Читать книгу Argenta - Thomas Kühlkamp - Страница 12

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Kapitel 5

Das Wochenende kam und Peter genoss es in vollen Zügen, mit seiner neuen Familie die Insel zu erkunden. Sie besuchten mit einem der Gemeinschaftsautos die beiden anderen Dörfer Midea und Pagai. Auch dort bot sich Peter ein ähnliches Bild wie in Eleon und Peters Respekt vor dem, was die Menschen hier in den Jahren mit Hilfe der Verwaltung geschaffen hatten, wuchs mit jeder neuen Erfahrung. Sie machten auch kleine Wanderungen in die wunderschönen umliegenden Berge und Wälder, wobei sie die verbotenen Zonen wie selbstverständlich ausließen.

Am Sonntagnachmittag gingen sie zu dritt zum ersten Mal gemeinsam ins Café Bolt. Elisabeth und Mike schienen ein wenig nervös zu sein und nach wenigen Minuten hatte Peter auch verstanden warum. Sie waren die unumwundene Attraktion an diesem Tage. Zuerst nahm er nur die mühsam verborgenen Blicke, das zurückhaltende Getuschel und die immer größer werdende Anspannung um ihn herum wahr. Dann stand plötzlich ein Mann auf und kam zu ihnen an den Tisch. Die Gespräche im gesamten Café verstummten und man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Der Mann war klein und ein wenig untersetzt. Er nickte Mike kurz zu und wandte sich dann direkt an Peter. Er sprach ein wenig laut und Peter hatte das Gefühl, dass das ganze Café seine Worte hören konnte und wahrscheinlich auch sollte.

»Mein Name ist Bukowski. Ich bin der Ortsvorsteher hier in Eleon. Ich möchte dich hier ganz herzlich begrüßen, Peter. Ich hoffe, du wirst dich hier sehr wohl fühlen. Wenn du möchtest, kannst du uns gerne mal besuchen kommen. Mein Sohn Jonathan ist in deinem Alter und wird bestimmt mit dir in die gleiche Klasse gehen. Ich glaube sogar, dass ihr euch schon kurz gesehen habt.«

Als Peter den Namen Jonathan hörte, hätte er beinahe den Kakao ausgespuckt, den er gerade getrunken hatte. Doch ihm war klar, dass er sich jetzt zusammen nehmen musste. Also antwortete er freundlich.

»Ich danke Ihnen sehr für die nette Begrüßung und freue mich schon, Ihren Sohn und Sie alle hier näher und besser kennen zu lernen.«

Elisabeth hatte gestrahlt und die Spannung im Café hatte sich schlagartig gelöst. Jetzt kamen der Reihe nach viele Menschen, stellten sich kurz vor und begrüßten ihn. Es war wie ein Aufnahmeritual gewesen, das hier vollzogen worden war. Und Peter schien es, als ob er die Situation im Großen und Ganzen gut gemeistert hätte. Das Wochenende war jedenfalls sehr harmonisch zu Ende gegangen und als Peter abends im Bett lag, war er mit sich und der Welt zufrieden gewesen.

Jetzt saß er im Büro des Schulleiters seiner neuen Schule und wartete. Elisabeth hatte ihn bis in das Sekretariat gebracht, wo eine ältliche und energische Frau ihn in Empfang nahm. Sie trug ein wallendes helles Kleid, das ihre etwas unförmige Figur nicht ganz verheimlichen konnte. An Hals und Finger hingen eine Menge großer Ketten und Ringe und über dem stark geschminkten Gesicht thronte eine perfekt frisierte dunkelbraune Haarpracht, die Peter nach einem kurzen prüfenden Blick unschwer als Perücke erkannte.

»Ich bin Frau Sauer«, sprach sie nun zu Peter, nahm ihn kräftig bei den Schultern und schubste ihn fast in das Büro des Schulleiters.

»Herr Hagenstein, der Schulleiter, kommt gleich zu dir.«

Mit diesen Worten machte sie die Tür heftig zu und ließ Peter allein.

Frau Sauer und Herr Hagenstein! Na, das konnte ja heiter werden. Peter stellte sich kurz Herrn Hagenstein als einen kleinen Mann mit roter Gesichtsfarbe und schütterem Haar vor. Als dann jedoch wenige Sekunden später der Schulleiter den Raum betrat, übertraf dieser seine schlimmsten Befürchtungen. Hagenstein war ein glatzköpfiger Riese, der hektisch in das Büro hineinplatzte und Peter bei der Begrüßung fast die Hand zerquetschte. Mit einer übertriebenen Geste nahm er einen Kalender in die Hand, der auf seinem Schreibtisch stand. Ausgiebig überprüfte er die dort offenbar notierten Termine und schaute Peter dann eine Weile scharf an.

