Читать книгу Argenta - Thomas Kühlkamp - Страница 11

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Kapitel 4

Als Peter am nächsten Morgen erwachte, blieb er zunächst einfach in seinem neuen und breiten Bett liegen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie spät es war. Elisabeth hatte ihm am Abend zuvor gesagt, er solle sich richtig ausschlafen. Die Schule würde für ihn ohnehin erst am Montag beginnen. In der Nacht war Peter mehrere Male aufgewacht und hatte sich immer wieder vergewissern müssen, dass das, was er erlebte, kein Traum war. Da die Sonne schon durch das halb geöffnete Rollo ins Zimmer schien, nahm Peter sich nun ausgiebig Zeit, sein neues Reich zu betrachten. Es war das größte Zimmer, in dem er je geschlafen hatte und gefüllt mit Dingen, die ihn begeisterten. Er nahm verschiedene Bücher aus dem Regal und ließ sie durch seine Hände gleiten. Besonders gefiel ihm jedoch ein großer Kran, den man mit Hilfe vieler technischer Einzelteile nach einem Plan zusammenbauen musste. Er holte sein Aufnahmegerät aus seinem Versteck heraus und nahm sich die nächste halbe Stunde dafür Zeit, von den vielen Erlebnissen der letzten beiden Tage zu berichten. Anschließend verspürte er Hunger. Er zog sich schnell die Sachen an, die er gestern achtlos auf den Boden geworfen hatte und ging vorsichtig hinunter in das Wohnzimmer.

Elisabeth presste gerade frische Orangen aus, als sie ihn hörte.

»Du bist schon wach? Das ist schön. Wir haben gehofft, dass du mit uns frühstückst.«

»Ich kann nie richtig lange schlafen«, antwortete Peter. »Außerdem waren im Heim dann immer die besten Sachen vom Frühstück weggegessen.«

Elisabeth drehte sich um und schaute Peter direkt in die Augen.

»Wir sind natürlich von Herrn Verstappen ausführlich informiert worden«, erklärte sie Peter nun mit etwas unsicherer Stimme, »und wissen auch ein wenig über die Zustände draußen. Aber eine wirkliche Ahnung haben wir nicht. Wenn wir etwas sagen, was dich kränkt oder unpassend ist, kannst du es uns jederzeit mitteilen.«

Peter nickte und setzte sich an den bereits gedeckten Tisch. Ein solches Frühstück gab es im Heim nicht mal an Weihnachten. Mehrere Gläser mit unterschiedlichen Müslisorten standen neben Joghurt- und Milchflaschen. Verschiedene Brotsorten lagen in einem Korb, der umgeben war von Aufschnitt- und Käseplatten sowie mindestens drei Marmeladengläser. Der Orangensaft war schon in Peters Glas gefüllt und gerade kam Elisabeth mit einer Pfanne kleiner Würstchen und gebratenen Spiegeleiern zum Tisch.

»Warte noch einen Augenblick. Mike muss jeden Moment hier sein, um mit uns zu frühstücken.«

»Müsst ihr heute nicht arbeiten?«, fragte Peter verwundert.

»Doch, aber gerade jetzt bist du natürlich wichtiger. Ich werde die nächste Zeit mehr zu Hause sein, damit wir uns besser kennen lernen können. Ansonsten leite ich das Wasserkraftwerk, durch das wir die Dörfer mit Strom versorgen.«

Peter konnte nicht umhin, anerkennend zu nicken.

»Ich glaube, ihr macht einige wunderbare Dinge hier«, sagte er leise und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, um auf Mike zu warten.

Elisabeth setzte sich lächelnd zu ihm.

»Danke, ich hoffe, dass du noch öfter dieser Meinung bist.«

»Das hoffe ich auch!«, sagte eine tiefe Stimme. Mike hatte unbemerkt das Haus durch den Seiteneingang betreten und setzte sich nun gut gelaunt neben Peter an den Tisch.

