Читать книгу Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi - Thomas Kanger - Страница 10

6

Оглавление

Elina Wiik empfand keinen Enthusiasmus für die Arbeit des Tages. Die Chance, dass sich bei der Annahme der Hinweise etwas ergeben könnte, schien gering. Da waren die Voraussetzungen für die Befragung an den Türen schon besser. Andererseits war Peter Adolfsson auf dem Revier erschienen. Seine Angaben hatten dazu geführt, dass sie konkreteren Fragen nachgehen konnten. Aber ihre Rolle in dem Ganzen erschien ihr gar zu passiv. Bestenfalls war sie eine Zuhörerin. Nicht eine Denkerin oder Sucherin. Nicht das, was sie sein wollte. Sie fuhr mit ihrem eigenen Auto, es war ein drei Jahre alter Micra, nach Surahammar und parkte vor dem Polizeirevier. Sie steckte die Autoschlüssel in die Hosentasche und schaute zur Fußgängerzone. Dann beschloss sie, zum Bürgerhaus zu gehen. Die blauweiß gestreiften Absperrbänder hingen durch, waren aber noch nicht entfernt. Ein uniformierter Polizist war nicht zu sehen, aber die Leute von der Spurensicherung waren schon bei der Arbeit. Sie hörte, wie sie sich hinter den Resten der Ziegelsteinfassade unterhielten. Sie blieb stehen und schaute fast fünf Minuten hin.

Man muss sich das Gefühl für das Verbrechen bewahren, dachte sie. Jemand hat Feuer gelegt. Dort drinnen ist ein Mensch ums Leben gekommen.

Die Fußgängerzone war fast menschenleer. Elina sah sich um. Gegenüber vom Bürgerhaus gab es zwei Supermärkte. Aber die Schaufenster des einen Ladens waren leer. Das Geschäft war aufgegeben worden. Für die Bewohner von Surahammar reichte offenbar ein Supermarkt im Zentrum.

Vor einem Zeitungsladen, der in einem normalen Mietshaus untergebracht war, hingen Schlagzeilenplakate. Elina las die Überschriften. Drei handelten vom Brand. Die Länstidningen teilte mit, dass eine Person tot aufgefunden worden war und Werte für über zwanzig Millionen verbrannt waren. Die Aushänger der beiden Abendzeitungen enthielten die Ausdrücke »Nazis« und »Bürgerhaus« in fetten Buchstaben. Im Weiteren unterschieden sie sich ein wenig. Die eine Zeitung brachte das Wort »Brandstiftung« in gleich großer Schrift, während die andere sich mit einem etwas kleineren »Großbrand« begnügte. Elina ließ es, das Kleingeschriebene zwischen dem Fettgedruckten zu lesen.

Jan Niklasson war zwanzig Minuten später von Västerås losgefahren, zusammen mit seinen drei Kollegen, die die Türen abklappern sollten. Vorher hatte er Agestål erreicht. Weder er noch Karlsson konnten sich erinnern, in der Brandnacht einen großen Mercedes gesehen zu haben. Der Bescheid vom Rettungsdienst würde noch auf sich warten lassen, da es sich um eine große Anzahl von Feuerwehrleuten aus vier verschiedenen Orten handelte, die kurz nach dem Alarm im Einsatz gewesen waren.

Sie teilten die Straßen unter sich auf und fingen an. Niklasson ging zusammen mit Henrik Svalberg, einem jungen Kriminalassistenten, der gerade erst im Dezernat angefangen hatte.

»Was hältst du von der Sache?«, fragte Svalberg, der noch nie an so einer Befragungsaktion teilgenommen hatte.

Niklasson schaute an einem dreistöckigen Haus hinauf.

»Hier wohnen viele alte Leute. Ich bezweifle, dass einer von ihnen etwas gesehen hat. Wir müssen auf Schlafprobleme hoffen und auf Hunde, die mal rausmüssen.«

Er wandte sich zu Svalberg.

