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Einleitung
ОглавлениеDieses Buch ist eine Anleitung zur eigenen Reflexion. Zugleich versteht es sich als Einführung in drei sich überlappende Themenbereiche: in den der Werte, den der Ethik und in die entwicklungspsychologischen Grundlagen des kindlichen Ethik-Verständnisses.
Ethik und Erziehung kreisen beide um Wertfragen. Wenn man von Werten spricht, liegt wohl als Erstes die Assoziation an ökonomische Werte nahe – an „Geldwert“, „Wertpapier“, „Wertschöpfung“, „Mehrwert“. In zweiter Linie denkt man vielleicht an christliche Werte – katholische, evangelische, orthodoxe beziehungsweise an islamische und hinduistische Werte oder allenfalls an einen nebulösen Ideenhimmel, in dem das Gute, das Schöne und das Wahre regieren.
Die meisten Werte sind jedoch weder auf monetäre Größen reduzierbar noch etwas schlechthin Nebulöses. Über Werte kann man sich in den unterschiedlichsten Kontexten verständigen. Diese Verständigung braucht es im Bildungswesen heute wohl mehr denn je. Die vorliegende Einführung ist weder aus einer ökonomischen noch aus einer religiösen, sondern aus einer philosophischen Perspektive geschrieben. Sie setzt bei der Erfahrung an, dass viele Vertreter öffentlicher Bildungsinstitutionen sich heute verunsichert fühlen, wenn sie über Werte reden sollen. Exemplarisch dafür sind zwei für das Bildungswesen meines Wohnorts markante Begebenheiten aus den letzten Jahren.
Die erste verdeutlicht die Ungewissheit des Erfolgs einer Wertevermittlung durch Erziehung und Unterricht: Etwa zwei Jahre lang besuchte ein koreanischer Junge das 6. bis 8. Schuljahr einer öffentlichen Volksschule in meiner Nähe. Der Junge nannte sich „Pak“ und wurde als Sohn eines nordkoreanischen Botschaftsangestellten ausgegeben. Er fehlte häufig, bei Klassenausflügen kreuzte jeweils unangekündigter Besuch von nordkoreanischem Botschaftspersonal auf. Anscheinend war der Junge ein guter Comic-Zeichner und ein begeisterter Basketball-Spieler. Doch niemand wusste genau, wer er war – nicht einmal die Schulbehörde, auch nicht die Einwohnerpolizei. Man wollte es vielleicht gar nicht so genau wissen. Eines Tages blieb er von der Schule weg und kehrte nicht mehr zurück. Jahre später wurde bekannt: Der Junge hieß in Wirklichkeit Kim Yong-un und wurde am 29.12.2011 Staatsoberhaupt von Nordkorea. Im Frühjahr 2013 hielt er durch infantil klingende Drohungen mit einem atomaren Erstschlag gegen die USA die Weltöffentlichkeit in Atem.
Die zweite Begebenheit zeugt vom geringen Status, den im Bildungswesen eine systematische Wertereflexion hat: Bei einem Podiumsgespräch anlässlich eines Kongresses über „Bildungsungleichheit und Gerechtigkeit“ wurde ein renommierter Bildungsforscher gebeten, die Ausführungen seines Vorredners zum Begriff Gerechtigkeit zu kommentieren. Er antwortete: „Man soll die Dinge nicht vermischen!“ Gerechtigkeit sei ein Wertbegriff, als empirische Wissenschaft habe Bildungsforschung nichts mit Werten zu tun. Im Publikum machte sich Unruhe breit. Ein Bildungshistoriker ergänzte: Werturteile und ethische Argumente hätten zwar ihre Berechtigung, aber sobald die Politik sich darauf einlasse, bestehe das Risiko, dass sie Maßnahmen beschließe, die über das intendierte Ziel hinausschössen und es pervertierten.
Beide Geschichten werfen Fragen auf. Bei der ersten erstaunt nicht nur, wie es möglich ist, dass ein Kind jahrelang unter falschem Namen eine öffentliche Schule besucht und trotz zuweilen aufkeimender Zweifel an seiner Herkunft niemand darauf besteht, dass seine wahre Identität offengelegt wird. Man fragt sich auch, wie es möglich ist, dass ein Junge, der jahrelang eine Schule mit demokratischem Wertekodex besucht, sich auf einmal als skrupelloser Diktator entpuppt. Das provoziert die Frage, ob Schulen die Werthaltungen ihrer Schüler wirklich beeinflussen können. Merkwürdig ist nicht zuletzt, dass die Geschichte von „Pak“ keine Diskussion über diese Fragen ausgelöst hat.
