geschickt. Natürlich nur auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin. Aber es war nichts daran zu ändern. Es war einfach so. Irgendwann fing Carl dann an, einschlägige Lokale zu besuchen, und wir waren froh, wenn diese Lokale zumindest nicht in unmittelbarer Nähe lagen. Er fuhr dennoch meistens nach Dortmund, und mir war es jedesmal viel lieber, wenn er erzählte, dass er in Köln, Düsseldorf oder sonstwo seine Bekanntschaften gesucht hatte. Er hat diese Kerle dann immer ausgehalten wie Huren. Er hat sich immer nur ausnehmen lassen und es hinterher bereut." An diesem Punkt, so meinte Börner nun, waren ihm zum erstenmal die zahlreichen grauen Haare der Frau aufgefallen.

"Sehen Sie, es ist schwer, sich damit abzufinden. Nicht die Angst, dass andere darüber reden könnten. Das meine ich nicht. Es gibt wichtigeres als das, was andere Leute über einen reden. Kurz und bündig: Sämtliche Vorstellungen von Familie können sie einfach vergessen. Es geht hier nicht um Toleranz oder Intoleranz; man kann lernen, letztlich alles zu tolerieren. Das hat zu tun mit Hoffnungen und Wünschen, die Sie einfach haben, wenn Sie ganz bewusst ein Kind in die Welt setzen. Ich habe solche Dinge längst über Bord geworfen."

"Sie sprachen von einem Verdacht", hatte Bremminger gesagt, und die Frau hatte genickt und weiter bereitwillig Auskunft gegeben.

"Seit etwa einem halben Jahr war mein Sohn mit einem Mann enger befreundet, mit einem gewissen Raimund Wels. Ich war übrigens froh darüber, weil Carls Besuche in diesen Schwulenkneipen endlich aufhörten. Die beiden verstanden sich gut, und Herr Wels war auch öfters hier. Aber vor ein paar Wochen, es ist vielleicht vier oder fünf Wochen her, da gab es plötzlich eine Wende. Irgendwie hatte sich das Klima verändert, und die beiden hatten andauernd Streit."

"Worum ging es bei diesen Streitereien?"

"Ich weiß es nicht, ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich sah auch gar keine Veranlassung, Carl danach zu fragen. Ich habe ihn noch nie nach persönlichen Dingen gefragt. Wenn er etwas auf der Seele hatte, ist er immer zu mir gekommen."

"Sie sprachen von einem Verdacht. Ich muss Sie bitten, uns das genauer zu erklären."

Frau Brenner war dann unsicher geworden, oder sie hatte zumindest sehr geschickt so getan. "Bitte missverstehen Sie mich nicht! Ich will hier niemanden beschuldigen. Und schon gar nicht eines Mordes." Sie hatte noch einmal gezögert. "Aber es ist ein Faktum, dass Carl gestern Abend bei Herrn Wels war."

"Woher wollen Sie das wissen?"

"Carl hat es mir gesagt, als er losfuhr nach Dortmund."

"Dadurch ist es noch kein Faktum. Hat er gesagt, was er bei Wels wollte?"

"Nein."

"Da sind Sie ganz sicher?"

"Ja."

"Welchen Grund hätte Wels denn haben können, Ihren Sohn zu ermorden?"

Frau Brenner hatte Bremminger ganz erstaunt angesehen. "Um das noch einmal klarzustellen: ich will mit keinem Wort behauptet haben, Herr Wels habe meinen Sohn umgebracht! Aber auch wirklich mit gar keinem Wort! Ich habe lediglich sagen wollen, dass Sie den Mörder meines Sohnes mit Sicherheit in diesem schäbigen Schwulenmilieu zu suchen haben. Sonst habe ich gar nichts behauptet."

Bremminger hatte dann seinen Notizblock geschlossen. "Gut, lassen wir es für heute. Aber haben Sie vielleicht ein Bild von diesem Wels?"

Frau Brenner war dann sofort aufgestanden, hatte gesagt, sie wisse es nicht ganz genau, hatte den Raum verlassen und war kurz darauf mit einer Brieftasche zurückgekommen. "Dies sind die Papiere meines Sohnes. Wenn er ein Bild von Wels hat, dann ist es am ehesten hierbei."

Natürlich hatten sie in der Brieftasche ein Bild von Wels gefunden; Bremminger hatte es sofort an sich genommen und gesagt, es werde für die weiteren Ermittlungen gebraucht. Anschließend hatten sie noch die Räume inspiziert, in denen Carl Brenner gewohnt hatte. Gefunden hatten sie nichts. Auf die Tatsache, dass es sich um die Wohnräume des Juniorchefs einer großen Spedition gehandelt hatte, hatte aber auch wirklich gar nichts hingewiesen.

Als sie sich schon verabschiedet und an der Tür gestanden hatten, hatte Bremminger plötzlich gefragt: "Ach, Frau Brenner, seit wann ist Ihr Sohn eigentlich zuckerkrank gewesen?"

