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1.3 Bildung als Wettbewerb?
ОглавлениеIntrinsische und extrinsische Motivation
Das Schulwesen verbindet zwei ganz verschiedene gesellschaftliche Funktionen: die Bildung der heranwachsenden Generation zu mündigen Staatsbürgern und, über das Selektionswesen, die Zuweisung der Schulabsolventen zu unterschiedlichen Berufslaufbahnen mit den entsprechenden sozialen Positionen. Die Selektion behindert die Schule bei der Erfüllung ihres ursprünglichen Auftrags: Sie wird zu einem Mittel für einen ihr äußerlichen Zweck. Bei den Schülerinnen und Schülern verdrängt eine extrinsische Motivation das Interesse, im Wettbewerb gut abzuschneiden und sozial aufzusteigen, die intrinsische, das Interesse am Gegenstand des Lernens (ILLICH 1973, GRONEMEYER 1997). Lernen unter Bedingungen des Wettbewerbs ist etwas Anderes als Lernen aus sachlichem Interesse, aus Neugier und Entdeckungsfreude. Gewinnen wollen ist nicht dasselbe wie erkennen wollen. Siegen ist eine Belohnung, Verlieren eine Strafe (KOHN 1989). Ehrgeiz wirkt zwar in allen Bereichen als Leistungsmotiv, es ist aber nicht sachbezogen, sondern bloß darauf gerichtet, besser zu sein als andere.
Sind Leistungen messbar?
Der Wettbewerb im Bildungswesen hat noch weitere Konsequenzen: Da er die Messbarkeit der verglichenen Leistungen voraussetzt, die meisten Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für Bildung von Bedeutung sind, sich aber nicht direkt messen lassen – Phantasie, räumliches Vorstellungsvermögen, Spontaneität, Schlagfertigkeit, Ausdauer usw. –, werden für den Wettbewerb statt der wesentlichen Fähigkeiten vor allem die messbaren trainiert (BINSWANGER 2010, S. 57).
„Dort, wo der Sportunterricht nicht ausfällt, erleben Schüler Auswüchse einer scheinbar unverwüstlichen Stoppuhr- und Metermaßmentalität.“ Das Fach Sport erinnert manchmal an „militärischen Drill (…) vergangener Zeiten, bei dem einige wenige Schüler am Reck, am Barren, beim Hochsprung, beim Weitwurf und beim Laufen glänzen, andere, ‚Unsportliche‘, demgegenüber als abschreckendes Beispiel dienen und sich dem regelmäßigen Gespött von Lehrkräften und Mitschülern ausgesetzt sehen (…). Wie soll sich unter solchen Bedingungen (…) jemals Freude am eigenen Körper, am Spiel und an der Bewegung entwickeln?“ (BAUER 2008, S. 44).
Bildung für den Wettbewerb
Mit der Globalisierung der Märkte ist die Konkurrenz zwischen den nationalen Ökonomien aggressiver geworden. Die Schule gerät zunehmend ins Gravitationsfeld ökonomischer Effizienz- und Innovationserwartungen. Enttäuscht sie diese, schadet dies ihrem Ruf. Es wird immer schwieriger, die Qualität einer Ausbildung unabhängig von ihrem Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaft zu würdigen.
Verbetrieblichung der Schule
Es liegt im Trend, dass Schulen das New Public Managment einführen. Dazu gehört, wie bei wirtschaftlichen Unternehmen, die „Gliederung der Führung von Schulen in einen strategischen und einen operativen Bereich“ – die Aufsichtsbehörde trifft „strategische“, die Schulleitung „operative“ Entscheidungen (DUBS 1996, S. 331). Schulen werden „teilautonom“, gewinnen damit an Flexibilität und Gestaltungsfreiheit, was wiederum „Effizienz und Effektivität“ erhöhen soll (ebd.). Problematisch an dieser Idee ist, dass die Schule selbst in die Schule geht – bei wirtschaftlichen Unternehmen, deren Business darin besteht, den Umsatz über die materielle Produktion zu steigern. Der einschlägige Jargon – „Outputorientierung“, „Ressourcen“, „Standards“, „Benchmarking“ – dringt ungefiltert ins Bildungswesen ein, was nicht den Eindruck erweckt, die Fremdbestimmtheit der Schulen nehme wirklich ab. Die technokratische Sprache verrät im Gegenteil einen Trend zur Uniformierung von Bildungsprozessen: Ausbildungen werden in kleine „domain“- oder fächerspezifische Päckchen – „Module“ – untergliedert und nach vorgegebenen „Standards“ abgeprüft.
