Читать книгу Ethik und Erziehung - Thomas Kesselring - Страница 9
1.1 Ist Schule kindgerecht?
ОглавлениеDer Vorwurf lautet: Schule spannt das Kind in ein Korsett multipler Imperative: Erstens, du sollst lernen. Zweitens, du sollst genau das lernen, was die Lehrkraft dir sagt. Drittens, du sollst genau im vorgesehenen Rhythmus lernen. Viertens, du sollst die Methoden anwenden, die man dir vorführt. Schulischen Lehrplänen liegt die Annahme zugrunde, Lernen werde durch Unterrichten hervorgebracht. Damit sich der Lehrstoff in Lernergebnisse – Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten – transformiert, werden die Schülerinnen und Schüler einem Zwangs- und Kontrollsystem unterworfen: Ihr müsst lernen, Experten werden es überprüfen! – Typische Begriffe des Schulwesens sind: Anforderungen, Aufgaben, Curriculum, Disziplin, Fleiß, Leistungskontrolle, Pensum, Probe, Prüfung, Schulpflicht…
Schule blockiert die Eigenaktivität
Diese Kritik existiert in zwei Varianten. Die eine lautet: Schule arbeitet wider die menschliche Natur und bringt darum widersprüchliche Ergebnisse hervor. Die andere: Schule ist gewalttätig.
Menschen sind genuin aktive Wesen, die über das, was sie tun, am liebsten selbst entscheiden. Selbständigkeit, Selbstverantwortlichkeit, Autonomie stehen für die Eigenschaften mündiger Staatsbürger. Das Ideal der Autonomie ist seit der Aufklärung ein Brennpunkt der Ethik. Es hat über die Kantische Philosophie Eingang in die Ethik und Pädagogik gefunden (vgl. 4.5). In seinem Aufsatz „Was heißt Aufklärung“ von 1784 rief der Königsberger Philosoph seine Leser auf: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, statt dein Denken an andere zu delegieren! Entscheide über deine Angelegenheiten selbst, auch wenn es manchmal einfacher wäre, sich einem Spezialisten anzuvertrauen (KANT, WiA 53).
Aus gutem Grund insistierte der brasilianische Pädagoge Paulo Freire vor Beginn seiner Alphabetisierungskurse für Erwachsene jeweils darauf, dass diese selber die Schlüsselwörter auswählten, auf denen danach der Unterricht aufbaute. Eine Tendenz zum Selbermachen zeigt sich schon bei Kindern, und zwar vom zartesten Alter an. Sie erforschen die Welt, nehmen alles in die Finger, klettern auf Bäume und Mauern … Sie strahlen, wenn ihnen etwas aus eigener Kraft gelungen ist. Die Schule wird ihrer Spontaneität nicht gerecht, ihr Lerneifer erlahmt, die Lust am Lernen verpufft.
„Schulbildung“, schrieb H. von Hentig (1973, S. 11), ist „zum Gegenteil dessen Determinismus statt ein Akt geistiger Emanzipation“. geworden, was Menschen sich darunter vorstellen wollen (…) – ein Stück sozialer
„Entschulung der Gesellschaft“
In ähnlicher Weise kritisierte auch Maria Montessori die Schule: Die Handlungen des Erziehers seien weniger „darauf gerichtet, dem Kind zu helfen“, als „seine Aktivität zu unterdrücken“; die Pädagogik macht es „zum Objekt der Erziehung und des Unterrichts“. Eigentlich ist das „Kind allein der Bildner seiner Persönlichkeit“, doch man überlässt ihm „den kleinsten Teil an dieser Bildungsarbeit.“ „Der Erwachsene hat den Nutzen der pädagogischen Lehre, nicht das Kind.“ (MONTESSORI 1967, S. 25–29). Ivan Illich ging mit seiner Kritik noch einen Schritt weiter: In der Schule verkümmerten selbst die elementarsten Fertigkeiten der Kinder. Echtes Lernen sei nur durch eine „Entschulung der Gesellschaft“ möglich (ILLICH, 1973, S. 52).
Die wichtigsten Dinge, so Illich, eignen wir uns ohnehin außerhalb der Schule an. Das Kind lernt lange vor der Einschulung essen, trinken, aufrecht gehen, sich in der Muttersprache verständigen, sich ankleiden. Auch im Schulalter eignen sich Kinder „das meiste ohne ihre Lehrer und häufig trotz diesen“ an (ebd. S. 42): Freundschaften schließen, Geheimnisse austauschen, sich verlieben … Dasselbe gilt auch noch für vieles, was man als Erwachsener tut: Geschäfte machen, eine Familie gründen, Kinder ernähren, Urlaub planen, Wein genießen, Steuern optimieren: All dies und vieles mehr lehrt uns die „Schule des Lebens“.