»Ihr habt bestimmt Hunger, also lasst uns loslegen, greif' zu!«, forderte ihn Mike auf.

»Ja, das werde ich sicher machen«, erwiderte Peter und musste nur wenige Sekunden schauen, bis er fand, was er suchte. Er griff zielstrebig ein kleines Honigglas, tunkte seinen Löffel hinein und ließ die zähe Flüssigkeit mit einem geübten und sicheren Schwung auf eine Scheibe Weißbrot fließen, verstrich es zügig mit seinem Messer und steckte sich das Brot mit großer Freude in den Mund.

Die Stimmung war gelöst und es wurde viel gelacht. Elisabeth berichtete ausführlich über die Kinder, die hier in der Nachbarschaft lebten und was man hier alles zusammen unternehmen könnte. Mike erzählte von seiner Arbeit als Ingenieur beim Bau der Straßen und Kanalisation. Peter genoss jede Sekunde des Frühstücks, auch wenn er kaum ein Wort sagte. Nach dem Frühstück half Peter mit, den Tisch abzudecken und machte danach mit Elisabeth einige Besorgungen im Ort. Offensichtlich kannten sich die Menschen hier im Dorf, denn sie grüßte viele andere Dorfbewohner und unterhielt sich kurz mit ihnen. Peter hielt sich dabei sehr im Hintergrund. Dennoch hatte er das Gefühl, als wenn die Frauen und Männer ihn genau und sehr interessiert betrachten würden. Aber das war schließlich auch zu erwarten gewesen.

Nach dem Mittagessen schlug Elisabeth vor, dass Peter sich doch mal alleine draußen umschauen sollte. Die Größe des Dorfes war überschaubar und verlaufen konnte er sich nicht. Zielstrebig steuerte er das Café auf dem Dorfplatz an. Elisabeth hatte ihm gesagt, dass er dort gerne ein oder zwei Getränke zu sich nehmen dürfte und Peter freute sich bei den warmen Frühlingstemperaturen sehr auf ein großes Glas Limonade. Das Café war nicht sehr voll. Peter setzte sich an einen freien Tisch draußen auf dem Platz und beobachtete die Kinder auf dem gegenüberliegenden Spielplatz. Nach kurzer Zeit kam ein älterer Herr zu ihm. Er trug trotz der Hitze einen schwarzen Anzug mit einer Krawatte. Er war klein und ein wenig rundlich, bewegte sich aber trotzdem schnell und gewandt. Auf seiner Halbglatze konnte Peter feine Schweißtropfen erkennen. Mit einem freundlichen Nicken fragte er Peter, was er haben wolle.

»Ich hätte gern eine Limonade«, sagte Peter erwartungsvoll.

»Eine erfrischende Zitronenlimonade für den jungen Herrn! Arthur wird sie sofort bringen«, wiederholte der Mann seinen Wunsch beflissen. Dann erstarrte er mitten in der Bewegung und in seinem Gesicht spiegelte sich eine plötzliche Erkenntnis und Neugierde wider. »Oh, du bist der neue Junge von draußen. Es tut mir Leid, dass ich dich nicht sofort erkannt habe.«

»Das macht nichts, woher sollten Sie das auch wissen«, antwortete Peter.

»Nun ja«, lachte der Mann, »neue Gesichter gibt es nicht so viele hier im Dorf und du kannst dir vorstellen, dass wir alle mehr als gespannt auf dich sind. Herzlich Willkommen auf Argenta

Peter kam sich ein bisschen unwohl bei dieser geballten Aufmerksamkeit vor. Doch was hatte er anderes erwarten können? Er wusste schließlich, dass er der erste Neuzugang auf dieser Insel seit fast dreißig Jahren war. Und bisher konnte er sich wirklich nicht beschweren. Die Menschen waren mehr als freundlich und ihm war klar, dass er diese Freundlichkeit am besten erwidern sollte.