Die neue technokratische Sprache – Kostproben:
„Unter Berücksichtigung der angestrebten Effekte der angesprochenen Führungskonzepte auf die Geführten als Individuen und als Gruppe (Empowerment in Form individueller und kollektiver Selbstwirksamkeit; Entwicklung von Commitment gegenüber der Schule und der Tätigkeit; proaktives, altruistisches Verhalten; Vertrauen) wird besonders mit Blick auf die Voraussetzungen zum organisationalen Lernen in Schulen diese Zulässigkeit gesteigert.“
„Präziser ausgedrückt bedeutet Gefolgschaft erzeugen, das Fördern resp. Entwickeln (sprich beeinflussen) der individuellen und kollektiven Lernvoraussetzungen. Da mit dem Lernparadigma auf organisationaler Ebene das Anstreben konstanter Veränderung resp. Anpassung an neue Verhältnisse impliziert wird, soll (…) dem Begriff transformationale Führung Vorrang gegeben werden.“ (SCHÄFER 2004, S. 66, S. 68)
Hochschulen betreiben Marketing und Qualitätsmanagement, obwohl in der Öffentlichkeit weder ein Konsens darüber besteht, was Bildungsqualität überhaupt ist, noch auch nur eine Diskussion über diese Frage geführt wird. Der Imperativ, „Effizienzlücken“ zu stopfen, setzt Schulen unter Druck:
„Die Gymnasialzeit wurde ohne eine entsprechende Reduzierung des Lehrplans von neun auf acht Jahre verkürzt, was bedeutet, dass heute nahezu die gleichen Stoffmengen in einem deutlich verringerten Zeitkontingent,durchgezogen‘ werden müssen. Auch Grund- und Hauptschullehrer sollen wahre Wunder vollbringen: Den Mädchen und Jungen bereits in der Grundstufe die erste Fremdsprache lehren, die Begabten besonders fördern, gleichzeitig aber auch Kinder integrieren und unterstützen, die schwere Lern- und Verhaltensstörungen aufweisen (…). Die Folge von alldem ist: Schulen sind (…) Orte der ständigen Zeitnot und Hetze, Orte des Grauens“ (BAUER 2008, S. 46).
Wettbewerb zwischen Schulen
Landesweite Quervergleiche zwischen Schülerleistungen, die sich auf einige Fächer beschränken (in den PISA-Studien die Erstsprache, Mathematik und Naturwissenschaften), sollen zwar zur Vereinheitlichung der Lernziele und Lehrpläne beitragen. Das ist insofern positiv, als sich dadurch die Transparenz bei Leistungsvergleichen – eine notwendige Voraussetzung für Chancengleichheit – erhöht. Sie bergen aber auch Risiken: Der Quervergleich setzt Schulen unter erhöhten Profilierungsdruck und verstärkt die Tendenz, den Unterricht auf den Prüfungsstoff zu fokussieren. Das „Teaching to the test“ führt weg vom selbstgesteuerten Lernen und nähert sich der Konditionierung. Fähigkeiten, die nicht zum Prüfungsstoff gehören, droht eine Abwertung, und seien sie auch noch so wichtig. Besonders gefährdet sind die sozialen, handwerklich-gestalterischen und künstlerischen (musischen) Fähigkeiten. Ein weiterer Nachteil: Schulen, deren Schüler unterdurchschnittlich abschneiden, riskieren eine Stigmatisierung. Als beste Schule gilt diejenige, deren Absolventen die höchsten Standards erfüllen, nicht die, die ihre Schüler am intensivsten fördert. Das kann auch eine Schule sein, deren Klientel überwiegend aus einem schwierigen Milieu stammt und bei der Einschulung mit unterdurchschnittlichen Vorleistungen angetreten ist.
Bildungsqualität ist nicht messbar
Die Ausrichtung des Bildungswesens auf den Wettbewerb fördert zudem eigenartige Praktiken – besonders deutlich an Hochschulen und Fachhochschulen: Im Hochschul-Rating kommt es eher auf die Anzahl Studierender an als auf das Unterrichtsniveau, weil letzteres nicht messbar ist; und eher auf die Zahl wissenschaftlicher Publikationen als auf ihren Gehalt und ihre Originalität, weil diese ebenfalls nicht messbar sind (BINSWANGER 2010, S. 125–131, S. 140–179). Da die Menge an wissenschaftlichen Publikationen derzeit in schwindelerregender Weise wächst und die meisten Publikationen immer weniger Leser finden, kommt es häufig zu Betrügereien, wie Unterschlagung von Quellenbelegen, Kopieren langer Textpassagen, Delegieren akademischer Arbeiten an bezahlte Ghostwriter. Es entstehen Online-Zeitschriften, die die Autoren statt der Leser zur Kasse bitten, weil sie kaum Leser finden.