Auch die zweite Geschichte wirft Fragen auf: Lässt sich empirische Forschung über Bildungsungleichheit wirklich von jeder Wertereflexion trennen? Sind die Begriffe Chancengleichheit und Bildungsbenachteiligung nicht genauso Wertbegriffe wie Gerechtigkeit? Steht Chancengleichheit nicht sogar im Zentrum von Forschungen über Bildungsungleichheit? Auf diese Frage könnte man antworten: Bei der empirischen Forschung geht es um Fakten; über sie kann man sich einigen; Werte sind aber keine Fakten, deswegen ist es viel schwieriger, sich über Wertfragen zu einigen. Diese Antwort provoziert allerdings eine Gegenfrage: Besteht ein breiter Konsens nicht im Gegenteil gerade über den Wert der Chancengleichheit, während ihre Realisierung an der empirischen Frage über das Wie scheitert?
Die Zurückhaltung des Bildungswissenschaftlers gegenüber Wertfragen erklärt sich vielleicht damit, dass das Schulwesen wie kaum eine andere staatliche Institution so gut wie permanent den Einflüssen aus Politik, Wirtschaft und öffentlicher Meinung ausgesetzt ist. Diese Einflüsse wechseln mit der Konjunktur und der politischen Großwetterlage. Anders als die Axiome der Mathematik oder das chemische Periodensystem, die sich durch den Einfluss der öffentlichen Meinung nicht verändern, ist der Umgang mit Werten direkt von solchen Einflüssen abhängig. Welche Rückschlüsse sind daraus zu ziehen? Dass der Wertediskurs an der Schule die wechselnde öffentliche Meinung wie ein Echo begleiten soll – auf die Gefahr hin, diesem Wechsel jeweils hinterherzuhinken? Oder dass dieser Diskurs eigene Wege, auch konträr zur öffentlichen Meinung, gehen darf? Provoziert dann aber, wer diesen Diskurs leitet, nicht den Vorwurf der Indoktrination? Der Umgang mit Wertfragen stürzt die Pädagogik in ein Dilemma. Müsste sich am Ende nicht bloß der Bildungswissenschaftler, sondern auch die Schule in eine Sphäre der Wertfreiheit zurückziehen? Wertabstinenz wäre aber gar nicht widerspruchsfrei möglich. Da nämlich jede rationale Entscheidung auf Werte zurückgreift, ist auch die Entscheidung zur Wertfreiheit selber nicht wertfrei.
Die Verlegenheit im Umgang mit Werten dürfte mit der Geschichte des Bildungswesens zusammenhängen. Die frühesten Schulen waren ursprunglich religiöse Institutionen – im Judentum, Islam und Hinduismus so gut wie im Christentum, wo sie häufig von Klöstern geführt wurden. Alle Religionen treten für ethische Anliegen ein, und dazu gehört eben die Erziehung. In säkularen, pluralistischen Gesellschaften hat sich das Schulwesen von der religiösen Basis gelöst. In weiten Teilen Europas geschah dies im 18. und 19. Jahrhundert, als staatliche Schulen gegründet und das Schulobligatorium eingeführt wurde. Die rasch voranstürmenden Naturwissenschaften schlugen sich in den schulischen Curricula nieder, während sich der Einfluss der Kirche praktisch auf den Religionsunterricht reduzierte. Damit rückte aber auch die ethische Ausrichtung des öffentlichen Bildungswesens in den Hintergrund. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde an manchen Schulen zwar ein Ethikunterricht eingeführt. Bis heute steht er jedoch auf institutionell wackligem Grund.
In den vergangenen Jahrzehnten geriet die Politik immer stärker in den Sog wirtschaftlicher Interessen. Diese drücken inzwischen auch dem Bildungswesen ihren Stempel auf. Eines der Ziele schulischen Unterrichts – die Jugendlichen auf einen Beruf oder eine Berufslehre vorzubereiten – ist mit der Verteilung sozialer Aufstiegsversprechen gekoppelt und hat sich den anderen Bildungszielen übergestülpt: Jugendlichein ihrer Entwicklung zu autonomen Persönlichkeiten, zu verantwortlichen Staatsbürgerinnen und zu Weltbürgern (im Sinne Wilhelm von Humboldts) zu unterstützen. Ihre Existenzberechtigung bezieht die Schule heute vor allem aus ihrem Beitrag zum Wirtschaftswachstum: Sie stellt für den „Produktionsstandort“ Deutschland bzw. Österreich oder Schweiz das so genannte „Humankapital“ bereit …
Werte sind nicht an eine Religion gebunden, noch weniger aber sind sie es an die Wirtschaft: Menschen entwickeln ein Bewusstsein ethischer Werte, weil sie friedlich zusammenleben wollen. Als gut gilt, was das Zusammenleben stärkt oder erleichtert, und als schlecht, was es zerstört oder erschwert. So kommt es, dass Eltern ihre Kinder gewöhnlich so erziehen wollen, dass sie sich gut und zum eigenen Wohlergehen mit der Gesellschaft arrangieren. Die meisten Eltern erwarten deshalb von der Schule, dass sie ihre Kinder beim Aufbau von Werthaltungen unterstützt. Das geht aber nur, wenn Lehrkräfte in Wertfragen nicht Abstinenz üben. Eine Expedition in den Dschungel der Werte bleibt ihnen also kaum erspart, selbst wenn sie dabei theoretisch wie praktisch mit nicht immer einfachen Fragen konfrontiert werden: Wie entscheide ich, welche Werte die „richtigen“ sind? Welche Werthaltungen soll ich unterstützen? Wie vermeide ich es, mit dem Zaunpfahl so zu winken, dass die Schülerinnen und Schüler lieber das Gegenteil ausprobieren oder sich eine Haltung kühler Gleichgültigkeit, wenn nicht gar zynischer Distanznahme angewöhnen?