Antipädagogik
In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, etwa zur Zeit, als Alexander Neill`s Summerhill-Schule ihre Blütezeit erlebte, formierte sich in Deutschland eine Gruppe von „Antipädagogen“, die Schule als eine Zwangsinstitution darstellten. Solange man von „Lernen“ spreche, betrachte man das Kind als Subjekt, sobald man aber die Seite der „Erziehung“ hervorhebe, degradiere man es zum Objekt, schrieb Hermann Giesecke (1969, S. 101). Daraus zog er die Folgerung, Erziehung sei „ein Gewaltverhältnis (…) bestimmter Erwachsener (Eltern, Lehrer) über Kinder und Jugendliche“ (ebd., S. 68). Für Ekkehard von Braunmühl (1975, S. 80) bedeutete jeder erzieherische Akt einen „kleinen Mord“ oder zumindest eine „Amputation“, weil durch die Erziehung die Selbstbestimmung und Integrität des Kindes verkümmern.
Diese Kritik ist historisch bedingt – durch die Aufbruchsstimmung nach 1968. Bis heute aber gehört zur Schule eine Sanktionsphilosophie, die die Kritik der Antipädagogik teilweise nachvollziehbar macht.
Sanktionswesen
Die Vorstellung, mit positiven und negativen Sanktionen – Lob und Ermunterung, Ermahnungen, Drohungen, Strafe – lasse sich die Motivation der Kinder steigern, passt am besten zum Behaviorismus, für den Lernen nur als Folge von Dressur, nicht als selbstgesteuerte Aktivität denkbar ist. Außerhalb des Behaviorismus gelten Sanktionen als Maßnahmen, die ausschließlich dem Zweck dienen, dass sich Kinder unerwünschtes Verhalten abgewöhnen. Unerwünscht sind nicht nur Störungen des Unterrichts, Gewaltanwendung, Frechheit, Belästigung von Mitschülern, sondern auch Nachlässigkeit, Desinteresse, geistige Abwesenheit – Verhaltensweisen also, die ihren Ursprung gerade in der Atmosphäre schulischer Fremdbestimmung haben. Das ist paradox. Durch die Strafe verliert das Kind „sein wirkliches Ziel, Wissen, Freiheit und Arbeit“, aus den Augen (MONTESSORI 1967a, S. 49). Auch das ist paradox. Verordnet man Kindern sinnvolle Tätigkeiten als Strafaufgaben, so ist das der beste Weg, ihnen diese Tätigkeiten zu verleiden (MÜLLER-WIELAND 1989, S. 66). Das ist erst recht paradox. In der Geschichte der Pädagogik – von Friedrich Schleiermacher bis zu Carl Rogers – ist der Sinn von Strafen immer wieder infrage gestellt worden (SCHWEITZER 1996, S. 65).
Kritik an der Antipädagogik
Die Antipädagogen konzentrierten sich bei ihrer Kritik allerdings nicht auf Sanktionspraktiken. Sie hielten Erziehung insgesamt für Manipulation, die an Psychoterror grenze (V.BRAUNMÜHL 2006, S. 35, S. 90f.). Dabei ließen sie unberücksichtigt, dass die Umgebung, in der ein Kind aufwächst, so gut wie immer von Erwachsenen bevölkert und gestaltet ist. Mit Erwachsenen steht das Kind seit seiner Geburt in engem Austausch, es hat deshalb ganz selbstverständlich ein starkes Interesse am Umgang mit Menschen jeden Alters. Auch was es selbständig lernt, lernt es großenteils im Rahmen sozialer Interaktionen.
Richtig ist: Seine Muttersprache wählt das Kind nicht selber, so wenig wie das, was es später in der Schule lernen wird. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“, formulierte Ludwig Wittgenstein (1967, S. 35, § 43). Der Umgang mit Zeichen und Bedeutungen ist normativ, er unterliegt einer komplexen Fülle von Regeln – grammatischen, semantischen und pragmatischen, denen das Kind anfangs hilflos ausgeliefert ist.
Richtig ist ferner: Auch die gesellschaftlichen Benimmregeln wählt das Kind nicht selbst, so wenig wie die Werte, mit denen es in der Schule konfrontiert wird. Schule ist kein wertfreier Raum, ebensowenig wie die Gesellschaft, in die das Kind hineinwächst. Wie die Schwerkraft zur materiellen Welt, gehören Werte zur sozialen Welt. Wie das Kind mit den Wirkungsweisen der Erdanziehung vertraut werden muss, um den Balanceakt des Gehens auf zwei Beinen zu erlernen, muss es auch erst intuitiv mit den Werten seiner sozialen Umgebung vertraut werden, bevor es sie reflektiert und zum Gegenstand eigener Meinungsbildung macht.