»Peter Jakobson, wird auch Zeit, dass du dich hier endlich blicken lässt. Schließlich bist du ja schon seit Mittwoch hier!« Seine Stimme war so laut, dass sich Peter am liebsten die Ohren zu gehalten hätte. Anscheinend wollte Hagenstein gewährleisten, dass ihn seine Schüler auch sicher verstanden. Zudem schien er keine Zeit mit Höflichkeitsfloskeln zu vertrödeln, sondern kam offensichtlich gerne sofort zur Sache.

»Ich habe schon gehört, dass du dir den ersten Ärger bereits eingehandelt hast, weil du einfach in den Wald gegangen bist.« Peter war vollkommen überrascht. Er hatte auf eine freundliche Begrüßung gehofft. Dass der Schulleiter es für notwendig erachtete, ihm stattdessen seine erste Verfehlung direkt vor Augen zu halten, beunruhigte ihn ein bisschen.

»Es tut mir Leid«, sagte er vorsichtig, »ich habe die Gefahren, die von diesen Wald ausgehen sollen, wohl unterschätzt.«

»Es geht nicht um den Wald, Peter, sondern um die Menschen, die in diesem Wald wohnen, die Leute von der Lichtung

»Um wen?«, fragte Peter verirrt.

»Um die von der Lichtung; so nennen wir die Waldmenschen meistens, die in den Bergen jenseits der Dörfer leben – und«, hier machte Hagenstein eine kurze Pause, »die nicht zu uns gehören!«

»Und diese Menschen sind gefährlich?«, hakte Peter nach.

»Ja, das sind sie und es wichtig, dass du das nie vergisst.« Hagenstein schaute Peter fest in die Augen, »Es gibt jedoch darüber hinaus noch etwas, worüber du dir im Klaren sein musst.« Hagenstein richtete sich nun in seinem Stuhl auf und schaute von oben auf Peter herab. »Ich weiß nicht, wie viel man dir von unserer Gemeinschaft hier auf Argenta erzählt hat. Wir bemühen uns hier, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der jeder glücklich und zufrieden leben kann. Damit das gelingt, haben wir für uns einige wenige, aber wichtige Grundsätze festgelegt. Schau bitte auf die Bilderrahmen hinter mir«, sagte er mit einer weit ausladenden Geste, »diese Regeln dort legen fest, wie wir hier zusammenleben wollen. Die wichtigsten von ihnen stehen ganz weit vorne. Hier siehst du unsere ersten beiden Gesetze: Die Menschen in Argenta halten sich an die festgesetzten Regeln und Die Menschen in Argenta verzichten auf die Ausübung körperlicher Gewalt. Ich sage dir jetzt etwas sehr Wichtiges, Peter. Argenta kann nur dann funktionieren, wenn sich alle an diese Regeln halten. Dementsprechend sind auch alle die für uns gefährlich, die das nicht machen. Das verstehst du doch sicherlich?« Peter dachte einen Augenblick nach und versuchte, seine Antwort vorsichtig zu formulieren.

»Auch wenn ich Ihre Regeln noch nicht so gut kenne, will ich sie natürlich gerne befolgen. Aber es kann doch nicht schaden, dass man sich über die eine oder andere Sache mal Gedanken macht und sie hinterfragt. Es könnte ja sein, dass eine Regel nach einiger Zeit nicht mehr für alle Menschen passt?«

»Vielleicht hält man das in der Welt, in der du bisher gelebt hast, für sinnvoll, Peter. Wir denken hier ein wenig anders.« Hagenstein verschränkte die Arme vor der Brust und Peter war sich klar, dass er schon zu weit gegangen war.

»Wir hier auf Argenta leben für uns in einer kleinen eigenen Welt. Zuwachs zu unserer Gemeinschaft bekommen wir nur durch die Geburt unserer Kinder. Du bist bisher der erste Mensch, der von außerhalb zu uns gekommen ist. Ich muss gestehen, dass mich das ein wenig nervös macht. Doch ich hoffe inständig, dass auch du die Dinge sehr bald mit unseren Augen sehen wirst.«

»Da bin ich sogar ganz sicher. Zumindest gefällt es mir jetzt schon sehr gut hier«, beeilte sich Peter schnell zu sagen und das schien den Schulleiter ein wenig zu beruhigen. Zumindest blickte er nun ein wenig wohlwollender auf Peter.