Die Antworten auf Fragen dieser Art sind natürlich oft situationsabhängig. Einen Königsweg der Werteerziehung gibt es nicht. Das hat drei Gründe:
• Die Fähigkeit, über Werte zu reflektieren, kann nur in Eigenregie erlernt werden und gehört zum Selbstwerdungsprozess eines Menschen. Weder Eltern noch Lehrkräfte können Kindern und Jugendlichen Selbstbestimmung (Autonomie) beibringen. Das wäre ein Widerspruch in sich.
• Werteerziehung setzt voraus, dass der Erzieher bzw. die Lehrperson die eigenen Werte klärt und sich die Kriterien der eigenen Wertentscheidungen bewusst macht. Nur wer sein Verhalten, seine Leistungen, ja die eigene Person kritisch beurteilt – eine Fähigkeit, die in der Lehrerausbildung nicht überall kultiviert wird –, lernt sich selbst verstehen. Und nur wer sich selbst versteht, kann andere Menschen verstehen. Nur wer sich selbst zu erziehen bereit ist, kann auch andere erziehen.
• Werteerziehung ist, wie Erziehung überhaupt, auf eine Zukunft ausgerichtet, die wir nicht genau kennen. Kant hat in seinen Vorlesungen über Pädagogik geschrieben:
„Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde.“ Erzieher sollten versuchen, „die Nachkommenschaft weiter zu bringen, als sie selbst gekommen sind“ (KANT ÜP, A 17f., A 22).
Obwohl heute die wenigsten Menschen den Fortschrittsglauben teilen, von dem Kant beseelt war, ist sein Rat bedenkenswert: Seit der Aufklärung hat sich die Geschichte rasant beschleunigt. Niemand kann die Zukunft voraussehen. Man sollte aber nicht davon ausgehen, dass die heutigen Schüler als Erwachsene mit genau denselben Fragen und Aufgaben konfrontiert sein werden wie wir heute. Das gilt im Positiven wie im Negativen: Die Informationstechnologien zum Beispiel werden in zehn Jahren wahrscheinlich weiterentwickelt, der Schatz an Kunst, Musik und guter Literatur wird größer und der Austausch zwischen den Kulturen intensiver sein als heute. Doch auch die Herausforderungen dürften sich kaum verringern – die Risiken der globalisierten Finanzmärkte, die Ambivalenzen der Technologie (Fukujima!), die schwer absehbaren Folgen des Klimawandels. Selbst die Schule – einsteine relativ heile Welt – wird sich weiter wandeln.
Der Blick des Erziehers nach vorn schließt allerdings den Rückgriff auf Bewährtes nicht aus. Die Digitalisierung von Lernmaterialien zum Beispiel sollte nicht das Buch verdrängen, das Surfen im Internet nicht das systematische Üben von Fertigkeiten, das Geschick im Auffinden von Informationen nicht die Fähigkeit, etwas auswendig zu lernen, und das E-Learning nicht die persönliche Begegnung der Partner in einer didaktischen Beziehung.
Nicht nur der unbefangene Blick auf mögliche Erziehungsziele, auch derjenige auf die Unterrichtsmittel und -methoden verlangt eine bewusste Werteorientierung.
Diese Einleitung möchte ich nicht ohne ein paar Dankesworte schließen: Eva Steinherr bin ich für ihre Hinweise auf wichtige Argumente und Literatur zu den ersten zwei Kapiteln verbunden, Kurt Gilgen für seine hilfreichen Ratschläge zur Gestaltung der Endfassung und Katharina Gerwens für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts. Mein größter Dank gilt der Pädagogischen Hochschule Bern, die mich für die Arbeit an diesem Buch in großzügiger Weise freigestellt hat.