»Ich finde, wir arbeiten uns von unten nach oben die Treppen rauf«, sagte er. »Falls jemandem hinterher noch was einfällt, kann er uns auf dem Weg nach unten abfangen. Dann brauchen sie uns nicht hinterherzulaufen. Viele sind geistig wahrscheinlich beweglicher als mit ihren Beinen.«

Die beiden ersten Stunden der Befragungen ergaben nichts. Niklasson hatte Recht gehabt; die meisten, die die Tür öffneten, waren Rentner. Viele wohnten allein. Alle außer einem hatten die Feuersbrunst verschlafen. Der Einzige, der behauptete, wach gewesen zu sein, hatte nichts gesehen. Niemand wusste etwas über den Mercedes.

»Eugenia Lindberg«, las Svalberg an einer Tür im dritten Stock eines roten Ziegelsteinhauses. Eine grauhaarige Dame mit Hörgeräten in beiden Ohren öffnete die Tür.

»Wie bitte? Ich hab keinen Mercedes!«, schrie sie, nachdem sie sich Svalbergs Ausführungen angehört hatte. »Ist er gestohlen worden?«

Svalberg machte einen Schritt rückwärts und antwortete, das glaube er nicht.

»Möchte wissen, wie sie die Treppen schafft«, sagte er zu Niklasson, als die alte Dame die Tür geschlossen hatte.

In der Nachbarwohnung lebte M. Mattila, dem Namensschild auf dem Briefeinwurf nach zu urteilen. Ein hellhaariger Mann um die dreißig öffnete die Tür. Niklasson stellte sich vor.

»Matti«, sagte der Mann, ohne zu erklären, ob es sein Vorname oder eine Abkürzung des Nachnamens war.

»Es geht um den Brand im Bürgerhaus«, sagte Niklasson.

»Das hab ich mir schon gedacht. Kommen Sie herein, wie kann ich Ihnen helfen?«, sagte der Mann, der sich Matti nannte.

Er sprach ohne den leisesten finnischen Akzent und in unverkennbarem Dialekt der Gegend.

Niklasson und Svalberg betraten eine kleine, aber gut möblierte Wohnung. Im Fenster des Wohnzimmers hing ein Vogelbauer mit zwei Wellensittichen. Niklasson fragte den Mann, ob er zu irgendeinem Zeitpunkt in der Brandnacht wach gewesen war.

»Ich habe einen guten Schlaf«, antwortete Matti. »Und als ich morgens aufwachte, hab ich wahrscheinlich nichts gesehen, was mit dem Brand zu tun hatte. Nur die Reste vom Bürgerhaus, als ich nach draußen gegangen bin. Aber das haben ja wohl alle in der Gegend gesehen, die noch über ihre Sehfähigkeit verfügen. Mir sind noch nie so viele Leute da draußen begegnet wie gestern Morgen.«

Niklasson fragte, ob er etwas von einem großen älteren Mercedes wüsste.

»Ein Zweiachtziger?«

»Ja, ein Mercedes 280 SE. Aus den siebziger Jahren.«

»Smiley hat so einen. Wussten Sie das nicht? Dann sind Sie nicht aus Surahammar.«

Das bestätigte Niklasson und fragte, wer Smiley sei.

»Eigentlich heißt er natürlich nicht so. Ismail heißt er. An seinen Nachnamen erinnere ich mich nicht. Alle nennen ihn Smiley, weil er so häufig lächelt. Ein fröhliches Kerlchen. Und sein Name klingt ähnlich wie sein Vorname. Ihm gehören der Pub und die Diskothek unten in der ›Scheune‹. Da gibt’s auch gutes Essen. Dicke Steaks. Ich hab ein paar Mal für ihn gearbeitet, bin eingesprungen, als er Hilfe brauchte. Sonst bin ich seit zwei Jahren arbeitslos, obwohl ich eine Berufsausbildung habe. Hoffnungslose Lage. Ich muss hier wegziehen, wenn ich einen Job haben will.«

»Die ›Scheune‹?«, fragte Niklasson, um zum Thema zurückzukehren.

Matti zeigte unbestimmt auf die Straße hinaus.

»Unterhalb der Sporthalle. Rappelvoll an den Wochenenden. Die Leute kommen von überall her. Hallsta, Ramnäs und Sura natürlich. Seit er das Lokal vor ungefähr einem Jahr eröffnet hat, fahren viele Jugendliche am Wochenende nicht mehr nach Västerås. Ein echter Einsatz für die Kultur.«

»Wieso ist er der Polizei in Surahammar bekannt?«, fragte Niklasson.