Selbständiges Lernen ist also nicht einfach Freiheit und schulisches Lernen nicht einfach Zwang. Schulkritik, die sich an der Freudschen Entgegensetzung von „Lust-“ und „Realitätsprinzip“ orientiert, greift zu kurz. Ein Zeitgenosse Freuds, der russische Psychologe Lew Wygotski, schrieb vor achtzig Jahren:
„Man kann die Befriedigung von Bedürfnissen nicht der Anpassung an die Wirklichkeit gegenüberstellen (…); denn der Begriff des Bedürfnisses umschließt (…), dass ein Bedürfnis durch eine gewisse Anpassung an die Wirklichkeit befriedigt wird.“ Der Säugling z.B. erlebt „die Befriedigung seines Bedürfnisses nicht dadurch (…), dass er Lust halluziniert, – die Befriedigung seines Bedürfnisses tritt erst nach der wirklichen Nahrungsaufnahme ein“ (WYGOTSKI 1964, S. 45).
Wygotski hielt deshalb Piagets These, was man einem Kinde beibringe, könne es nicht mehr selber erfinden oder entdecken (BRINGUIER 1977, S. 97), für eine Übertreibung: Kinder leben in einem sozialen Universum – einem Universum von Symbolen, Zeichen, Bedeutungen, Regeln. Den Umgang mit ihnen lernen und „internalisieren“ sie nur, indem sie mit Menschen interagieren.
Doch Piaget behält in einem wesentlichen Punkt Recht: Alles Lernen setzt die Eigenaktivität des Kindes voraus. Es lernt die Muttersprache ganz anders als später, in der Schule, die Grammatik. Die Bedeutung der Wörter und die Regeln ihres Gebrauchs muss es selber herausfinden: Es nützt nichts, einem Kind eine Sprachregel zu erläutern, bevor es sie intuitiv erfasst hat. Verbale Erklärungen versteht es nur, wenn es zuvor schon die nötigen sprachlichen Normen entschlüsselt hat. Diese Leistung kann ihm niemand abnehmen. Die Dinge selbst zu entdecken ist eine der grundlegenden Fähigkeiten des Kindes. Wie Piaget haben sich viele Autoren deshalb gegen den verbalen Unterricht ausgesprochen. „Die Belehrung durch das Wort spielt (…) bei uns keine überragende Rolle“, schrieb Maria Montessori (1967, S. 41) über ihre Schule. „Haltet eurem Zögling keine Reden: Er darf nur aus der Erfahrung lernen“, hatte schon Rousseau gelehrt (ROUSSEAU 1971, S. 71).
Lernen ist an soziale Interaktion gebunden
Dennoch – und hier bleibt Wygotski unwiderlegt: Kinder, mit denen nicht gesprochen wird, lernen auch nicht sprechen. Die Interaktion mit anderen Personen hat aber nicht nur für den Spracherwerb, sondern für das soziale Lernen insgesamt größte Bedeutung. Menschen kommunizieren auch sprachlos miteinander, nämlich über die Gefühle. Schon Babys tun dies, und zwar lange bevor sie zu sprechen beginnen. Die Fähigkeit zur Empathie ist ihnen praktisch in die Wiege gelegt, ebenso die Fähigkeit, fremdes Verhalten zu beobachten und nachzuahmen (vgl. 7.2). Empathie, Beobachtung und Nachahmung bilden die Grundlage für das „Modell-Lernen“, auf das Albert Bandura vor vierzig Jahren die Aufmerksamkeit der Psychologen und Pädagogen gelenkt hat: das Lernen durch innere Imitation einer Person, die erfolgreich eine bestimmte Handlung verrichtet (BANDURA 1976).
Was für das Lernen des Vorschulkindes zuhause, in Spielgruppen, im Kreis von Nachbarskindern gilt, gilt ebenso für das Lernen in der Schule: Es „ist eingebettet in ein interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen“ (BAUER 2008, S. 16).
Ohne die sichere Beziehung zu Erwachsenen sind Ich-Entwicklung und Selbstwertgefühl der Kinder bedroht (vgl. 2.1.2). – Was bedeutet das für die Schule? Sie ist ein Ort, an dem Kinder – trotz aller künstlichen Arrangements – soziale Erfahrungen machen, sie vielleicht sogar konsequenter als sonstwo machen. Schule bietet ihnen regelmäßigen Kontakt mit Erwachsenen. Ist die Beziehung der Lehrkraft zum Schüler durch Misstrauen bestimmt, diskriminierend und erniedrigend, dann liegt vor, was die Antipädagogen als Gewalt charakterisieren. Sind die Lehrkräfte den Schülerinnen und Schülern hingegen Stütze und Stimulans, spiegeln sie ihnen ein von Zuversicht getragenes Selbstbild zurück, und sind sie ihnen zudem in der einen oder anderen Hinsicht ein Vorbild, so erfüllt Schule eine der zentralen Bedingungen für die soziale Entwicklung von Kindern. Eine andere Bedingung – Kontakte zu Kindern und Jugendlichen derselben Altersgruppe – erfüllt sie ohnehin: je besser der Kontakt zu anderen Kindern, desto höher die Lernbereitschaft (ALLMENDINGER 2012, S. 72).
Führte man an Schulen zudem flächendeckend die Methode des entdeckenden Lernens ein, die Martin Wagenschein (2003, 2009) im letzten Jahrhundert entwickelt hat, wäre das ein weiterer Schritt vorwärts.