»Wir haben hier in der Schule ein wichtiges Unterrichtsfach: Regelkunde. Ich habe mir sagen lassen, dass du ein intelligentes Kind bist. Ich kann dir nur raten insbesondere diesen Stoff sehr ernst zu nehmen und dich darin zu üben, den hinter den Regeln liegenden Sinn tief zu erkunden. Nur dann wirst du verstehen, wie wir hier zusammen leben.«

Peter nickte automatisch, auch wenn ihm ein bisschen schwindelig war. Ihm schauderte vor der Vorstellung, mit Jonathan und Hagenstein über die Sinnhaftigkeit zu diskutieren, einen Klassenkameraden bei seinen Eltern und Lehrern verpetzen zu müssen. Aber darüber würde er bestimmt später noch genug nachdenken können.

Der erste Gang in eine Klasse, in der sich alle anderen Mitschüler schon lange kennen, gehört zu den besonders unangenehmen Dingen, die man als Kind zuweilen durchmachen muss. Das jedenfalls war Peters Meinung. Und da er diese Erfahrung schon mehrfach in seinem Leben hatte machen müssen, wusste er wovon er sprach. Auch hier auf Argenta war es nicht viel anders. Als Peter von Hagenstein in die Klasse geführt und mit kurzen bellenden Worten vorgestellt wurde, spürte er, wie alle Augen auf ihn gerichtet waren. Da er selbst nicht wusste, wo er hinschauen sollte, blickte er auf die Lehrerin, die ihm als Elena Fernandez vorgestellt wurde.

Fernandez schien noch jung zu sein und blickte ebenso wie die anderen mit ihren großen grünen Augen und einem aufmerksamen Gesichtsausdruck auf Peter. Sie war zwar nicht besonders groß, hatte jedoch eine sportliche Figur. Die dunklen Haare trug sie kurz und Peter fiel unwillkürlich auf, dass sie die erste Frau war, die er hier auf Argenta mit einem solchen Haarschnitt gesehen hatte. Mit schnellen Schritten kam Fernandez auf Peter zu und begleitete ihn mit einem freundlichen Lächeln und ohne viele Worte auf einen freien Platz neben einem Mädchen. Es war klar, dass Peter die Attraktion des Tages war. Er spürte die Blicke und Neugierde seiner Mitschüler und wartete mit Schrecken auf die unvermeidliche Pause. Fernandez indessen schien sich nicht von der Anwesenheit eines neuen Schülers stören lassen zu wollen. Sie war beschäftigt, eine offensichtlich schwierige Aufgabe zu erklären und zog die Aufmerksamkeit der Schüler schnell wieder auf sich. Peter freute sich und war dankbar, dass er nicht die übliche Vorstellungsrunde über sich ergehen lassen musste und Fernandez mit ihrem Unterricht fortgefahren war. Es schien so, als hätte er hier mit seiner neuen Lehrerin einmal richtig Glück gehabt. Ohne große Umstände packte er seine Sachen aus, hörte zu und versuchte dem Unterricht zu folgen.

In der Pause stand Peter umringt von vielen Mitschülern auf dem Pausenhof. Er konnte nicht umhin anzuerkennen, dass sich alle sehr rührend um ihn kümmerten. Die Jungen und Mädchen seiner Klasse kamen zu ihm und stellten sich vor. Sie fragten, wie es ihm in den ersten Tagen ergangen war und ob es ihm hier gefiele. Es waren keine tiefsinnigen Gespräche, aber bei Weitem besser, als alleine auf einem neuen und fremden Schulhof herumzustehen.

Jonathan, Henry und David ließen ihn in Ruhe und das war Peter nur recht so. Sie hatten nur einmal aus der Ferne zu ihm herübergeschaut und sich dann lachend weiter unterhalten.

Seine Sitznachbarin hieß Jana und Peter verstand sich gut mit ihr. Sie schien Peter gegenüber keine Berührungsängste zu haben und erwies sich als absoluter Glücksfall. Sie zeigte ihm die Schule und nahm ihn mit in die Mensa, so dass er beim Mittagessen nicht alleine am Tisch saß. Sie war die Einzige, die nichts von ihm über die Welt außerhalb von Argenta wissen wollte und hatte offensichtlich großes Verständnis für seine mehr als zurückhaltenden Antworten. Wie Fernandez hatte sie kurze braune Haare und wirkte dadurch ein wenig jungenhaft. Wenn sie lachte, strahlten ihre Augen und wenn sie sich über etwas ärgerte, war das unschwer an ihrer gekräuselten Stirn erkennbar. Peter war gerne mit ihr zusammen.