»Ich danke Ihnen sehr, Herr …?«

»Bolt. Mein Name ist Bolt und ich bin der Gastwirt hier. Bei mir im Café ist der Mittelpunkt des Dorfes und ich freue mich, dass du den Weg zu mir schon an deinem ersten Tag gefunden hast.« Bolt lachte ein wenig zu laut und zu selbstgefällig für Peters Geschmack, drehte sich dann mit Schwung um und machte sich auf den Weg zum nächsten Tisch.

»Also, ich danke ihnen, Herr Bolt. Mein Name ist übrigens Peter.« Doch Bolts Interesse galt schon seinem nächsten Kunden, den er nun mit seiner etwas gekünstelten Höflichkeit nach seinen Wünschen fragte.

Nicht mal eine Minute später kam ein großer, schlanker Junge in Peters Alter an seinen Tisch und brachte ihm die Limonade. Er hatte eine leicht dunkle Hautfarbe und eine wilde Lockenmähne umrahmte sein hübsches Gesicht. Mit ruhiger Hand setzte er das Getränk vor Peter ab. Doch gerade in dem Moment, als er wieder gehen wollte, stieß Peter mit seinem Bein gegen den Tisch. Die Limonade kippte um, die Flüssigkeit verteilte sich auf dem Tisch und tropfte langsam vom Rand der Fläche auf den Boden. Das Glas rollte ebenfalls vom Tisch und wäre bestimmt zerbrochen, wenn der Junge es nicht mit einer reflexartigen Bewegung aufgefangen hätte. Peter schaute betreten auf die Bescherung.

»Das tut mir wirklich leid. Wenn ihr einen Lappen oder eine Serviette habt, mache ich das sofort wieder sauber. Ein Glück, dass du das Glas so schnell gefangen hast.«

»Nein, ich mache das schon«, antwortete der Junge leise und hastig. Dabei drehte er sich vorsichtig um, als er Schritte hinter sich hörte.

»Was hast du denn jetzt schon wieder gemacht, du Idiot!« Der Mann mit der Halbglatze stand mit einem Tablett und zwei Kaffeetassen direkt hinter ihm.

»Ich mache das sofort wieder weg, Herr Bolt«, murmelte der Junge und schaute dabei auf den Boden.

»Das will ich auch hoffen. Kann man dich denn eigentlich für nichts gebrauchen? Ich frage mich jeden Tag, warum ich mich mit dir überhaupt abgebe.« Der dicke Mann hatte so laut gesprochen, dass es alle Gäste im Café mitbekamen und nun interessiert zuschauten.

»Es tut mir wirklich leid, aber ich habe das Glas umgekippt«, meldete sich Peter nun vorsichtig zu Wort, »dem Jungen trifft keine Schuld.«

»Lass mal gut sein«, wandte sich Bolt gönnerhaft Peter zu, »Das ist unser Arthur und ich kenne diesen Lümmel genau. Das macht der immer so. Um den brauchst du dich nicht zu kümmern.« Und mit diesen Worten warf er dem Jungen verächtlich ein paar Servietten vor die Füße und befahl ihm:

»Mach das weg und scher dich dann zum Geschirrspülen in die Küche! Vielleicht kann man dich ja da gebrauchen!«

Peter schaute sich verzweifelt um. Er war sich sicher gewesen, dass der eine oder andere Gast gesehen haben musste, was wirklich geschehen war. Aber niemand schien sich für den Jungen einsetzen zu wollen. Stattdessen schüttelten einige Besucher mit hochgezogenen Brauen ihre Köpfe und nahmen dann ihre Unterhaltung wieder auf.

