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Mikael Adolfsson drehte den Kopf und schaute auf die Uhr, die auf dem Fußboden neben seinem Bett stand. Nichts hatte ihn geweckt. Dabei waren es noch zwei Stunden und fünfzehn Minuten, bis er aufstehen musste. Er streckte die Hand aus und drückte auf »Off«. Das Wecksignal war nicht mehr nötig.

Jeden Samstagabend wurden die Wecker im Haus gestellt. Um acht Uhr sollte die Ruhe des Sonntagmorgens für alle beendet sein. Die anderen schliefen bis dahin durch. Die Eltern in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Peter in seinem Zimmer, das eigentlich nur eine umgebaute Kleiderkammer mit Dachfenster war. Stina in ihrem Zimmer. Keiner der anderen hatte am Wochenende Schwierigkeiten mit der unterbrochenen Alltagsroutine des Frühaufstehens. Aber Mikael wurde immer zu früh wach.

Er stand sofort auf und zog Jeans und Pullover an. Später würde er sich umziehen. Er ging hinunter ins Bad und klappte die Toilettenbrille auf. Die Porzellanschüssel war voller gelber Flecken.

Als er fertig war, drehte er sich um und begegnete seinem Gesicht im Spiegel vom Badezimmerschrank. Sein Blick wanderte über das Spiegelbild und blieb am rechten Ohr hängen.

»Ein Ring im Ohr«, sagte er leise und kniff sich fest ins Ohrläppchen. »Wenn ich ausziehe.«

In der Diele zog er Schuhe an und ging zum Schuppen hinaus. Ganz oben auf einem Regal links von der Tür stand eine Kiste. Er grub ein dickes Comicheft hervor. Es hieß »Wikingerblut« und auf dem Umschlag töteten zwei große blonde Männer einen dunkelhäutigen Mann mit Schwertern. Er nahm das Heft mit ins Haus, legte es auf die Plastikdecke vom Küchentisch, setzte sich und fing an zu lesen.

Zwei Stunden später klingelten die Wecker in drei Zimmern fast gleichzeitig. Er erhob sich, ging wieder in den Schuppen und versteckte das Comicheft im Regal. Als er ins Haus zurückkehrte, kam seine Mutter die Treppe hinunter. Unter dem verwaschenen Frotteemorgenmantel sahen ihre Waden hervor. Ohne ein Wort ging sie an ihm vorbei in die Küche und stellte eine Kochplatte an.

Der Vater kam erst herunter, als der Frühstückstisch gedeckt war. Er setzte sich an die Schmalseite des Küchentisches. Peter und Stina kamen gleich danach und setzten sich an die eine Längsseite, gegenüber von Mikael und der Mutter.

Wortlos aß Mikael seine Cornflakes mit Milch. Nach dem Frühstück ging er in sein Zimmer und zog sich um. Der Schlips war schon geknotet, er brauchte die Schlinge nur über den Kopf zu legen und den Knoten unter dem weißen Kragen festzuziehen. Dann setzte er sich aufs Bett. Er saß ganz still und reduzierte seinen Atem, bis Brust und Bauch sich fast nicht mehr bewegten. Eine Stunde und zehn Minuten später hörte er die Stimme seines Vaters von der unteren Diele.

»Wir fahren jetzt.«

Sie quetschten sich in den Opel, der älter war als Peter, der Erstgeborene. Die Eltern auf den Vordersitzen und die Kinder hinter ihnen. Nur einmal in den fast vier Jahren, die sie in Surahammar wohnten, hatten sie den sonntäglichen Kirchbesuch ausgelassen. Es war ein Novembersonntag im letzten Jahr gewesen, da hatte der Vater Grippe gehabt. Einige Male im Jahr fuhren sie zur Zentralkirche, die einige Kilometer entfernt war. Aber dieser Sonntag war wie die meisten. Der Vater hatte schon am Abend vorher verkündet, dass sie in die Kirche im Ort gehen würden.