In den nächsten Tagen lebte sich Peter gut ein. Der Unterricht war anspruchsvoll aber Peter konnte ihm gut folgen. In den Stunden war es sehr ruhig. Die Schüler arbeiten konzentriert und zielstrebig. Es musste eine Freude für jeden Lehrer sein, hier zu unterrichten.

Das Fach Regelkunde erwies sich als so schrecklich, wie Peter es befürchtet hatte. Passend zum Fach wurde es von einem Lehrer unterrichtet, den Peter vom ersten Augenblick an nicht leiden konnte. Herr Zirkone ließ jede Stunde eine Regel auswendig lernen und schwadronierte dann unendlich lang über deren Sinnhaftigkeit und philosophischer Schönheit. Peter hingegen bemühte sich sehr, seine Meinung zu einigen in Zirkones Augen besonders gelungenen Regeln für sich zu behalten. Es sprach aus seiner Sicht sehr für Jana, dass sie in regelmäßigen Abständen die Augen rollte, während der Rest der Klasse die Stunden besonders zu genießen schien. Ansonsten lief es wirklich gut für Peter. Bei einem Aufsatz, den er schon in der ersten Woche im Fach Biologie über die Zusammensetzung der Laub- und Nadelwälder Argentas schreiben musste, gab er sich besondere Mühe. Fernandez hatte ihn lobend erwähnt und Elisabeth und Mike waren sehr stolz auf ihn gewesen.

Am Ende seiner dritten Woche auf Argenta kamen dann zu seiner Überraschung plötzlich Jonathan, Henry und David in der Pause auf ihn zu und sprachen ihn an.

»Pass auf, Peter, wir hatten vielleicht einen ziemlich blöden Start, aber irgendwie sollten wir hier doch alle zusammen halten, oder was meinst du?« Jonathan stand direkt vor Peter und schaute ihm offen in die Augen.

»Ehrlich gesagt, wäre mir das sehr recht«, antwortete Peter vorsichtig. Er war sich nicht ganz sicher, was die drei wirklich von ihm wollten. Aber der unselige Streit mit ihnen an seinem ersten Tag auf Argenta war nie richtig geklärt worden und vielleicht ergab sich jetzt eine Chance. Und diese wollte Peter auf keinen Fall verpatzen.

»Komm doch mit, wir zeigen dir, womit wir uns immer in der Pause unsere Zeit vertreiben.« Jonathan wartete erst gar nicht ab, ob Peter ihm folgen würde und ging zusammen mit Henry und David hinter das Schulgebäude. Eine Reihe von Mitschülern aus seiner Klasse hatte die Situation mitbekommen und wartete nun gespannt, was Peter machen würde. Also ging Peter ihnen hinterher. Die Schule hatte an dieser Seite keine Fenster und war ungefähr zehn Meter breit und bestimmt genauso hoch. Vor der Wand befand sich auf der gesamten Länge ein drei Meter breiter Streifen mit Rindenmulch, wie er auch auf Spielplätzen unter den Klettergeräten häufig zu finden war. Über die ganze Wand verstreut waren Kunststoffgriffe in verschiedenen Farben und Größen angeschraubt. An einigen dieser Griffe schien man sich sehr gut festhalten zu können, andere waren so klein, dass Peter sich nicht vorstellen konnte, von welchem Nutzen sie sein sollten. In einer Höhe von ungefähr drei Metern war ein dicker roter Strich quer über die gesamte Breite der Wand gezeichnet.

»Das ist unsere Kletterwand«, rief Jonathan und zog mit einer fließenden Bewegung sein Hemd über den Kopf. Unter einem dünnen T-Shirt war sein muskulöser Oberkörper nun deutlich zu erkennen. Gewand streckte er sich und zog sich dann mit Hilfe einiger Griffe geschmeidig nach oben. Eng an die Wand gedrückt bewegte er sich mit großer Geschwindigkeit quer über die Wand. Dabei versetzte er immer nur einen Arm oder ein Bein und ließ dann den Rest seines Körpers folgen. Peter sah fasziniert zu. Ihm schien es, als ob sich Jonathan mühelos an der senkrechten Wand halten könnte und sein Körper überhaupt kein Gewicht haben würde. Als Jonathan sich an einigen größeren Griffen gut festhalten konnte, blickte er hinunter zu Peter.