»Warte, Arthur, ich helfe dir«, sagte Peter als Bolt weitergegangen war und der Junge vor ihm auf den Boden kniete. Doch der schüttelte nur den Kopf und flüsterte:

»Lass es bitte. Du machst es nur noch schlimmer. Ich bringe dir gleich eine neue Limonade.« Und schon war er weg. Peter fühlte sich verantwortlich für das, was geschehen war und wusste nicht genau, was er jetzt machen sollte. Er konnte sich nicht erklären, warum die Leute dem Jungen nicht geholfen hatten. Also trank er schnell die Limonade auf, die Arthur ihm gebracht hatte und verließ das Café. Auf dem Weg durch die kleinen und netten Straßen mit den herausgeputzten Häusern und den schönes Gärten überdachte Peter noch einmal die Situation. Der Umgang mit diesem Arthur war so anders gewesen, als das, was er bisher hier auf dieser Insel erlebt hatte. Peter war sehr angetan davon gewesen, wie höflich und freundlich sich alle zueinander verhielten. Was konnte dieser Arthur gemacht haben, dass die Leute diesem Jungen eine solche Missachtung entgegen brachten? Peter ging über eine kleine Kreuzung und unversehens fand er sich auf einem kleinen Weg am Dorfausgang wieder, der nach wenigen hundert Metern in einen Wald zu führen schien. Kurz nachdem er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, erreichte er einen kleinen Platz, auf dem schwere Tische und Bänke aus Holz standen. An der rechten Seite befand sich ein großer gemauerter Grill mit einem eisernen an drei Ketten hängenden Rost. An der anderen Seite war eine kleine Bühne aus Holz gebaut worden und Peter konnte sich lebhaft vorstellen, dass hier an warmen Sommerabenden wunderbare Grillfeste gefeiert werden konnten. Er stand noch mitten auf dem Platz, als er plötzlich hinter sich einige Kinder rufen hörte. Sie kamen zügig mit ihren Fahrrädern auf ihn zu. Offensichtlich schienen sie von der Schule zu kommen, da sie alle ihre Ranzen auf dem Gepäckträger geschnallt hatten. Peter zählte drei Jungen, die ziemlich genau in seinem Alter sein mussten. Sie fuhren ziemlich schnell und bremsten erst scharf ab, als sie direkt bei Peter waren. Nachdem sie abgestiegen waren, ließen sie achtlos ihre Räder liegen und betrachteten Peter mit einem interessierten Gesichtsausdruck.

»Du darfst hier nicht weiter gehen«, sagte ein schlanker, gut aussehender Junge mit dunklen Haaren. Er war mindestens einen halben Kopf größer als Peter und stellte sich so, dass der Weg in den Wald von ihm versperrt wurde. Er schien so etwas wie der Chef der anderen zu sein, da diese sich schnell hinter ihn stellten und ihm die Initiative überließen.

»Warum nicht?«, fragte Peter. Die drei Jungen standen ihm nun gegenüber und so setzte er sich zunächst auf einen der Holztische.

»Weil es verboten ist«, antwortete der große Junge.

»Warum um Himmels Willen soll es verboten sein, in einen Wald zu gehen. Ich bin doch kein Baby mehr.«

»Es ist gefährlich dort!«, schaltete sich nun einer der Jungen ein, die hinter dem Anführer standen, wurde von diesem jedoch mit einem kalten Blick zum Schweigen gebracht.

Peter überlegte kurz und hielt es dann für das Beste, es erstmal mit Ruhe und Freundlichkeit zu versuchen.

»Ich bin neu hier. Es wäre schön, wenn mir einer von euch erklären würde, was an diesem Wald so gefährlich ist.«

Die Jungen schauten sich an, als ob sie sich in einer Vermutung bestätigt sahen und einer flüsterte so laut, dass Peter es deutlich hören konnte.

»Ich hab's euch doch gesagt! Es ist der Neue. Wer sollte es auch sonst sein?«

»Mein Name ist Jonathan«, sagte der große Junge plötzlich und zeigte anschließend auf seine beiden Begleiter. »Das sind Henry und David.« Die Angesprochenen nickten kurz mit dem Kopf, sagten ansonsten jedoch nichts. »Wie heißt du?«

Peter wartete einen Moment. Vielleicht würde sich die Situation doch noch einrenken lassen.