Von außen betrachtet unterschied sich das lokale Gemeindehaus kaum von einem gewöhnlichen Einfamilienhaus. Nur das Kreuz und ein kleines Schild verrieten, welche Art Räumlichkeit in dem roten Holzgebäude untergebracht war.

Im letzten Jahr hatte Mikael sich fast gar nicht mehr an den Freizeitaktivitäten der Kirchengemeinde beteiligt, während Peter in der Freizeit und auch sonntags aktiv war. Stina tat, was der Vater befahl, und beteiligte sich an allem, was von ihr verlangt wurde. Eine Diskussion darüber, dass er ganz aussteigen würde, hatte Mikael nie mit seinen Eltern gehabt.

Die Zusammenkunft fand Punkt zehn Uhr statt. Der Leiter der Gemeinde sprach. Er saß ganz vorn in einem Lehnstuhl in dem Raum, der einmal das Wohnzimmer des Hauses gewesen war. Vor ihm saßen sechzehn Menschen auf Holzstühlen.

Auf dem Schoß hatte der Leiter eine aufgeschlagene schwarze Bibel. Er rieb den Umschlagdeckel zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Kann jemand sagen, was Jesus damit gemeint hat?«

Mikael rutschte ein wenig auf dem Stuhl nach unten und senkte den Blick. Peter reckte die Hand, und nach seiner Antwort zu urteilen, hatte er zugehört und die Frage verstanden.

Eine Stunde später klappte der Gemeindeleiter die Bibel zu. Er glitt vom Stuhl und kniete nieder. Mikael und die anderen im Raum folgten seinem Beispiel und knieten sich hin.

»Gott Vater«, betete Mikael, verstummte dann aber.

Nach dem Kaffeetrinken in der Küche des Gemeindehauses stellte sich Margareta Adolfsson an die Spüle.

»Peter und ich bleiben«, sagte sie. »Es ist noch so viel zu tun für den Versammlungstag der ganzen Kirchengemeinde im nächsten Monat. Vater fährt mit Stina nach Hause. Willst du auch bleiben, Mikael?«

»Ich fahre mit Vater«, sagte Mikael.

»Dann kommt«, sagte der Vater, ohne jemanden von ihnen anzusehen. Er erhob sich, steckte die rechte Hand in die Hosentasche und holte die Autoschlüssel hervor.

Als sie vor dem Haus aus dem Auto stiegen, ging Mikael direkt in den Schuppen.

»Ich fahr in den Ort«, sagte er, ohne sich zum Vater umzudrehen.

»Aber sei zum Abendessen zu Hause«, sagte der Vater.

Mikael holte sein Fahrrad und schob es über den Kiesplatz vor dem Haus. Er fuhr auf der 252 in Richtung Norden, bog zum Kanal hinunter rechts ab, zum Ortskern. Über die Brücken und die Eisenbahngleise radelte er weiter bis zur Köpmangatan.

Er hatte fast jeden Tag trainiert, seitdem die Clique, mit der er zusammen war, ihn mit in den Sura Bodybuilding Club nahm. Anfangs hatte er es nur getan, um akzeptiert zu werden, so fremd, wie er im Ort gewesen war. Als die Kameraden ihn aufgefordert hatten, Anabolika zu nehmen, hatte er es getan, ohne je danach zu fragen, was er eigentlich in den Mund steckte.

Die Tabletten hatten nicht nur seine Muskeln schnell wachsen lassen, sondern auch sein Interesse am Training. Das harte Training nutzte er als Erklärung dafür, dass er am Wochenende nicht an der Biertrinkerei seiner Kameraden teilnehmen konnte. Aber der eigentliche Grund war, dass er nicht nach Bier riechend nach Hause kommen wollte.

Mikael hatte den Club erreicht, doch ehe er bremste, zuckte er plötzlich zusammen und schlug mit der rechten Hand auf den Gepäckträger. Die Tasche mit den Trainingsklamotten war nicht da.

»Scheiße!«, fluchte er.