Die Frau hatte ihn erstaunt angesehen. "Carl war nie zuckerkrank. Weshalb fragen Sie?"

"Weil er mit einer gehörigen Dosis eines Diabetesmittels vergiftet wurde. Ich dachte, Sie wüssten das."

"Nein, woher denn?"

Bremminger hatte wie geistesabwesend den Kopf geschüttelt. "Ich dachte, ich hätte es Ihnen gesagt."

"Nein, haben Sie nicht."

"Dann haben Sie wohl auch nicht danach gefragt. Ihr Sohn ist jedenfalls durch dieses Medikament in einen Schockzustand geraten, was dann den Unfall verursachte. Man kann dieses Mittel übrigens kaum nachweisen. Es war, wenn Sie so wollen, ein Glücksfall, dass wir es konnten."

Die Frau hatte in diesem Augenblick ihre Selbstsicherheit ganz offensichtlich verloren und sogar einen ängstlichen Eindruck gemacht. Ihr Blick war auf Bremminger gerichtet gewesen, als dürfe ihr nichts entgehen von dem, was er sagte. So wie jemand, der darauf gefasst sein musste, dass der andere ihm eine Falle stellte.

"Was war Ihr Sohn überhaupt für ein Mensch?"

"Das habe ich Ihnen doch gesagt."

"Sie haben bis jetzt nur gesagt, dass er in homosexuellen Kreisen verkehrte. Und das haben Sie sogar sehr ... sehr bereitwillig erklärt. Aber ich meine, war er ein lustiger Mensch, war er eher depressiv, konnte er sich durchsetzen? So etwas meine ich."

Wie jemand, der nach einer kurzen Hilfestellung den Faden wiedergefunden hatte, war auch Frau Brenner zu ihrer ursprünglichen Selbstsicherheit zurückgekehrt. "Carl war ein Träumer, vielleicht sogar ein Spinner. Durchaus kein typischer Geschäftsmann, wenn Sie wissen, was ich meine."

"Aber Ihr Gatte, der war ein typischer Geschäftsmann?"

"Das will ich wohl meinen."

"Ist er eigentlich schon entmündigt?"

Börner konnte sich nicht mehr daran erinnern, was die Frau genau auf diese Frage geantwortet hatte. Er wusste nur noch, dass sie zunächst die über eine derartige Frage Empörte gespielt, die Frage letztlich aber hatte bejahen müssen. Weitere Erklärungen hatte sie dann nicht mehr abgeben können, weil Bremminger sich verabschiedet hatte und gegangen war.

Am frühen Nachmittag waren Bremminger und er nach Dortmund gefahren, zur Wohnung von Wels. Frau Brenner hatte ihnen die Adresse gegeben.

Auch Wels wohnte noch bei den Eltern, aber das Milieu war sehr unterschiedlich von dem der Brenners. Die Familie wohnte in einem ziemlich heruntergekommenen Mehrfamilienhaus aus den 50er Jahren im Stadtteil Dorstfeld. Der Mann war Rentner. Früher hatte er bei einer Firma als Schlosser gearbeitet.

Die beiden alten Leute hatten beim Auftauchen der Polizei einen völlig verstörten Eindruck gemacht; sie waren erst am Morgen aus dem Urlaub irgendwo an der Mosel zurückgekommen und hatten ihren Sohn noch gar nicht gesehen. Über den vergangenen Abend konnten sie natürlich keine Auskünfte geben.

Nachdem sie die näheren Umstände erfahren hatten, war überhaupt erst klar geworden, dass sie von allem nicht die geringste Ahnung hatten. Den Namen Brenner hatten sie noch nie gehört, und auf Bremmingers Bemerkung: "Ihr Sohn steht in dem dringenden Verdacht, den Tod des Herrn Brenner verursacht zu haben", hatte Frau Wels plötzlich angefangen zu weinen.

Dann hatten sie noch in Erfahrung gebracht, dass Wels Diabetiker war. Ja, hatte die alte Frau gesagt, ihr Sohn sei zuckerkrank; das habe er wahrscheinlich von ihr geerbt. Und dann hatte die völlig verwirrte Frau ihnen auch noch das Medikament gebracht, welches ihr Sohn täglich benötigte.

Als sie gegangen waren, war die Wohnung der beiden alten Leute immer noch von der Spurensicherung auf den Kopf gestellt worden; und während sie durch den nach Mittagessen riechenden Hausflur, von dessen Wänden die Farbe abblätterte, zum Wagen zurückgegangen waren, war Börner sich vorgekommen wie ein Schwein.

Noch am Nachmittag war dann eine Pressenotiz an alle Zeitungen gegangen, die am nächsten Tag in den Lokalteilen mehrerer Städte erschienen war. Am Schluss hieß es: "Dringend der Tat verdächtigt und gesucht wird der 25jährige Landschaftsgärtner Raimund Wels aus Dortmund."

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