Читать книгу Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi - Thomas Kanger - Страница 11
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ОглавлениеSamstagmorgen um neun stand Elina Wiik nackt in einem ziemlich kalten Raum. Sie öffnete ihre Tasche und holte Slip und Sport-BH heraus. Dann zog sie eine weiße locker sitzende Hose aus kräftigem Baumwollstoff und eine dazu passende Jacke an. Um die Hüfte band sie einen schwarzen Gürtel.
Die Kleidung war verschlissen, aber frisch gewaschen und gebügelt. Auf der Schwelle zwischen Umkleideraum und Gymnastiksaal blieb sie stehen und verbeugte sich leicht.
»Osu«, sagte sie.
»Osu«, antworteten zwei Männer, die ihre Waden an einer Sprossenwand stretchten. Der eine trug einen braunen Gürtel und der andere einen grünen.
Elina kniete sich hin, schloss eine Weile die Augen und beugte sich dann vor, die Handflächen auf dem Fußboden. Sie hoffte, dass Sadegh, der mit dem braunen Gürtel, gegen sie antreten würde. Das würde ein zwei Stunden währendes steinhartes Training bedeuten. Dabei könnte sie ihre Frustration darüber vergessen, dass sie nicht mehr an der Brandermittlung beteiligt war. Sadegh passte gut zu ihr, er war ungefähr so groß wie sie und hatte einen disziplinierten Schlag.
Für Elina ging es beim Training jetzt in erster Linie um Willenskraft. Es war nicht leicht gewesen, die Intensität durchzuhalten, seitdem sie ihre Wettkampfkarriere beendet hatte. Der Höhepunkt vor einigen Jahren war Bronze bei den nordischen Meisterschaften gewesen. Aber jetzt wollte sich der Körper nicht mehr jeder Herausforderung unterwerfen. Muskeln und Sehnen strafften sich und leisteten Widerstand.
Nicht nur das Alter hatte sie veranlasst, mit den Wettkämpfen aufzuhören. Als sie anfing, in Fällen von Frauenmisshandlung zu ermitteln, musste sie rasch erkennen, dass sie nicht mit blauen Flecken im Gesicht zu den Verhören erscheinen konnte. Denn obwohl der Gegner mit seinen Schlägen nicht das Gesicht treffen durfte, war Karate ein Sport, der häufig Schmerzen bereitete. Nicht alle hatten ihre Schlaglänge so unter Kontrolle wie Sadegh.
Nach dem Aufwärmen wendeten sie über eine Stunde die Grundtechniken aneinander an. Dann eine halbe Stunde kumitte. Kampf Mann gegen Mann. Sie hörten erst auf, als sie beide total durchgeschwitzt waren und aus reiner Müdigkeit unkonzentriert wurden.
»Osu, danke«, sagte Elina und verbeugte sich.
»Osu, danke«, antwortete Sadegh.
Elina wusste, dass er im Iran ein Ingenieurstudium abgeschlossen hatte. Er konnte Englisch, Deutsch, Persisch und lernte jetzt Schwedisch für Einwanderer. Sie war überzeugt, dass er gut zurechtkommen würde, wenn er nur erst die Sprache beherrschte.
Ich könnte etwas von seiner Zielstrebigkeit brauchen, dachte sie, im Job und im Privatleben.
Nachdem sie ihre Sporttasche zu Hause abgestellt hatte, spazierte sie zum Zentrum. Die Stora Gatan war voller Menschen. Zwischen den Häusern hingen Wimpel an Leinen. Die Sonne schien und es war erst das zweite Wochenende nach der Gehaltsauszahlung, viele hatten also noch genügend Geld. Elina wollte sich für den Abend ein neues Kleid kaufen. Sie freute sich darauf, Susanne allein zu treffen, ohne Ehemann und Kind.
Eigentlich waren sie ein ungleiches Freundinnenpaar. Elina hatte Susanne Ekblom, wie sie damals hieß, bei einem Prozess kennen gelernt. Der Angeklagte war der Ehemann jener schwer misshandelten Frau gewesen, die den Beginn von Elinas Karriere als Kriminalermittlerin eingeleitet hatte. Susanne war die Rechtsanwältin des Mannes gewesen. Nach dem Prozess war sie auf Elina zugekommen und hatte ihr die Hand gegeben. Sie hatte gesagt, sie habe verstanden, warum Elina die Frau unterstützt habe, und dass es wichtig sei, ganz abgesehen von der Schuldfrage.
Elina hatte die Geste gefallen und geantwortet, sie gehöre nicht zu den Polizisten, die Rechtsanwälte schief anschauten, weil es ihnen manchmal gelang, einen Freispruch für offenbar schuldige Rüpel durchzusetzen. Jeder hat seinen Platz im Rechtssystem, hatte sie gesagt und vorgeschlagen, zusammen eine Tasse Kaffee zu trinken.