»Ich heiße Peter, Peter Jakobson.«

»Okay, Peter. Du bist offensichtlich der Neue, von dem hier alle seit gestern reden. Und da du keine Ahnung hast, wollen wir dich mal ein bisschen aufklären, damit du nicht allzu große Dummheiten machst.« Die Jungen lachten leise.

»Also, außerhalb dieses Dorfes leben noch andere Menschen hier auf Argenta und ich kann dir nur raten, dafür zu sorgen, ihnen nicht zu begegnen.«

»Und warum nicht?«, fragte Peter neugierig, »mir hat bisher niemand von ihnen erzählt.«

»Sie sind anders als wir, und das mögen wir nicht so gerne!« Jonathan spuckte demonstrativ auf den Boden und schaute Peter danach lange ins Gesicht.

»Das heißt, ihr dürft das Dorf nicht verlassen? Nicht mal, um in den Wald zu gehen?«, fragte Peter ungläubig.

»Es ist nur der Wald an dieser Seite des Dorfes, der in die Berge führt«, erklärte Henry, »dort dürfen wir nicht hin.«

»Also, jetzt lasst es mal gut sein, Jungs!«, versuchte Peter es in einem ruhigen und etwas versöhnlichen Ton, »Entweder ihr erklärt mir, welche ungeheuerlichen Gefahren in dem Wald von diesen Menschen auf mich lauern oder - ich werde mir selbst einen Eindruck davon machen.«

»Wenn du jetzt weitergehst, werden wir es Elisabeth sagen«, drohte der dritte Junge, der David hieß, mit einer etwas überschnappenden Stimme, die deutlich erkennen ließ, dass ihr Träger gerade im Stimmbruch war. Doch Peter hatte jetzt endgültig die Nase voll. Ihm war es zeit seines Lebens gegen den Strich gegangen, wenn ihm jemand ohne nachvollziehbare Begründung Vorschriften machen wollte und er hatte keineswegs vor, das hier zu ändern. Während er sich langsam durch die drei hindurch schlängelte, hielt er kurz bei David an und schaute ihm fest ins Gesicht.

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Und ohne sich umzublicken, war er fünf Minuten später im Wald verschwunden.