Die Kriterien für Anstand und Erfolg sind einander entgegengesetzt. Im Wettbewerb wird strategisches Verhalten stärker belohnt als die Ausrichtung auf Zusammenarbeit, Bluff gedeiht besser als Wahrhaftigkeit, die Neigung zu Täuschung und Irreführung, einschließlich der Lüge, besser als Ehrlichkeit. Dabei ist klar, dass Wissenschaft, wie Bildung, als kooperatives Unternehmen ohne die Selbstverpflichtung zur Wahrheit nicht gedeihen kann.
Kommerzialisierung von Bildung und Forschung
Die beschriebenen Trends sind weltweit beobachtbar. Forschung an Hochschulen und Fachhochschulen wird zunehmend privat finanziert, die Forschenden werden von den Geldgebern abhängig. Von einer Bank gesponserte Forschungsprojekte dürften kaum zu bankenkritischen Resultaten gelangen. Ein weiteres Indiz für die zunehmende Integration des Bildungswesens in die Sphäre der Wirtschaft ist der Trend zur Gründung von Privatuniversitäten und privaten Fakultäten. In wirtschaftlich stark expandierenden Regionen, vor allem Lateinamerikas und Afrikas, ist diese Entwicklung am auffälligsten. Man könnte sie auf den ersten Blick für das Indiz einer weltweiten Bildungsexpansion halten und begrüßen. Private Bildungshäuser müssen sich aber überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich, über Studiengebühren finanzieren, doch dummerweise sind die am besten betuchten Klienten nicht immer die begabtesten und motiviertesten. Manch ein Institut musste seine Tore wieder schließen, weil finanzstarke Kundschaft ausblieb. Die Versuchung ist deswegen nicht gering zu schätzen, kaufkräftige Kandidaten durch Prüfungen durchzuwinken, selbst bei ungenügender Leistung. Manchenorts experimentiert man damit, die Ausstellung guter Zensuren von Extrazahlungen abhängig zu machen. Sobald Diplome zur Handelsware werden, tritt als Zugangsvoraussetzung für privilegierte Positionen Geld an die Stelle der intellektuellen oder beruflichen Kompetenzen.
Risiken privater Bildungsanbieter
Bei Privatschulen im Bereich der obligatorischen Grundausbildung sind die Verhältnisse weniger extrem. Es ist aber klar, dass auch sie an Schülerinnen und Schülern aus wohlhabenden Familien interessiert sind, soweit sie nicht dank einem Stipendienfonds Unterschichtskinder aufnehmen können. Bei manchen Privatschulen, wie den Rudolf-Steiner-Schulen in der Schweiz, liegen die Gehälter tief unter dem Durchschnitt, den Lehrkräften wird ein fast schon heroisches Maß an Idealismus abverlangt.
Zwar sind viele der weltweit renommiertesten Universitäten, namentlich in den USA, ebenfalls privat. Sie verdanken ihre Glaubwürdigkeit nicht nur ihrem durch jahrzehntelangen Erfolg bewährten Ruf, sondern auch ihrer unvermindert guten Qualität. Bei den erst vor Kurzem in den übrigen Teilen der Welt gegründeten Privatfakultäten ist das aber anders: Sie haben keine lange Erfolgstradition, die Qualitätsgarantie ihrer Diplome steht auf wackligen Füßen. Eine Bildungsinstitution kann sich gegen den Trend, in reinen Kommerz abzudriften, nur behaupten, wenn sie an einem inhaltlichen, an überprüfbaren Kriterien ausgewiesenen Bildungskonzept festhält und sich weder von finanziellen Bestechungsangeboten blenden noch von Modeströmungen irritieren lässt. Das Vertrauen in Bildung rührt aus einer Zeit, in der ihr Wert noch nicht in Geld konvertierbar war. Mit dem Gütesiegel „Made in Germany“ oder „Made in Switzerland“ kann man auch nur solange punkten, als niemand Produkte, die anderswoher stammen, damit auszeichnet bzw. solange, als der Missbrauch nicht auffliegt. Es ist kein Zufall, dass die qualitativ hochstehenden Vorlesungsangebote im Internet nicht in kommerziellen Interessen begründet sind.