Es stellte sich heraus, dass sie beide am selben Tag geboren waren, am 24. Februar 1969. Seitdem fühlten sie sich wie Zwillingsseelen, obwohl sie sich kein bisschen ähnlich sahen. Elinas dunkle Haare waren kurz geschnitten und sie hatte grün melierte Augen, während Susanne hellblond war und die Welt mit klarblauen Augen betrachtete. Außerdem war Elina mindestens zehn Zentimeter größer.
Sie hatten angefangen, sich zu treffen, und auf der gemeinsamen Feier ihres dreißigsten Geburtstages hatte es zwischen Susanne und einem Rechtsanwaltkollegen, Johan Norman, gefunkt. Jetzt waren sie verheiratet und Elina war Patin der einjährigen Tochter Emilie. Dieser Samstagabend sollte der erste sein, an dem Elina und Susanne seit Emilies Geburt allein ausgingen.
Elina Wiik machte ihre übliche Runde durch die Boutiquen der Innenstadt in der eitlen Hoffnung, etwas zu finden, was sie in die Prinzessin des Abends verwandelte. Hennes & Mauritz in der Vasagatan war ihre absolut letzte Anlaufstelle. Sie schob die Kleiderbügel hin und her, als ihr eine Frau in der Schlussverkaufabteilung auffiel. Die Frau mochte um die fünfundvierzig sein und trug ein grünes Kleid. Elina folgte ihr mit Blicken. Zerstreut hob die Frau ein paar Kleidungsstücke an, die in einem Korb lagen. Sie trug einen Schal um den Kopf. Als sie sich reckte, sah Elina einen blauen Fleck gleich oberhalb des Handgelenks.
Langsam ging die Frau an den Kleidern entlang und zupfte an einigen Blusen. Elina folgte ihr. Als die Frau auf die Rolltreppe zuging, ein wenig entfernt von anderen Menschen, näherte sich Elina ihr von hinten.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich aufdränge«, sagte sie. »Aber ich bin Polizistin und kann Ihnen vielleicht helfen.«
Die Frau drehte sich nicht um. Stattdessen entfernte sie sich rasch von Elina.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Elina und streckte die Hand aus. »Wir können irgendwo hingehen und uns unterhalten.«
»Ich will nicht«, sagte die Frau, ohne sich umzudrehen. »Mir kann keiner helfen.«
»Sie brauchen sich nicht schlagen zu lassen«, sagte Elina verzweifelt.
Die Frau ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Elina sah ihr lange nach. Dann verließ sie das Geschäft. Der Kleiderkauf erschien ihr jetzt nicht mehr so wichtig.
Susanne kam Viertel nach sieben, und nach einer Flasche Wein und viel Erzählen von der kleinen Tochter gingen sie ins Tanzlokal »Klippan« zum Essen. Beide wurden fleißig aufgefordert, und sie tanzten mit allen, die nicht offensichtlich angetrunken waren.
»Wenn man ins ›Klippan‹ geht, darf man nicht wählerisch sein«, sagte Susanne über die Männer im Lokal.
Nach einigen weiteren Gläsern Wein beklagte sie sich ein wenig darüber, dass ihr Sexleben seit der Geburt ihres Kindes etwas träger geworden war. Sie schaute auf den Tisch und schwieg eine Weile. Sie fingerte an ihrem Glas.
»Und ... wie geht es dir?«, fragte sie und schaute vorsichtig auf. Sie war die Einzige, die von Elinas Verhältnis mit Martin wusste, sie wusste aber auch, dass Elina nicht gern darüber sprach.
Soll ich ihr erzählen, wie es ist?, dachte Elina. Wie jämmerlich und ungeheuerlich es ist. Was hab ich zu verlieren, wenn ich mich Susanne anvertraue? Wenn ich mich nicht auf sie verlassen könnte, brauchten wir uns gar nicht mehr zu treffen. Ich sollte ... ich ...
»Es ist okay«, antwortete Elina lächelnd.
Susanne legte die Hände auf den Tisch und lehnte sich zurück.
»Wie schön«, sagte sie mit ausdrucksloser Miene.
Elina bereute ihre Antwort sofort.
»Wir gehen, es ist spät«, sagte Susanne.
Als sie auf die Straße kamen, nahm Elina Susannes Hand.
»Susanne«, sagte sie, »sei trotzdem meine Freundin, auch wenn es mir schwer fällt, über manche Sachen zu sprechen. Ich wünschte, ich wäre wie du und hätte es wie du.«
Susanne nickte. Sie gab Elina einen festen Händedruck, bevor sie sich trennten.
Möge ich nie einsam sein, dachte Elina. Sie erwog, Martin über sein Handy anzurufen, ließ es dann aber.
Um Viertel vor eins schlief sie in ihrem Bett ein.