»Nicht weil er was angestellt hat«, antwortete Matti. »Aber in einem Pub, in dem freitagabends getanzt wird, gibt’s leicht Zoff. In der letzten Zeit ist es etwas ruhiger gewesen«, fuhr Matti fort. »Weniger Leute. Ich war selbst einige Male in der neuen Disko im Bürgerhaus. Zum Testen. War auch in Ordnung. Aber jetzt ist es vorbei. Nach dem Brand, meine ich.«

Niklasson bedankte sich und sie gingen.

»Was bedeutet das?«, fragte Svalberg, als sie auf die Straße kamen.

»Ich weiß nicht«, sagte Niklasson, »nur dass der lächelnde Mercedes-Besitzer demnächst Besuch kriegt.«

Jönsson und Enquist blieben in Västerås, um die in der Polizeisprache genannte innere Fahndung zu betreiben. Sie schlugen in diversen Registern nach. Zwei von den fünf Mercedes 280 SE, die in Västerås registriert waren, gehörten Autohändlern, die ihr Büro offenbar in der Tasche mit sich herumtrugen, da die Firmenadresse mit der Wohnungsadresse identisch war. Enquist bekam sie per Telefon heraus. Beide gaben an, die Autos seien noch nicht verkauft und hätten in der Nacht zum Donnerstag auf einem eingezäunten Platz gestanden.

»Aber vielleicht ist es ganz allein wie ein Fliegender Holländer rausgefahren«, hatte einer von beiden gesagt und laut über seinen eigenen Witz gelacht.

Beide Autohändler waren wegen Steuervergehens verurteilt. Einer der Privatbesitzer der Västerås-Autos war ebenfalls wegen anderer Vergehen verurteilt. Im letzten Jahr, Trunkenheit am Steuer. Ein vierunddreißigjähriger Mann. Sein Auto war allerdings grün.

Die anderen beiden Mercedes-Besitzer in Västerås schienen unbescholtene Bürger zu sein. Sie waren um die sechzig und passten nicht zur Beschreibung des Kanistermannes.

Keiner der Besitzer der beiden Autos in Surahammar war polizeibekannt. Auch der Gerichtsvollzieher hatte keine Forderungen an sie. Der Jüngere von ihnen, Andreas Mårtensson, besaß eine Privatfirma mit Namen Kalender Media. Der Ältere, Ismail Mehmedović, war Alleinbesitzer der »Scheune« und einer Restaurant AG. Beide gaben in der Einkommensteuer niedrige Einkommen an, hatten jedoch keine Steuerschulden. Andreas Mårtensson war schwedischer Mitbürger. Ismail Mehmedović hatte eine Daueraufenthaltsgenehmigung für Schweden. Er war 1993 aus Bosnien gekommen. Sein Geburtsort hieß Banja Luka.

»Was sollen wir mit denen machen?«, fragte Enquist.

»Ich finde, wir fangen mit den Einwohnern von Surahammar an«, sagte Jönsson. »Wir arbeiten uns von innen nach außen. Wenn wir in Surahammar nicht fündig werden, nehmen wir uns Västerås und den Rest des Landes vor.«

Er sortierte die Ausdrucke in zwei Haufen.

»Kalender Media«, sagte Egon Jönsson, ohne seinen Satz zu beenden.

Er blätterte in seinem Notizbuch auf der Suche nach der Handynummer von Evert Bergman. Der Name und eine Notiz über den »Sekr. in der Verwaltung des Bürgerhauses« standen auf einem anderen Blatt zusammen mit einer 070-Nummer.

Er drückte die Nummer. Nach zweimaligem Klingeln meldete sich jemand.

»Jönsson von der Kriminalpolizei. Können Sie sich erinnern, Geschäfte mit einem Unternehmen namens Kalender Media gemacht zu haben? Es gehört einer Person mit Namen Andreas Mårtensson.«

Eine Weile blieb es still.