Im Wald war es wunderbar kühl und schattig. Ein wenig mulmig war ihm schon zumute, doch die Erklärung Jonathans war ihm doch ziemlich abwegig erschienen. Der Weg war sehr schnell in einen Pfad übergegangen, der sich deutlich sichtbar durch das lichte Unterholz schlängelte. Peter hatte erst kürzlich ein ganzes Pflanzenlexikon gelesen und so fiel es ihm nicht schwer, die verschiedenen Bäume und Sträucher zu bestimmen. Er sah viele Birken und Erlen, vereinzelt auch noch Buchen. Aufgrund der Höhe bestand der Hauptteil der hier stehenden Bäume jedoch aus Tannen und Fichten, die dem Wald ein verwunschenes und leicht unheimliches Aussehen gaben. Die Sonnenstrahlen brachen vereinzelt durch das Blätterdach und beleuchteten kleine Stücke des Waldbodens. Peter ging eine Weile in den Wald hinein und war so in Gedanken vertieft, dass er fast den kleinen Trampelpfad übersehen hätte, der linkerhand einen steilen Abhang hinabführte. Er war schon weitgehend zugewachsen und es schien, als ob er lange nicht mehr benutzt worden wäre. Peter folgte dem Pfad vorsichtig und musste sich durch einige Dornensträucher zwängen, die ihm seine neue Hose zerrissen. Nach wenigen Minuten erreichte er hinter einer Biegung eine Senke. Vor ihm ragte ein kleiner alter Steinbruch empor. Der Regen musste im Laufe der Zeit die Erde aus der Steilwand gespült haben, denn einige kleinere Steine hatten sich gelöst und lagen nun verstreut in der Mulde herum. Baumwurzeln, die mit der einen Hälfte noch fest im Erdreich verankert waren, ragten mit der anderen frei in der Luft. Eine stattliche Buche ragte von der oberen Abbruchkante steil in den Himmel und überschattete mit ihrem riesigen Blätterdach diesen wunderbaren Ort. Eine Quelle füllte ein kleines natürliches Steinbecken mit kristallklarem Wasser, das sich von dort in einem Rinnsal dem sanften Abhang entgegen schlängelte. Peter konnte sich nicht satt sehen und erkundete mit Feuereifer jeden Winkel. Er erkannte sofort die Möglichkeiten, die dieser Platz bot. Es war eine Oase der Ruhe, geschützt vor neugierigen Blicken und wie geschaffen dafür, sich hier ein heimliches zweites Zuhause zu bauen. Mit etwas Fantasie, einem guten Plan und viel Zeit konnte er an dieser Stelle vielleicht eine Hütte bauen, die ihm bei Regen und Sonnenschein ausreichend Schutz bot. Und wer weiß, vielleicht brauchte er auch hier auf der Insel mal einen Zufluchtsort. Zumindest das Verhalten der drei Jungen ließ darauf schließen, dass es auch auf Argenta nicht nur problemlos ablaufen würde. Peter streifte noch eine ganze Weile durch das Gebiet und freute sich sehr über seinen Fund. Ihm war klar, dass er sich hier ein kleines Paradies erschaffen könnte. Als er am späten Nachmittag wieder sein neues Zuhause erreichte, erwartete Peter die letzte Überraschung dieses ersten Tages auf Argenta. Er hatte Davids Drohung als leeres Geschwätz abgetan und nicht eine Sekunde ernsthaft darüber nachgedacht, dass die Jungen ihn tatsächlich verpfeifen würden. Den ganzen Weg zurück hatte er sich ausgemalt, wie er sein neues Projekt angehen könnte und so hatte er in aufgekratzter und freudiger Stimmung die Küche betreten. Als er aber in die betretenden Gesichter von Elisabeth und Mike sah, brauchte er nur eins und eins zusammenzuzählen, um zu erkennen, dass sie über seinen kleinen Ausflug Bescheid wussten.

Es folgte eine halbe Stunde eindringlicher Belehrungen über den Sinn und Zweck von Regeln und Verboten und die Verantwortung für jeden Einzelnen in einer Gemeinschaft, diese auch einzuhalten. Insbesondere Mike war es offensichtlich wichtig, Peter hier die ersten Grenzen aufzuzeigen. Was an den geheimnisvollen Menschen außerhalb des Dorfes aber so gefährlich sein sollte, erklärte auch er ihm nicht. Insgesamt jedoch waren sowohl Peter als auch seine neuen Zieheltern sehr daran interessiert, sich den gemeinsamen Anfang nicht kaputt machen zu lassen, und so wurde der Vorfall nach dem Gespräch von allen abgehakt. Peter nahm sich daraufhin schweren Herzens vor, sein Hüttenprojekt zu vergessen, zumindest redete er sich das selbst halbwegs überzeugend ein. Elisabeth und Mike hingegen schienen froh zu sein, das erste Erziehungsproblem mit ihrem neuen Ziehsohn erfolgreich gemeistert zu haben. Als Peter im Bett lag, hatte er das zufriedenstellende Gefühl, dass es mit Elisabeth und Mike richtig gut klappen könnte. Doch dann kam ihm ein anderer Gedanke in den Sinn. Es war doch erstaunlich, dass er, der noch nie viele Freunde gehabt hatte, schon am ersten Tag hier auf Argenta herausgefunden hatte, wer seine neuen Feinde sein würden.

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