Er drehte um und fuhr zurück. Vor dem Haus angekommen, legte er das Fahrrad auf die Erde und ging aufs Haus zu. Der Kies unter seinen Schuhen war kaum zu hören. Beim Zeitungaustragen frühmorgens hatte er gelernt, lautlos zu gehen, um niemanden unnötig zu wecken. Vor Peter hatte er einmal damit aufgeschnitten, dass er besser schleichen konnte als ein Indianer. Peter hatte geantwortet, er sei mindestens genauso gut darin.

In dem Moment, als er die Haustür öffnen wollte, wurde sie aufgerissen und Stina stürmte an ihm vorbei. Mikael drehte sich um und sah ihr nach.

»Wo willst du hin?«, rief er.

Er bekam keine Antwort und betrat die Diele, machte die Tür hinter sich zu und noch einen Schritt ins Hausinnere, blieb jedoch sofort wieder stehen. Vor ihm stand der Vater, ganz still.

»Wohin wollte Stina?«, fragte Mikael. »Sie ist einfach an mir vorbeigelaufen.«

Der Vater antwortete nicht. Mikael sah ihn an, drehte den Kopf und schaute zum Hofplatz und dann wieder den Vater an. Er machte einen Schritt rückwärts, drehte sich um und riss die Haustür auf. Von Stina war weder etwas zu hören noch zu sehen. Er zögerte einige Sekunden und lief dann nach links am Nachbarhaus vorbei und weiter zum Wald. Mit den Händen bog er Birkenzweige beiseite und zwängte sich hindurch. Hinter dem Wäldchen war ein Pfad. Er lief einige Schritte und stolperte über eine Kiefernwurzel. Seine Hose war über dem linken Knie aufgerissen. Er stand wieder auf und lief weiter.

»Stina! Ich bin’s, Mikael! Komm raus!«, schrie er.

Seine Stimme brach fast und das Atmen fiel ihm schwer. Der Pfad endete an einem kleinen See. Mikael blieb vor der blanken Wasseroberfläche jäh stehen.

»Stina«, sagte er leise vor sich hin. »Stina.«

Er begann, den Tümpel zu umrunden, hielt jedoch hinter einer kleinen Anhöhe inne. Sie saß ganz still auf einem Stein vor ihm. Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Sie sagte keinen Ton und schaute ihn nicht an.

»Was ist passiert, Stina?«, fragte er. »Sag, was los ist.«

Sie hob den Kopf und sah ihn an, als würde sie ihn nicht verstehen. Langsam ließ sie sich gegen Mikaels Schulter sinken.

»Komm, wir gehen nach Hause«, sagte er. »Du darfst in meinem Zimmer sein. Ich setz mich neben dich.«

Langsam gingen sie zurück durch den Wald. Als sie den Hofplatz erreichten, war der Opel weg. Mikael nahm die Schwester bei der Hand und führte sie die Treppe hinauf. Er schloss die Tür zu seinem Zimmer und richtete sein Bett.

Stina legte sich auf die Seite, das Gesicht der Wand zugekehrt und die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Ihre Arme umklammerten die Fesseln.

Nach einer Stunde war das Geräusch vom Opel auf dem Hofplatz zu hören. Er schaute aus dem Fenster und sah, dass Mutter und Peter ausstiegen. Der Vater verschwand aus seinem Blickfeld im Haus. Gleich darauf wurde die Tür zum Schlafzimmer der Eltern mit einem Knall geschlossen.

Mikael drehte sich zu Stina um, die immer noch in derselben Haltung auf dem Bett lag. Sie schien zu schlafen. Er nahm seine Trainingstasche und schlich hinaus. Im selben Augenblick wurde die Tür zum Elternschlafzimmer geöffnet. Der Vater füllte fast die ganze Türöffnung mit seinem Körper aus.

»Mikael«, sagte er leise, »hol Feuerholz, bevor du gehst.«

Mikael nickte und ging langsam die Treppe hinunter.

Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi

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