»Ich denke nach«, sagte Evert Bergman. »Keine Geschäfte; aber ich erinnere mich, dass er uns einige Male Angebote für Kataloge und Werbematerial gemacht hat. Für Ausstellungen über Rassismus zum Beispiel. Aber die Aufträge sind an ein anderes Unternehmen gegangen, das unserer Meinung nach bessere Konditionen hatte. Ich könnte der Sache nachgehen, wenn Sie möchten. Ist es wichtig?«

»Nur eine Routinekontrolle. Aber ich hätte gern eine definitive Antwort. Wie ist es mit einer Person namens Ismail Mehmedović? Er besitzt ein Lokal mit Namen ›Scheune‹, ein Pub und ein Restaurant.«

»Der Name sagt mir nichts«, antwortete Evert Bergman. »Aber die ›Scheune‹ kenne ich natürlich. Mit dem Pub oder seinem Besitzer hatten wir allerdings keinen Kontakt.«

»Dann vielen Dank«, sagte Egon Jönsson und legte auf.

Er wandte sich an Enquist und gab wieder, was Evert Bergman gesagt hatte.

»Diese Kerle müssen wir uns mal anschauen. Wir fangen mit Andreas Mårtensson an. Gleich morgen früh.« An diesem Tag waren nur wenige Personen in das Polizeirevier von Surahammar gekommen. Elina Wiik schaute auf die Uhr. Es war zwei Minuten vor fünf.

Bald Zeit, nach Hause zu fahren, dachte sie.

Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und dachte darüber nach, was Peter Adolfsson gesagt hatte. Die Abschrift der Zeugenaussage hatte sie nicht gelesen, nur Egon Jönssons Zusammenfassung auf der 8-Uhr-Konferenz gehört. Jönsson schien restlos überzeugt zu sein.

Sie war eher unsicher. Zwar wusste sie, dass das erste spontane Verhör der Wahrheit meistens am nächsten kam, aber mehrere Stunden nach dem Ereignis war es anders. Der Zeuge hatte Zeit zum Nachdenken gehabt. Die Worte waren gut zurechtgelegt.

Alle Menschen verraten mehr, als sie aussprechen, überlegte sie. Manchmal kann man das, was hinter der Aussage steht, von der Körpersprache ablesen, an der Art, wie sie Pausen machen, am Zögern oder an Gefühlsreaktionen. Häufig reicht das erste Verhör nicht.

Man muss genau hinhören. Auf eine »zweite« Stimme, wie schwach sie auch sein mag. Die Wahrheit ist das reinste aller Lieder.

Peter Adolfsson war zweifellos ein Musterzeuge. Er erinnerte sich an viele wichtige Details und gab sie gewissenhaft wieder. Aber warum ist er so spät gekommen? Hat er gezögert, überhaupt zu erzählen, was er gesehen hatte?

Sie hatte keine Antworten. Trotzdem grämte es sie, dass sie bei der Lösung des Falles nicht dabei sein durfte. Aber jetzt war Wochenende und sie hatte frei.

Sie hob den Hörer ab und tippte eine 021-Nummer.

»Aros Rechtsanwaltbüro, Susanne Norman«, meldete sich jemand am anderen Ende.

»Hallo, Susanne, hier ist Elina. Ich bin auch noch im Dienst. Stör ich dich?«

»Nein, ich packe gerade ein und will gehen. Emilie ist bei Johan.«

»Oh, wie geht’s dem Herzchen?«

»Redest du von Johan?« Susanne Norman lachte. »Emilie geht es prima. Sie hast du doch wohl gemeint? Gestern hat sie ihre ersten Schritte gemacht. Ich brauchte sie nur ein bisschen festzuhalten.«

»Du hast doch nicht vergessen, dass wir morgen verabredet sind?«

»Ich hab’s nicht vergessen. Um sieben bin ich bei dir. Ich freu mich schon. Das letzte Mal scheint Ewigkeiten her zu sein.«

Elina Wiik legte auf, hob aber gleich wieder ab und rief Egon Jönsson an. Sie berichtete, dass sie nichts Bemerkenswertes erfahren hatte an diesem Tag. Egon Jönsson teilte ihr mit, dass eventuelle Tipps von nun an im Revier in Västerås oder Hallstahammar entgegengenommen wurden.

»Vielen Dank für deinen Arbeitseinsatz«, sagte er und legte auf.

Aha, dachte Elina, das war’s also für mich.

Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi

Подняться наверх