»Versuch es auch einmal!«

Peter war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war, zumal hinter ihm seine gesamte neue Klasse stand und zuschaute. Doch kneifen wollte er auch nicht. Also kletterte er los. Er suchte sich besonders große Griffe aus und bewegte sich sehr langsam und vorsichtig. Er konnte sich gut vorstellen, dass er ein ganz anderes Bild abgab als Jonathan, aber das war ihm ziemlich egal. Schon nach wenigen Minuten spürte er eine Lust und Energie durch seinen Körper strömen, dass ihm fast schwindelig wurde.

»Du musst deinen Hintern ganz nah an die Wand drücken. Dann geht es noch besser!«, rief Jonathan ihm zu.

Peter konnte aus den Augenwickeln sehen, wie Jonathan seinen Bemühungen aufmerksam zuschaute und anerkennend die Augenbrauen hochzog. Peter versuchte, dem Hinweis zu folgen und merkte sofort, dass er so wesentlich weniger Kraft benötigte.

»Danke«, rief er Jonathan zu und kletterte in seine Richtung.

Als er ihn erreicht hatte, machte Jonathan ihm ein wenig Platz.

»Nicht schlecht für's erste Mal«, zollte er Peter Respekt, »Lass uns noch ein wenig höher steigen. Klettere mir einfach nach.« Mit diesen Worten griff er nach oben und zog sich mit großer Leichtigkeit an zwei Griffen nach oben. In wenigen Sekunden war Jonathan drei weitere Meter in die Höhe geklettert und hatte dabei die rote Linie längst hinter sich gelassen. Peter schaute sich genau an, welche Griffe und Tritte Jonathan benutzt hatte und begann langsam den Aufstieg. Zuerst ging es ziemlich gut. Je höher Peter jedoch kam, desto weniger Halt fand er für seine Hände und Füße und als er gar nicht mehr weiter wusste, blieb er kurz stehen. Plötzlich merkte er, wie seine Finger und Arme taub wurden und ihn das Gewicht seines Körpers unbarmherzig nach unten zog. Schlagartig wurde ihm klar, dass er sich nicht mehr lange würde halten können. Zum ersten Mal seit längerer Zeit schaute er nach unten. Mit blankem Entsetzen stellte er fest, dass er viel zu hoch war, um sich einfach fallen zu lassen. Auch wenn der Rindenmulch weich war und seinen Aufprall mildern würde, konnte das Böse ausgehen. Peter versuchte die in ihm aufsteigende Panik zu unterdrücken und schaute in der Hoffnung nach oben, dass Jonathan ihm helfen könnte. Doch der saß mittlerweile völlig entspannt auf dem Flachdach der Schule und schaute ohne jegliches Mitleid nach unten. Lässig hielt er ein Seil mit einer Halteschlaufe in der Hand und ließ es in seiner Hand baumeln. Während er es aufreizend langsam hinabgleiten ließ, zischte er so leise, dass nur Peter es hören konnte:

»Ich habe das sichere Gefühl, dass du nicht hierher gehörst. Glaub ja nicht, dass du dich hier ins gemachte Nest setzen kannst. Du hast hier nichts zu suchen. Lass dir dies also eine Lehre sein und komm mir in Zukunft nicht in die Quere. Sonst könnte das Ganze für dich wirklich unangenehm ausgehen.«

Peter wollte seinen Ohren nicht trauen. Da hatte dieser Idiot ihn nur aus dem Grund in eine Wand sechs Meter über den Boden gelockt, um ihm eine Lektion für ungebetene Neuankömmlinge zu erteilen. Wie hatte Peter nur so unvorsichtig sein können. Die Wut darüber brachte endlich wieder Klarheit in seine Gedanken. Von unten blickten fünfzehn schreckgeweitete Augenpaare zu ihm hoch. Von oben sah er nur Jonathans hämisches Grinsen und das mittlerweile direkt vor seiner Nase hängende rettende Seil.

»Weißt du Jonathan«, sagt er angestrengt, »mein ganzes Leben lang habe mich schon gefragt, warum es so bescheuerte Typen wie dich geben muss. Bisher habe ich noch keine Antwort, aber eins kann ich dir versichern. – Du kannst mich mal!«

Dann nahm Peter kurz Maß und sprang. Im Bruchteil einer Sekunde nahm er das Schreien seiner Mitschüler und den entsetzten Gesichtsausdruck Jonathans wahr und er wusste, dass es ihn für das entschädigen würde, was unweigerlich auf ihn zukam. Dann schlug er auf.

Argenta

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